Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 7

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PROLOG

Kairo, Montag, 07. Juni 2005

Von Anbeginn der Fotografie wurden sie millionenfach abgelichtet. Anfangs auf Glasplatten und später auf Zelluloid gebannt, entstehen sie heute durch Millionen von Pixeln neu. Täglich kommen Tausende von Touristen und Reisenden vorbei und knipsen schonungslos Bilder vom letzten erhaltenen antiken Weltwunder, ohne Gespür für Komposition, ohne Bewusstsein für Struktur, Licht, Farbe, Ausgewogenheit und Gestaltung. Für einen guten Fotografen wurde es in den letzten Jahrzehnten immer schwieriger, diesem einzigartigen Motiv eine neue Perspektive abzuringen. Jeder dieser Bilderjäger stellt für sich den Anspruch, eine noch nie gekannte Seite, eine intime Seite der Pyramiden zu entdecken und sie für immer festzuhalten.

Johanna, die auch zu jenen Menschen gehörte, die den Pyramiden ein einzigartiges, unverfälschtes Bild abjagen wollen, verließ kurz nach acht Uhr morgens ihr Hotel, das Cosmopolitan, ein im viktorianischen Stil errichtetes Gebäude. Ihre Erinnerungen an ihren ersten Kairo-Aufenthalt, den sie hier mit achtzehn vor zweiundzwanzig Jahren verbracht hatte, zogen sie immer wieder hierher, obwohl es in den Zimmern nach Mottenkugeln und Staub roch.

Bevor sie nach Gîsa hinausfuhr, bog Johanna nach ein paar Schritten in die Einbahnstraße Shara Qasr el Nil ein und lief gegen den Verkehr in Richtung Midan Talaat Harb hinab. Nach zwanzig Metern betrat sie einen kleinen Supermarkt, der sich in den letzten zweiundzwanzig Jahren kaum verändert hatte. Mit einer großen Wasserflasche, einigen Früchten und Fladenbrot kam sie aus dem Markt, überquerte die Straße und gelangte über einen Seitenweg zur Shara Talaab Harb. Ein schwarzweißes Taxi hielt auf einen Wink von ihr.

»Yes?«, fragte ein indisch aussehender Fahrer in hartem Englisch.

»Gishe, how much?«, fragte Johanna.

Handeln war für sie wie ein inszeniertes Tennisspiel, mit einem überhöhten Preisaufschlag wird versucht, den Gegner zum Laufen zu verführen. Bei einem übertriebenen Ansatz fliegt der Preis ins Netz oder landet jenseits der Grundlinie im Aus und der potenzielle Fahrgast sucht das Weite. Ein überwältigend günstig klingender Einstieg kann zu einem Ass führen, denn der überraschte Mitspieler willigt meistens sofort bei einem überteuerten Preis ein.

Johanna, die den normalen Fahrpreis von fünfundzwanzig ägyptischen Pfund kannte, freute sich auf das Spiel und hoffte auf ein leidenschaftliches Ringen mit übertriebener Gestik und viel Geschrei um jedes Pfund.

»Fifty«, kam dem Taxifahrer ein müdes Anfangsgebot über die Lippen.

Mit einem übertriebenen Lachen konterte sie den Preisvorschlag kurz und knapp: »Oh no, ten.«

»No, it’s a long way«, widersprach eine temperamentlose Stimme.

»Ten«, blieb Johanna hart.

Lustlos kam ein »Forty« zurück.

»No, that’s too much«, entgegnete sie in leidendem Tonfall.

»Forty«, blieb die Antwort weiterhin lustlos.

»Fifteen«, beschleunigte Johanna das Spiel.

»Thirty.«

»Twenty.«

»Twenty-five is a good price«, leitete der Fahrer die Schlussphase ein.

»Okay, twenty-five«, besiegelte Johanna resigniert den Gleichstand des leidenschaftslosen Geplänkels und stieg in den engen Wagen mit nachgerüsteten Sicherheitsgurten. Vor einigen Jahren war auch in Ägypten die Gurtpflicht eingeführt worden, zum Schutz der Touristen. Ein übertriebener Unsinn, wie Johanna dachte, für sie gab es kein sichereres Verkehrsmittel als ein Taxi in Kairo. Ein wenig vermisste sie die nostalgischen Zeiten, die allerdings bald auf andere Weise wiederkehrten, denn in den Kurven und beim Bremsen bewegte sich ihr Sitz leicht zur Seite oder nach vorne.

