Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 10

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Kairo, Juli 1983

In der Juli-Hitze klebte Johannas weite, beigefarbene Bluse, deren lange Ärmel die mit Sommersprossen übersäte Haut bedeckten, schweißnass an ihrem mageren, hochgewachsenen Körper. Unter ihrer muskulösen Arm- und Schulterpartie zeichneten sich die Wölbungen zweier kleiner Brüste, denen eines pubertierenden Mädchens gleich, durch den hellen Stoff ab. Um nicht gegen die moralischen Sitten Ägyptens zu verstoßen, trug Johanna darüber eine ärmellose, tarnfarbene Jacke mit vielen Taschen, wie sie Fischer tragen, um ihre zahlreichen Haken, Köder und sonstigen Utensilien zu verstauen – sie bewahrte darin ihre Filter und Filme auf. Unter einer Baseballkappe verbarg sie ihr langes, feuerrotes Haar. Würde ein Mann ihren Körper beschreiben, ginge er wohl nur mit ein paar nichtssagenden Worten auf ihre knabenhaft-androgyne Vorderseite ein. Dafür würde er ihre Rückenpartie und ihre langen eleganten Beine vielleicht verführerisch und das breite Becken einladend nennen oder gleich ganz neue Worte für seinen Eindruck erfinden und bei einem Blick auf ihren Po mit einem vielsagenden Lächeln etwas wie ›Femme fatale‹ assoziieren. Johanna selbst hatte ihren Körper einmal eher selbstironisch als ›lange Bohnenstange mit fürchterregenden roten Haaren und zwei abschwellenden Bienenstichen an der Vorderseite‹ beschrieben.

In den engen Gassen von Alt-Kairo stand sie im Schatten eines Hauses mit der Sonne im Rücken und beobachtete einige Kinder, die gelangweilt vor einem Sandhaufen standen oder auf ihm saßen. Von weitem sah sie eine junge Frau auf sich zukommen, die sie zuvor schon eine Zeit lang im koptischen Museum beobachtet hatte. Als Johanna sie hatte ansprechen wollen, war sie in einer Touristengruppe untergetaucht und verschwunden.

Wie auf Kommando begannen die Kinder zu streiten, als sie die Touristin die Gasse entlanggehen sahen. Ein kleiner Junge mit einer unterhalb des linken Knies eingerissenen Hose rannte zu einer offen stehenden Tür und kam mit einem Mann mittleren Alters zurück, der einen Besen bei sich hatte.

Der Streit der Kinder schien genau in dem Moment zu eskalieren, als die junge Frau auf einer Höhe mit ihnen war: sie begannen sich gegenseitig mit Sand zu bewerfen. Einer der älteren Jungen traf mit einem gezielten Wurf, wie aus Versehen, das gelbe Top der Passantin. Nun kam der Mann mit dem Besen dazu, beschimpfte die Kinder und jagte sie davon. Entrüstet entschuldigte er sich in gebrochenem Englisch bei der Touristin und versuchte umständlich, mit einem Taschentuch das Kleidungsstück zu reinigen. Sie versicherte, dass ihr nichts passiert und alles in Ordnung sei.

Als habe sie auf ihren Einsatz gewartet, eilte jetzt auch Johanna auf die Bühne des Geschehens. Bevor sie mit einem gewinnenden Lächeln vor der geschädigten, ebenfalls rothaarigen, aber um eine Kopflänge kleineren Frau stand, rempelte sie den hilfsbereiten Ägypter an, der sich gerade mit großen Gesten verabschiedete.

»Hallo, kann es sein, dass Sie etwas vermissen?«, fragte Johanna ganz unschuldig mit süßer Engelsstimme, in amerikanisch klingendem Englisch mit starkem Oberpfälzer Akzent.

»Was? Wie bitte?«, entgegnete die Angesprochene in leicht nördlich gefärbtem Oxfordenglisch.

