Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 17

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Wackerland / Oberpfalz, Dienstag 7. Januar 1986 / 06.09

Nach und nach lenkte jedes Mitglied der BI Naabwenden seine Schritte in eine andere Richtung. Johanna war darüber sehr froh. Sie wanderte auf weglosem Waldboden um das Dorf, ohne die ausgesprochenen Gedanken der anderen hören zu müssen. Ihr war schlecht vor Aufregung. Schon als Kind war ihr immer übel geworden, wenn ein aufregendes oder furchteinflößendes Ereignis bevorstand. Besonders schlimm wurde es am Heiligabend. Von dem Augenblick an, wenn sie die Kinderchristmette verließ, bis zum Zeitpunkt der Bescherung kämpfte sie mit Krämpfen, Übelkeit und Brechreiz. Bis zum Alter von elf oder zwölf Jahren litt sie jedes Jahr wieder darunter, danach konnte sie ihren Magen einigermaßen kontrollieren.

Johanna spürte den Husten, der jedes Mal vor dem Erbrechen ihre Kehle heraufkroch. Sie klopfte beruhigend gegen ihren Magen und sprach sanft zu ihm: »Komm schon, es ist doch nicht so schlimm. Keine Angst, es passiert nichts. Versprochen.«

Ihr Magen war anderer Ansicht. Ein heftiger Hustenanfall jagte wie ein Sturm durch ihre Luftröhre. Johanna schob mit einem schnellen Ruck die Kameratasche auf ihren Rücken, beugte sich nach vorne und hielt sich mit der linken Hand an einem Baum fest. Sie konnte gerade noch beide Hände schützend zwischen Baum und Stirn legen, bevor sie von verzweifeltem Würgen geschüttelt wurde. Matt von der Anstrengung setzte sie sich auf einen etwas schrägen Querbalken eines Blockadezauns. Gut einen halben Meter unter ihrem Sitzplatz stand ein kürzerer Baumstamm wie eine Stufe hervor, auf der sie ihre Füße ruhen lassen konnte.

Eine junge Frau sprach die kalkgesichtige Johanna an: »Brauchst du Hilfe? Du siehst nicht gut aus.«

»Passt scho’ wieder«, winkte Johanna, immer noch kreidebleich, ab und betrachtete die Fragende, die sich neben sie setzte.

Unter einem Kufiya, dem sogenannten Palästinenser-Kopftuch, wie es auch Jassir Arafat trug, baumelte ein langer, dick geflochtener blonder Zopf. Johanna fiel ein schwarzes Funkgerät auf, das die Frau an ihrer Jacke befestigt hatte.

»Polizeifunk?«, fragte sie neugierig.

»Nein«, grinste die Angesprochene und sprudelte gleich einen ganzen Schwall von schnell gesprochenen Worten heraus. Johanna konnte an der Dichte des ausgeatmeten Nebels ablesen, dass auch sie nervös war.

»Wir haben unser eigenes Info-Netz. Überall im Wald oder darum herum sind welche von uns, die die Aktivitäten der Bullen beobachten und den anderen darüber berichten. In einem Schweinestall in Altenschwand und dort oben …« – sie zeigte auf das Baumhaus mit den Glasfenstern –, »… das sind unsere Basisstationen. Jede Station und jeder Funker hat einen Decknamen. Die in Altenschwand heißen Pluto, die im Baumhaus Orion, und ich …«, sie lachte kurz auf: »… ich bin Merkur.«

Mit einem etwas gelösteren Gesichtsausdruck sprach sie weiter: »Im Moment brauchst du dir keine Sorgen zu machen, es ist noch alles ruhig.«

Ein Knistern im Funkgerät unterbrach die Unterhaltung. Aus dem Knistern wurde ein Rascheln, durch das hindurch eine krächzende Stimme informierte: »Hier Mars. Starkes Polizeiaufgebot mit schwerem Gerät kommt aus Richtung Amberg. Wiederhole, starkes Polizeiaufgebot mit schwerem Gerät kommt aus Richtung Amberg. Mars Ende.«

Kaum war die lautstarke Warnung von Mars durch den Äther gerauscht, folgte die nächste Meldung.