Ohne den Taxifahrer eines Blickes zu würdigen, reichte sie ihm schweigend ihr abgezähltes Fahrgeld und verließ vor der Kulisse des antiken Weltwunders den Wagen. Keine Bewegung oder Geste ließ erkennen, ob sie den Fahrer hörte, der sie mit lauter, anmaßender Stimme aufforderte, ihm mehr für die schnelle Fahrt zu zahlen oder ihm wenigstens im Namen Allahs ein kleines Bakschisch zu geben, bevor sie mit Schwung die Beifahrertür zuwarf und gut gelaunt zum Kartenhäuschen zu Füßen der Sphinx schritt.

Abseits der Besucherströme wanderte sie in Sichtweite um die Cheops-Pyramide. Trotz des guten Lichts fand sie an diesem Vormittag nur die klassischen Motive.

Gegen Mittag saß Johanna vor der Chephren-Pyramide und halbierte Limonen, die sie in eine kleine leere Plastikflasche presste. Anschließend verdünnte sie den Saft mit Wasser aus der großen Flasche vom Supermarkt.

Immer wieder wischte sie vergebens einzelne Haare aus Mund und Gesicht, die sich aus ihrem fuchsroten Pferdeschwanz befreit hatten und durch den sanften, kühlenden Mittagswind zwischen Essen und Zähne gerieten.

Im Laufe ihres Lebens hatte sie viele Gewohnheiten und Spleens kultiviert, geändert oder mit ihnen gebrochen. Einen Tick jedoch, den sie bereits im Kleinkindalter gepflegt hatte, änderte sie nie. Während sie ihre Saftmischung, das Fladenbrot und die Datteln genoss, fing sie an zu summen »mmmmhhhmmmhhhmmm«. Dieser sich wiederholende Singsang erklang nur, wenn sie sich unbeobachtet und wohl fühlte. Dann geschah es, dass sie in ihre eigene Innenwelt glitt und verschwand. Besonders bei wohlschmeckenden Speisen und bei Tätigkeiten, bei denen sie in Verzückung geriet, zog sie diese Tarnkappe über, um für sich selbst zu sein. Ein entspanntes Lächeln dehnte sich über ihr schweißglänzendes Gesicht, auf dem sich ein Universum aus großen und kleinen Sommersprossen tummelte.

Im Laufe des Tages kamen Hunderte von Händlern – nach Johannas Gefühl jeder einzelne der zwanzig Millionen Einwohner von Kairo – mit ihren kostbaren Antiquitäten, Glücksbringern, Postkarten und kalten Softdrinks auf sie zu. Einige boten ihr einen Ritt in die Wüste mit Kamel oder Pferd an. Um den geschäftstüchtigen fliegenden Händlern zu entgehen, tat Johanna, als höre und sehe sie keinen ihrer Quälgeister, und ließ sie ratlos in der Wüste stehen.

Am frühen Nachmittag beobachtete sie in der Nähe der Mykerinos-Grabstätte einige ägyptische Jugendliche, die auf geschliffenen Pyramidenblöcken ihr Gleichgewicht testeten. In einer kleinen Senke stehend, blickte Johanna in Richtung Chephren-Pyramide – und fand ihr Motiv.

Den kleinen Hang hinauf und auf dessen Kamm bildeten Felsblöcke in verschiedenen Größen und Formen ein Trapez. Von ihrer Perspektive aus verschmolzen Felsen und Sand mit dem Dreieck des Weltwunders zu einer Naturkulisse.

Ungünstig für gute Fotos stand gleißend hell Nut, die Himmelsgöttin, im Zenit des Tages über dem zeitlosen Kulturerbe. Um sich die Zeit zu vertreiben, wanderte Johanna ein Stück am Rand der Wüste entlang, um vielleicht ein besseres Motiv zu finden. In der langen Wartezeit fiel ihr das Kairoer Sprichwort ein: ›Der Mensch fürchtet die Zeit. Und die Zeit fürchtet die Pyramiden.‹

Kurz bevor sie auf dem Rückweg in Sichtweite der kleineren Grabmäler kam, der sogenannten Königinnen-Pyramiden, die der Grabstätte von Mykerinos vorgelagert im Sand stehen, drang von unten schrilles Trillerpfeifen in die zeitlose Stille, eine aufdringliche Aufforderung, den Geschichtspark zu verlassen. Auf ihren Kamelen fingen einige Tourismuspolizisten an, die Besucher zu jagen und vor sich nach unten zu treiben.