Johanna zog unter ihrem weiten Ärmel ein kleines schwarzes Portemonnaie hervor und reichte es der Eigentümerin. Überrascht über den Zaubertrick bedankte sich diese, steckte ihren Geldbeutel ein und verabschiedete sich, ohne zu verstehen, wie Johanna zu ihren Wertsachen gekommen war.

»Darf ich Sie zu einem Tee einladen?«, fragte Johanna keck, bevor die Fremde wieder im Getümmel der Metropole verschwinden konnte.

»Wenn Sie denken, nur weil Sie mein Bargeld einfach so aus Ihrem Ärmel schütteln können, hätten Sie leichtes Spiel mit mir, dann haben Sie sich getäuscht!«, versetzte die Engländerin. »Ich stehe auf Frauen.« Sie wandte sich mit einem Schwung ab.

Johanna, deren Sommersprossen bei diesen Worten zu tanzen schienen, rief ihr nach: »Klasse, aus uns wird bestimmt ein schönes Liebespaar!«

Dabei zog sie sich die Kappe vom Kopf. Lange fuchsrote Haare glitten darunter hervor und schmiegten sich an ihren achtzehnjährigen Körper. Demonstrativ klappte sie die Seiten ihrer Jacke auseinander und zeigte die unter der Bluse erkennbare Kontur ihrer Brüste.

Überrascht von diesem Anblick fing die Fremde an zu lachen. Sie kam wieder einen Schritt auf Johanna zu und machte einen spielerischen Knicks. »Gestattet mir, mich Euch vorzustellen: ich werde Betty genannt – wie lautet Euer ehrenwerter Name?«

Johanna lächelte verschmitzt, griff nach Bettys Hand, küsste sanft den Handrücken und scherzte: »Johanna, my Lady, sehr erfreut.«

Als die beiden zusammen die Gasse hinuntergingen, fragte Betty plötzlich: »Wie bist du übrigens gerade an meine Geldbörse gekommen? Du standest doch mindestens drei Meter von mir entfernt.«

Verwundert sah Johanna sie an. »Du hast keine Ahnung, was vorhin passiert ist, stimmt’s?«

Betty schüttelte verneinend den Kopf.

Johanna erzählte die lange Fassung der Geschichte, sie fing bei Eva an. Ihre Tante Eva, die mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im amerikanischen Bundesstaat Washington lebte, hatte Johanna, als diese noch ein Kind war, bei einem Besuch in ihrer alten Heimat Naabwenden einige Zaubertricks beigebracht. Eva hatte ihr unter anderem gezeigt, wie man einen Menschen so ablenken konnte, dass er nicht merkte, was das eigentliche Ziel des ›Zauberers‹ war. Um ihre Fingerfertigkeit zu schulen, hatte sie die siebenjährige Johanna angeregt, die Gäste in der Gaststätte ihrer anderen Tante mit solchen Tricks zu unterhalten: Zum Vergnügen der Anwesenden zog das kleine Mädchen einigen ausgewählten ›Opfern‹ Gegenstände aus der Tasche, die es zuvor unbemerkt dort deponiert hatte. Dieses Talent konnte Johanna auch heute noch nutzen, um unvorsichtigen Menschen, die von Kindern mit Sand beworfen und anschließend von hilfsbereiten Männern bestohlen wurden, ihre Wertsachen zurück zu klauen.

Den Nachmittag über schlenderten Betty und Johanna den Nil hinunter, an der Insel Roda vorbei in Richtung Nationalmuseum. Sie plauderten so angeregt, dass ein Fremder, der sie zum ersten Mal sah, angenommen hätte, die beiden würden sich schon seit vielen Jahren kennen. Anfangs lachten sie über Anekdoten, die sie sich gegenseitig aus ihrem Leben erzählten, später gestand Betty, dass sie Johanna bereits im koptischen Museum bemerkt, sie aber für einen männlichen amerikanischen Teenager gehalten hatte, der ihr schöne Augen machte. Im Schutz einer französischen Reisegruppe war sie untergetaucht, um unbemerkt in der Damentoilette Zuflucht zu suchen; dort hatte sie eine halbe Stunde gewartet, bis sie sich sicher war, ihren Verfolger abgeschüttelt zu haben. Aber wie sich herausgestellt hatte, war dieses Ausweichmanöver vergeblich gewesen, denn ›er‹ hatte unvermutet in jener Gasse in der Altstadt wieder vor ihr gestanden, noch dazu mit ihrem Portemonnaie in der Hand.