»Jupiter an alle …«, rief eine aufgeregte Stimme und wiederholte: »Jupiter an alle. Ungefähr zweihundert Polizeiautos kommen aus Richtung Neunburg.«

Meldung um Meldung traf bei Merkur ein. Nach wenigen Minuten war ihnen klar, dass an die tausend Polizeifahrzeuge den Taxöldener Forst einkesselten. Johanna dachte, ›Die Armee ist da. Sie kommt nicht über den Fluss, sondern über die Bahngleise. Sie umzingelt das Indianerdorf. Sie umzingelt uns. ‹

Merkur rutschte von dem Zaunbalken und fing den Fall ab, indem sie sich mit einer Hand an einem Pfosten festklammerte. Sie schrie kurz auf. Um einen kleinen Holzsplitter verfärbte sich ihre Haut rot.

»Lass mal sehen«, forderte Johanna die Verletzte auf. Sie nahm ihre kalte Hand, deren klamme Finger sich zu Krallen zusammenzogen. Ohne Vorwarnung holte sie den Spieß aus dem Handballen und drückte ein frisches Papiertaschentuch auf die blutende Wunde.

»Halt das noch etwas drauf, und dann zieh dir am besten deine Handschuhe wieder an.«

»Die hab ich heut’ Morgen zu Hause vergessen«, kicherte Merkur verlegen, als beichtete sie einem Lehrer, dass sie ihre Hausaufgaben im Bus vergessen habe.

Aber ihr blieb keine Zeit, sich weiter über Handschuhe Gedanken zu machen. »Hier Station Pluto. Soeben sind etliche Bullenwagen auf den Hof gedonnert. Einige von uns wurden schon verhaftet.«

Ein Krachen und Poltern von zersplitterndem Holz wurde zu allen Funkern übertragen. Dutzende sich überlagernde Rufe waren zu hören, kurz darauf ein schmerzerfüllter Aufschrei: »Au! – ihr Schweine!«

Noch ein quietschender Pfeifton, danach folgte Stille.

Johanna fühlte, wie sich ein Splitter in sie hineinbohrte – nicht in die Haut, er drang vielmehr in ihr Innerstes, verhakte sich in ihrem Herzen. Er brachte einen melancholischen Schmerz.

Tief in Gedanken versunken, nahm sie kaum wahr, dass Merkur sich mit einem flüchtigen Winken verabschiedete und in den Wald eilte. Johanna blieb mit ihren düsteren Gedanken allein zurück und gab sich ihrer Schwermut hin.

Sie stellte sich vor, wie es in ihr aussähe, wenn ihre Seele ein Wald wäre: ›Wenn jedes Gefühl ein Baum wäre, ließe der Baum der Freude heute ausgetrocknet die Blätter hängen. Und wie würden die gefräßigen Bäume der Angst, der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit gedeihen und wuchern …‹.

Nach einiger Zeit weckte ein eingeschlafenes Bein sie aus ihrer Trübsal.

»Verdammt nochmal, reiß dich zusammen! Du bist hier um zu fotografieren und zu dokumentieren – wenn du hier sitzt und grübelst, nutzt du keinem. Pack deine Gefühle in deine Fototasche und nimm deine Kamera heraus. Jetzt ist Schluss mit dem Jammern und Zaudern«, schalt sie sich, vor sich hin murmelnd, selbst.

Sie schüttelte ihren Oberschenkel und massierte die Verspannung heraus, dann nahm sie ihre Kamera in die Hand. Kalt ruhte das eiserne Gehäuse ihres Arbeitsgeräts zwischen ihren Fingern und gab ihr Halt, so dass sie das Gefühl hatte, wieder ein einigermaßen stabiles Gleichgewicht zu finden.

Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort

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