Johanna drückte sich in eine Mulde, um nicht das sanfte Licht der untergehenden Sonne zu verpassen. In ihrer Fototasche lag ihr Presseausweis, aber der beschwor bei einem übereifrigen Beamten meistens nur unnötige Diskussionen und Ärger herauf, die zu einem Vorgesetzten führten und damit unnötig Zeit und Geduld verschwendeten. Langsam leerte sich das Gelände, mit der zurückkehrenden Stille traf das ersehnte Fotolicht ein. Johanna wagte sich trotz des ständigen Pfeiftons, der immer noch zum Ausgang rief, aus ihrem Versteck.

Im goldfarbenen Licht schmiegten sich die Grabmäler der Frauen des großen Pharaos zärtlich an das kleinste der klassischen Gîsa-Monumente, wie Johanna beim Fotografieren empfand. Auf dem Weg zur Mykerinos-Pyramide spulte ihre alte Spiegelreflex den heutigen vierten Film zurück; während des Gehens wechselte sie ihn aus. Vor ihrem Motiv stehend wusste sie, es war ihr Tag. Nach einer Reihe unterschiedlicher Aufnahmen transportierte die Kamera erneut automatisch nach dem sechsunddreißigsten Foto die belichteten Bilder in die Filmpatrone. »Verdammt«, fluchte Johanna, als sie beim Wechseln merkte, dass die vierte Filmdose fehlte, und eilte, wütend auf sich selbst, suchend zum Königinnen-Komplex zurück. Erleichtert fand sie die gesuchte Patrone dort, wo sie die Filme ausgetauscht hatte.

Beim Aufheben sah sie aus den Augenwinkeln auf einer noch beleuchteten Terrassenstufe eines der Gräber ein Pärchen sitzen. Im letzten Sonnenlicht küssten sich die beiden innig. Mit einer schnellen Handbewegung zoomte das Objektiv die Liebenden heran. Zur richtigen Zeit fegte ein Windstoß das graue Kopftuch des Mädchens aus dem Gesicht ihres Partners. Johannas Lächeln, das aufgrund dieses Glücksfalls erschienen war, ging in Erstaunen über. Schnelle Schüsse verewigten unbemerkt den gewagten Kuss. Im Sucher war nicht wie erwartet ein Mann erschienen, sondern ein zweites Mädchen mit langem, tiefschwarzem, gewelltem Haar und einem Gesicht mit waldhonigfarbenem Teint, dessen Züge der Venus von Milo glichen, als hätte sich Michelangelo ihrer verfeinernd angenommen.

Konzentriert ließ Johanna ihr Zoomobjektiv vor- und zurücktanzen, holte ihre Modelle an sich heran, um sie mit einem weiten Ausfallschritt nach rechts von sich zu schleudern und sie in der Hocke geschickt aufzufangen. Niemals ließ sie die ineinander verschlungenen Menschen aus dem Rahmen fallen, der ihren Sucher begrenzte. Jeder Schritt vorwärts bedeutete, entdeckt zu werden. Ohne irgendeine Anweisung agierten die beiden Mädchen so, wie Johanna es sich wünschte.

Hart traten Johannas Wangenknochen und Halsschlagadern hervor, ließen ihr ohnehin hageres Gesicht verhungert aussehen. Mit jeder sich öffnenden und schließenden Blende erstarrte ihre Hals- und Backenmuskulatur mehr und mehr und gab ihr Aussehen und Reife, die einer Frau ihres tatsächlichen Alters entsprachen. Trotz der konzentrierten Anstrengung hatte sie wieder, wie bei ihrem Mittagessen, leise und fröhlich monoton zu summen begonnen.