Später saßen beide in einer wenig eingesehenen Nische der Bar ›Windows on the World‹ im dreißigsten Stockwerk des Nil-Hilton-Hotels vor frisch gepressten Fruchtsäften. Durch das Fenster in Richtung Westen sahen sie die Sonne langsam im Dunst der Stadt untergehen, während die ersten Nachtlichter sich anschickten, Kairo zu beleuchten. Mit jedem Licht, das unten am Nil aufflammte, schwiegen sie mehr und mehr. Blicke lösten Worte ab. Betty strich sanft mit dem Zeigefinger über Johannas sommersprossenbedeckten Handrücken, ließ ihren Finger weiterwandern und streichelte die Handinnenfläche, bis ihre Berührungen erwidert wurden.

Etwas später führte Betty Johanna einige Stockwerke tiefer in ihr Zimmer, wo sie sich liebten. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Johanna beim Austauschen von Zärtlichkeiten nicht das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun und Schuld auf sich zu laden. Unter den Berührungen der fünfzehn Jahre älteren Frau neben ihr fühlte sich jeder Kuss, jede Liebkosung, jeder Atemzug natürlich und erhaben an. Kein Schuldgefühl konnte seinen Schatten in ihre Seele einbrennen. Nie wieder würde ihr irgendein anderer Mensch ein schlechtes Gewissen einreden können. In heißer, paradiesischer Sommerluft flatterte ihr Herz wie Haare im Frühlingssturm, ungezwungen und frei. Jede empfangene Zärtlichkeit konnte sie annehmen und zurückgeben.

In den nächsten Tagen reisten die beiden Frauen miteinander durch Ägypten, liebten sich und kamen sich näher. Johanna gestaltete Fotos, die sie niemandem zeigen konnte. Ihre Kreativität kannte keine Grenzen.

Am fünften Tag, nachdem sie sich kennengelernt hatten, bereisten sie die Sinai-Halbinsel. Dort wurde Betty immer stiller. Schweigend stiegen sie zum Gipfel des Dschebel Musa, des Moses-Berges hinauf. Johanna lauschte der schweigenden, ruhelosen Geliebten. Deren Atemzüge wurden mit zunehmender äußerlicher Ruhe schwerer, jede ihrer Gesten zog Johanna tiefer in ihren Bann. Wortlos sahen sie zu, wie sich die Brauntöne des Gebirgszuges unter ihnen dunkler färbten und der Horizont von hellrotem Sonnenlicht über Dunkelrot in tiefblaue Nacht überging.

Johanna packte ihren Schlafsack aus, den sie wie eine Decke öffnen konnte, und legte ihn sich über die Schultern, um sich vor der mit der Nacht hereinbrechenden Gebirgskälte zu schützen. Sie trat von hinten an Betty heran, die nur mit einer leichten Bluse bekleidet war, und schlang ihre warmen Arme mit der Decke um deren zitternden Oberkörper. Betty blickte stumm auf den im Osten aufgehenden Mond und ließ sich in Johannas Arme sinken. Dann begann sie auf einmal zu sprechen, und ihre Stimme klang dünn und einsam in der Weite der Gebirgsnacht.

»Viele Menschen bewundern die silberglänzende Luna, die sich mal jugendlich schlank, mal rundbäuchig schwanger um uns dreht. Nur wenige wissen, dass sie uns nur eine Seite ihres Ichs zeigt. Die dunkle Seite blieb für die Menschen verborgen – bis Luna 3, die russische Raumsonde, uns ihre tiefen Narben von vielen Meteoriteneinschlägen zeigte. Aber niemand weiß, wie kalt und einsam sie sich fühlt.«

Johanna ahnte, dass Betty nicht mehr vom Mond sprach, sondern im Begriff war, ihre eigene dunkle, narbige Seite preiszugeben. Sie streichelte ihrer Freundin zärtlich die wie leblos herabhängenden Arme. Nach kurzer Zeit fühlte sie Tränen auf ihre Hand tropfen. Es entstand ein Ruhe aufbauendes Schweigen, das die beiden Frauen vereinte. Wenige Meter entfernt stritten zwei Ratten um eine halbvolle Dose Wurstaufstrich, die Reisende auf dem Gipfel des Mosesberges gedankenlos weggeworfen hatten.

Eine Weile standen sie so. Dann nahm Betty den Faden wieder auf und erzählte mit mal trauriger, mal monotoner Stimme ihre Geschichte. Sie stellte Johanna in wenigen, auf das Wesentliche konzentrierten Linien ihre abwesende Familie vor. Danach schilderte sie zuerst ein scheinbar heiteres Erlebnis, und dennoch schwang trotz aller Freude immer eine leise Spur von Melancholie mit.

Wohlbehütet war Betty in den fünfziger und sechziger Jahren in einem liberalen, protestantischen Elternhaus aufgewachsen. Ihre Familie hatte seit vielen Generationen in Seascale im Nordwesten Englands gelebt. Ihre Eltern, beide Lehrer, waren die Ersten in ihrer Familie, die nicht mehr direkt oder indirekt von den Früchten der Irischen See abhängig waren. Drei ihrer Urgroßväter waren Fischer gewesen, zwei von ihnen hatten ihren eigenen Kutter besessen. Charlie Giles, Bettys Urgroßvater aus der mütterlichen Linie, hatte sogar eine Fischkonservenfabrik gegründet. Nach der Überlieferung von Grace Tucker, der ältesten ihrer drei noch lebenden Urgroßmütter, war keiner ihrer männlichen Vorfahren älter als dreiundfünfzig Jahre geworden. Einige nahm die See zu sich, andere verunglückten an Land, wieder andere starben früh eines natürlichen Todes oder am Alkohol. Dagegen lebten alle Frauen der Familie sehr lang; auch hatten Bettys weibliche Vorfahren jede ihrer manchmal zahlreichen Schwangerschaften überlebt. Grace pflegte ihren zwei Töchtern und den Enkelinnen und Urenkelinnen zu sagen, dass die Frauen, die an der Irischen See und von ihr lebten, so wild und zäh seien, dass sie jedem Sturm trotzten.

Trotz aller Toleranz, die Ende der sechziger Jahre in der Gesellschaft wuchs und auch in ihrer Familie herrschte, konnte Betty sich zu jener Zeit noch nicht überwinden, ihre Sexualität offen zu leben. Über sanfte Berührungen und ab und zu einen verstohlenen Kuss ging die Beziehung mit ihrer besten Freundin Catherine nicht hinaus. Aber eines Nachmittags, als die beiden Freundinnen wieder einmal bei Catherine allein zu Hause waren, kamen sie sich bei Schmusemusik näher. Betty, die bis dahin nichts Unnatürliches darin gesehen hatte, ihrer Freundin körperlich näherzukommen, machte den ersten Schritt. Für sie war Frauenliebe an sich nichts Fremdes, denn Susan, eine Schwester ihres verstorbenen Vaters, lebte seit Jahren mit ihrer Geliebten in London zusammen. Bei jedem Besuch in Seascale wurden Susan und ihre Lebensgefährtin von den meisten Frauen der Familie herzlich und voller Wärme empfangen. Nur die Männer rissen derbe Witze, um ihr Unwohlsein gegenüber den Besucherinnen zu überspielen.