Sanft löste sich das Mädchen mit dem offenen schwarzen Haar aus dem Kuss, streichelte ihrer Partnerin zärtlich über Wangen und Hals und sah ihr dabei tief in die Augen. Ein großes koptisches Kreuz baumelte kaum merklich vor ihrer Brust hin und her. Momente später begann sie sanft mit geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund die Lippen ihrer Freundin zu berühren, bevor sie wieder zum intensiven Küssen überging. Ein leichter Windhauch wirbelte honigfarbenen Staub auf, wodurch der Kulisse ein mystisches Flair verliehen wurde.

Beim letzten Foto spurtete der Film los. Laut klickend raste der Abspann in die Filmpatrone.

Das Mädchen mit dem Kopftuch zog sich abrupt zurück, flüsterte angespannt ihrem Gegenüber etwas zu und deutete mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung der Fotografin. Ein weltumspannendes Lächeln erhellte das Antlitz der Venus. Bevor sie ihre Gefährtin wieder an sich zog, nickte sie Johanna freundlich zu.

Johanna ließ die Spiegelreflex in die Kameratasche gleiten, nahm ihre neue Digitalkamera heraus und fing noch einige Schnappschüsse für spätere Korrekturen oder Verfremdungen ein.

Müde, aber glücklich saß sie später im Taxi, an dem das nächtliche Kairo vorbeizog. Ihre Gedanken kreisten um die sensationellen Bilder, das Liebespaar und die Frage, wie viel sie mit den Fotos verdienen würde.

Irgendetwas schrie bei diesem Gedanken laut auf, aber noch konnte sie ihre innere Stimme nicht verstehen.

›Muss Liebe schön sein‹, dachte Johanna sehnsüchtig, während die Bilder von den beiden liebenden Frauen in ihr Bewusstsein stiegen. Vor ihrem geistigen Auge berührten sie sich zärtlicher als in der Wirklichkeit. Mit der Zeit sah sie sich selbst im Liebesspiel im Mondlicht vor der Pyramide liegen.

Frauen, die sich in einem islamischen Land lieben, ein härteres Schicksal konnte Johanna sich kaum für zwei Liebende vorstellen. In einem Land, in dem die Eltern den Bräutigam aussuchen und nicht die Liebe. In einem Land, in dem Frauen ihr sogenanntes Vaterland ohne schriftliche Erlaubnis ihres mutmaßlichen Erzeugers oder ihres Mannes nicht verlassen dürfen. Wie kann hier eine Frauenliebe überleben, welche Zukunft hat eine solche Verbindung?

Mit diesen Gedanken verschwand die Freude über die Fotos. Konnte sie es wagen, eines der Bilder an ein internationales Magazin zu verkaufen oder für ihren Bildband zu verwenden, ohne zwei Menschen zu gefährden? Niemand konnte mit Sicherheit sagen, in welche Hände ein Magazin oder ein Buch fiel, sei die Auflage noch so gering. Wie konnte sie es überhaupt wagen, an einen Verkauf zu denken, und seit wann war sie dabei, ihre Berufsethik über Bord zu werfen?

Schweigend verließ sie das Taxi in der Gewissheit, dass keines der Bilder je in einem Presseerzeugnis erscheinen würde; sie würden in ihrem Privatbesitz bleiben.

An der Hotelrezeption übergab ein grau melierter Portier Johanna unaufgefordert den Schlüssel 603 und die Nachricht von ihrer Londoner Agentin Brenda Finch mit der Bitte um dringenden Rückruf. In ihrem Zimmer speicherte sie die Digitalaufnahmen in ihrem Laptop ab und erstellte eine Sicherungs-CD, obwohl sie wusste, dass nur wenige Auserwählte die Ausdrucke zu Gesicht bekommen würden. Bevor sie frisch geduscht die hauseigene Telefonzentrale aufsuchte, packte sie ihren Rucksack, um am nächsten Morgen rechtzeitig für die Fahrt zur Sinai-Halbinsel bereit zu sein.

Am späten Nachmittag des nächsten Tages saß Johanna auf dem Gipfel des Dschebel Musa, dem sogenannten Mosesberg, um auf den Sonnenuntergang zu warten. In ihrem Kopf tobte ein Kampf der Erinnerungen, den das Telefongespräch mit Brenda Finch ausgelöst hatte. Eine Welle aus Bildern, Gesprächen, Gerüchen und Gefühlen schwappte aus dem Meer des Vergessens, um sich gleich darauf in die nächste Welle zu ergießen. Ziellos jagten sich die Ereignisse vergangener Zeiten, Wut, Ohnmacht, Kampfkraft und Hoffnung ängstigten und verzauberten Johanna gleichermaßen.