Nachdem Betty und Catherine einander eine Weile zärtlich gestreichelt hatten, glitt Bettys Hand unter den Slip ihrer Freundin. In diesem Moment stürmte Catherines vierjährige Schwester Jacky ins Zimmer. Da die Kleine in ihrer Unschuld am Tun der älteren Mädchen nichts Ungewöhnliches sah, blieb der Zwischenfall ohne Konsequenzen. Aber in Betty baute sich durch dieses unerwartete Ertapptwerden eine unbewusste Hürde auf. Von da an kämpften immer zwei Seelen in ihr, wenn sie eine Frau, die ihr gefiel, genauer betrachtete. Eine sagte, ›Es ist normal, sprich sie an und lass zu, dass du dich verliebst‹, aber die andere ließ aus ihrem Gedächtnis die auffliegende Tür von Catherines Zimmer auftauchen und Betty meinte wieder die arglose Stimme von Jacky zu hören: »Was macht ihr da? Darf ich mitspielen?«

Mit neunzehn ließ sie sich mit einem Mann ein. Von ihm wurde sie innerhalb weniger Wochen unzählige Male geliebt. Nie fühlte sie dabei eine körperliche Erregung oder Befriedigung; sie gab sich hin ohne zu wissen warum. Zu dieser Zeit betrat Bettys Mutter zum ersten Mal seit dem dreizehnten Geburtstag ihrer Tochter deren Zimmer. Schweigend setzte sie sich auf Bettys Bett und forderte ihre Tochter auf, sich neben sie zu setzen. Nach einer langen Stille legte sie ihre Hand auf die ihres Kindes und sagte leise: »Was machst du, mein Kind? Du bist doch mit Kevin nicht glücklich … du liebtest doch Catherine?«

Ein paar Wochen später zogen Betty und Catherine unter Protest von Catherines Familie zusammen. Zur selben Zeit erfuhr Betty von ihrer Schwangerschaft. Zu ihrer Überraschung arbeiteten ihre Mutter und ihre Großmütter einen Plan zu ihrer Unterstützung aus, damit sie ihr Kind aufziehen und gleichzeitig ihrem Jurastudium nachgehen konnte. Viele missbilligende Blicke und Vorurteile begleiteten Betty und Catherine bei der Erziehung ihrer »gemeinsamen« Tochter Mary, aber trotzdem gelang zunächst alles perfekt. Mary durchlief den Kindergarten und die ersten Schuljahre wie alle anderen Kinder auch.

Einer der schönsten Augenblicke in Bettys Leben war der Tag, an dem ihre Tochter von der Schule nach Hause kam und sie ›Luna‹ nannte. Verblüfft und verwirrt fragte sie nach. Mary erzählte ihr ernst und liebevoll zugleich: »Weißt du, Miss Taylor erzählte uns heute, dass in vielen anderen Sprachen der Mond Luna genannt wird und weiblich ist. Außerdem dreht sie sich um die Erde, um uns vor gefährlichen Meteoriten zu beschützen. Genau das Gleiche tust du für mich!«

Marys Fröhlichkeit steckte alle an, die mit ihr umgingen. Mit einem Lächeln konnte sie jeden Menschen um den Finger wickeln. Es gab nichts, was man ihr nicht verzeihen konnte. Mit sieben beschloss sie, die schnellste Frau auf der Insel zu werden. Jeden Tag nach der Schule lief sie auf dem Sportplatz Runde um Runde, gleich, ob es regnete oder die Sonne schien. Zwei Tage nach ihrem neunten Geburtstag brach sie bei diesem gewohnten Training ohne ersichtlichen Grund zusammen.

Vor diesem Vorfall war niemand auf die Idee gekommen, dass sie an einer ernsthaften Krankheit leiden könnte. Niemand hatte in ihrem immer öfter auftretenden Nasenbluten eine Gefahr gesehen. Ihre Gesichtsblässe war als Vorbote der beginnenden Pubertät gedeutet worden und ihre zahlreichen blauen Flecken als Folgen einer gewissen Schusseligkeit, die mit dem körperlichen Wachstumsschub einherging. Und Marys ständige Müdigkeit hatte Betty auf deren enthusiastisches Lauftraining geschoben. Auf das, was der behandelnde Arzt Dr. Burns ihr hinter seinem großen Krankenhausschreibtisch erklärte, war niemand gefasst.

»In jedem Körper findet tagtäglich ein Krieg statt. In unserem Körper werden vom Knochenmark rote Blutkörperchen, weiße Blutkörperchen und Blutplättchen produziert. Damit Sauerstoff und andere lebenswichtige Stoffe in alle Gewebe des Körpers transportiert werden können, benötigen wir die roten Blutkörperchen. Und die weißen Blutkörperchen bekämpfen Infektionen, die tagtäglich auftreten. Um Blutungen zu stoppen, braucht unser Körper die Blutplättchen. Unser Knochenmark produziert Stammzellen, die zu den verschiedenen Typen von Blutzellen heranreifen, die jeweils spezielle Aufgaben im Körper haben.«

Damit Betty seinen Ausführungen besser folgen konnte, stand er auf und nahm eine Plakattafel zu Hilfe, die den menschlichen Körper mit seinen verschiedenen Organen, Muskeln, Blutkreislauf- und Stoffwechselsystemen darstellte. Während er mit seinen Erklärungen fortfuhr, zeigte er immer wieder auf die Schautafel.

»Ein Netzwerk aus dünnen Gefäßen, ähnlich den Adern, durchzieht den ganzen Körper. Diese Verbindungen nennen wir Lymphsystem. In ihnen wird Lymphe transportiert, das ist eine farblose, wasserartige Flüssigkeit, die Lymphozyten enthält. Entlang der Lymphgefäße befinden sich die sogenannten Lymphknoten. In der Achselhöhle, im Becken, im Nacken und im Bauchbereich befinden sich viele Gruppen von Lymphknoten. Unsere Milz, die Thymusdrüse und die Mandeln sind Teil des Lymphsystems.«

Der Arzt vergrößerte die Distanz zwischen sich und der Mutter seiner Patientin, indem er sich wieder hinter seinen wuchtigen Schreibtisch setzte. Wie mit einem Paukenschlag setzte er das Gespräch fort:

»Nun, bei der Krankheit Ihrer Tochter handelt es sich um eine akute lymphatische Leukämie, die wir kurz ALL nennen. Wie bereits gesagt, in jedem Körper findet ein ständiger Krieg statt; um ihn zu gewinnen, stellen die Lymphozyten Antikörper her. Diese greifen gefährliche Bakterien und andere Krankheitserreger im Körper an. Bei der ALL werden die sich entwickelnden Lymphozyten zu zahlreich und sie reifen nicht aus. Diese unreifen Lymphozyten, die wir im Blut und im Knochenmark von Mary gefunden haben, sind unfähig, die lebensnotwendigen Antikörper zu bilden, die Mary zur Überwindung von Infektionen braucht. Um einen geeigneten Therapieplan zu erstellen, müssen wir noch weitere Untersuchungen durchführen.«

Tage später hörte Betty zufällig ein Gespräch zwischen zwei Ärzten mit. Dr. Burns hatte sie in sein Behandlungszimmer bestellt, doch sie war zu früh gekommen und nahm wartend auf einem der ledergepolsterten Stühle Platz. Durch eine Verbindungstür, die halb offenstand, hörte sie die Stimmen zweier Männer, die, offenbar mitten in einer Unterhaltung, ins Nebenzimmer eintraten.