Sie fragte sich immer wieder, wie es dazu gekommen war, dass sie trotz heftiger innerer Ablehnung eingewilligt hatte. Sie rief sich wie durch einen Tastendruck das Gespräch mit Brenda aus ihrem geistigen Datenspeicher ab.

»Kleines, wo steckst du? Habe einen neuen Auftrag, am Freitag geht’s los«, säuselte Brenda mit süßer gebieterischer Stimme.

»Nein!«

»Was, nein?«

»Schon vergessen? Ich … mache … Ferien.« Betont langsam sprach Johanna die letzten drei Worte und unterstrich sie mit einem Ton, der klarmachte, dass sie diesen Auftrag auf keinen Fall annehmen würde.

»Kleines, komm schon, lass mich nicht hängen. Es wird sicher lustig.«

»Nein. Ich bleibe hier, ab morgen früh bin ich auf dem Sinai in eigener Sache unterwegs, für meinen …«

»neuen Bildband, ich weiß.«, vervollständigte Brenda. »… Stell dir vor, du kommst sogar in die Nähe von Bayern, du kommst doch aus dieser Ecke, oder? Na, wie auch immer. Eigentlich sollte Jack Lewis den Auftrag übernehmen, aber er liegt mit einer Infektion im Krankenhaus. Es geht um Folgendes: Eine deutsche Zeitschrift möchte Fotos zu einer Reportage mit dem Titel ›Die Oberpfalz, 20 Jahre nach der Hüttendorfräumung im Taxöldener Forst‹ – was auch immer da aufgeräumt wurde, aber es wird bestimmt lustig. Du triffst dich am Freitag, 11. Juni, mit deren Reporter in der Pension ›Goldene Schwalbe‹ in Naabwenden in der Oberpfalz.«

Überrascht ließ Johanna den Hörer fallen, der lautstark zu Boden ging wie ein Boxer beim Knock-out. Falls sie den Auftrag annehmen würde, käme sie nicht nur ›in die Nähe von Bayern‹ (denn die Oberpfalz liegt am östlichen Rand Bayerns und ist einer seiner Regierungsbeirke), sondern sogar in ihre Geburtsstadt, denn der Treffpunkt, die Pension ›Goldene Schwalbe‹ in Naabwenden, gehörte einer ihrer Tanten.

»Kleines, bist du noch da?«, fragte Brenda irritiert.

Johanna presste ein »Ja« aus ihrer trockenen Kehle, nachdem sie den Hörer wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatte.

Brenda setzte ihren Monolog fort: »Habe mir erlaubt, deinen Flug für Donnerstag umzubuchen. Also los, gib dir einen Ruck. Sag Ja.«

Ein Impuls in ihr sagte »Ja«.

Johanna blickte über die Bergwelt des Sinai und wusste, sie würde zurückkehren an den Ort ihrer Geburt, an den Ort ihrer Jugend, an den Ort, der sie geprägt hatte. Zurück in ihre Heimat, für die sie gekämpft hatte, für die sie gelitten hatte und in der sie wie eine Raupe zum Schmetterling geworden war. Diese Metamorphose hatte hier in Ägypten begonnen.

›Verrückt …‹, dachte sie, ›… in einem totalitären Männerstaat wurde für mich, eine Frau, der Grundstein gelegt, meine Freiheit zu finden und mein Selbstbewusstsein aufzubauen.‹

Aus heiterem Himmel brach ein Sturm in ihrem Gedächtnis los. Erinnerungen prasselten wie Hagelkörner auf sie ein. Lichtblitze von Ereignissen aus ihrem Leben leuchteten auf und erloschen wieder. Manche rissen ab, verschwanden für immer im schwarzen Loch des Vergessens, andere tauchten stetig im Sternenmeer des Erinnerns auf. Lachen, Tränen, Freude, Trauer und Ängste wechselten sich ab oder vermischten sich. Ein buntes Feuerwerk aus Gefühlen sprühte sich wie ein universales Graffiti des Seins in ihr Denken.

All diese ungeordneten Erinnerungssplitter, Bruchstücke und Trümmer ihres Lebenspuzzles zogen sie zurück in ihre Vergangenheit.

Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort

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