»Verdammt«, fluchte einer der beiden. »In ein paar Minuten muss ich einer Familie erklären, dass ihre Tochter an ALL leidet. Das ist bereits der vierzehnte Fall in diesem unseligen Seascale innerhalb von einem Jahr. Einer meiner Freunde hat mir erzählt, dass der ganze Küstenabschnitt mit Ruthenium 106 verseucht ist. Die da oben sind verdammt schlau, man koppelt ein militärisches und ein ziviles Atomprogramm und niemand will diese Mörderfabrik in Windscale schließen – und wenn doch, wird einfach ein neuer Name wie ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert und nennt dasselbe alte Monster jetzt Sellafield. Alles jubelt, alle Probleme sind unter den Teppich gekehrt, und auf dem Teppich spielen unschuldige Kinder und werden krank.«

Während der erregte Wortwechsel im Nebenzimmer weiterging, kam Dr. Burns in den Raum. Bevor er sich setzte, schloss er die Seitentür. Er nahm Marys Akte aus dem Schreibtisch und klappte sie auf. Mit einem langen Atemzug sagte er: »Nun, wir haben in den verschiedenen lymphatischen Geweben Schwellungen gefunden.« Er machte eine Pause und strich sich sichtbar nachdenklich über seinen Vollbart, bevor er weiter aus dem Befund vorlas. »Sie sind in beiden Achselhöhlen, im Nacken und im Bauchbereich sichtbar aufgetreten. Außerdem haben wir festgestellt, dass Mary nicht mehr genügend Blutplättchen bilden kann, um eine normale Blutgerinnung zu ermöglichen. Leider sind auch schon entartete Lymphozyten ins Rückenmark eingedrungen.«

Nach einer weiteren kurzen Pause, in der er noch einmal tief Luft holte, sprach er verhalten weiter: »Als erstes werden wir es mit einer Chemotherapie versuchen.« Um seinem Gegenüber Mut zu machen, fügte er hinzu: »ALL ist nicht mehr unheilbar. Heute wird rund um die Uhr weiter nach geeigneten Behandlungsmethoden geforscht. Wir müssen Mary nur lange genug am Leben erhalten.«

Der Mond hatte bereits seinen Zenit überschritten, als Betty zum Ende ihrer Geschichte kam:

»In den darauffolgenden Tagen und Wochen sprach ich mit den verschiedensten Ärzten, las alles über Leukämie, was ich finden konnte. Gleichzeitig verschlang ich jeden Bericht, jeden Artikel, der über radioaktive Strahlung im Zusammenhang mit Leukämie veröffentlicht wurde. Meine Tage verbrachte ich am Bett von Mary, in den Nächten und auch sonst in jeder freien Minute las und studierte ich alle verfügbaren Untersuchungsergebnisse, alles über Therapien und ihre Wirkungen. Bald wusste ich über die unterschiedlichen Typen von Blutzellen und ihre verschiedenen krankhaften Veränderungen Bescheid, aber mit all meinem angelesenen Wissen konnte ich meinem Liebling dennoch nicht helfen. Ihre Krankheit war schneller als die Bemühungen der medizinischen Forschung, auf die Dr. Burns gehofft hatte. Nach zwei sehr aggressiven Chemotherapien versagte Marys Immunsystem, konnte zu viele und zu verschiedene Infektionen nicht mehr bewältigen. Hundertachtundsechzig Tage nach der gestellten Diagnose starb Mary – entkräftet, aber immer noch voller Liebe und Hoffnung.

In den folgenden Jahren stürzte ich mich in die Arbeit. Versuchte mit anderen durch radioaktive Strahlung Geschädigten und mit Juristen, die Betreiber von Sellafield zu einem Schuldeingeständnis zu bewegen. Das alles ließ mir keine Zeit, untätig zu sein und zum Nachdenken zu kommen. Catherine, die mich zu trösten versuchte, stieß ich von mir. Sie hat mich zu Recht verlassen, denn ich habe mich ihr gegenüber furchtbar benommen, grausam. Erst nach einem Nervenzusammenbruch Anfang des Jahres konnte ich endlich um meine Tochter trauern. Heute wäre mein kleiner Liebling dreizehn geworden.«

Der tief in Bettys Innerem vergrabene Schmerz ihres Verlustes kam in lange anhaltendem Schluchzen zum Vorschein, das ihr fast die Luft nahm. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah sie verzweifelt zum Mond hinauf, dem sie den Kosenamen ihrer Tochter verdankte. Schließlich schlief sie erschöpft in Johannas Armen ein.

Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort

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