Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 23
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Wackerland/Oberpfalz, Dienstag 7. Januar 1986 / 08.00
Aus der Mitte des Hüttendorfes drang ein chaotisches Durcheinander verschiedener Gesangsstimmen nach draußen. Nach den unterschiedlichen Rhythmen zu urteilen, konnten sich die Sänger nicht auf ein Lied einigen. Mit der Zeit kristallisierte sich der Refrain von ›We shall overcome‹ heraus, im Anschluss daran wurde erkennbar die Bayernhymne gesungen.
Johanna bewegte sich hinter der Polizeikette, ohne dass jemand sie wahrnahm. Kein Mensch nahm Notiz von ihr, weder den Demonstranten noch den Einsatzkräften fiel sie auf. Über ihren Köpfen kreisten lärmende Helikopter. Auf dem Film, der aus einem dieser lauten Himmelsspione gedreht wurde, erschien sie nur als ein unscheinbarer, immer wieder ruhig verharrender Punkt.
Vor ihr tauchten neue Polizeieinheiten auf, bildeten einen zweiten Ring am Boden. Eine Abordnung der Hundestaffel löste sich aus dem Ring, schritt ins neue Niemandsland. Anders als ihre Grenzschutzkollegen trugen diese Männer grüne Lederjacken und anstelle eines Helms eine Pelzmütze. Einer der Hundeführer marschierte dicht links an Johanna vorbei. Urplötzlich, ohne ersichtlichen Grund, sprang der links geführte deutsche Schäferhund mit einem Satz vor die Füße des Beamten. Mit den Vorderpfoten in der Luft drehte sich der Vierbeiner blitzschnell nach rechts und schnappte nach der in der Hocke befindlichen Fotografin. Noch bevor das Objektiv vom Atem des Hundes beschlug, drückte Johanna dreimal den Auslöser. Später sollte sie feststellen, dass ihr damit, da ihre Zoombrennweite auf 24 mm aufgedreht war, eine verblüffende Bildreihe gelungen war.
Johanna hatte Glück, denn durch einen kraftvollen Ruck seines zweibeinigen Vertrauten an der Führleine wurde der Rüde vom Zubeißen abgehalten. Mit einem lauten Klacken schnappte das Gebiss des vierbeinigen Beamten vor ihr zu.
Ein weiterer Zug an der Leine und das Kommando »Hasso, bei Fuß!« brachten den nervös wirkenden Hund zur Räson. Ohne innezuhalten stapfte der Staatsdiener mit seinem tierischen Partner davon, als wäre nichts vorgefallen.
Johanna blieb mit bleichem Gesicht zurück und zitterte am ganzen Leib. Tief saß der Schock. Wie in Trance wandelte sie weiter. Dies war das erste Ereignis des Tages, das sich in sie hineinbohrte wie ein Parasit. Erst viele Stunden später sollte es ihr gelingen, den Eindringling, der ihre innere Ruhe störte, loszuwerden.
Von der Seite trat unbemerkt eine für die Beamten ebenfalls unsichtbare Gestalt an Johanna heran. Sanft berührte sie die Schulter der Fotografin. Wie aus einem Ozean aus Watte schwappten leise Worte zu Johanna, die noch immer am ganzen Körper zitterte. »Wurdest du gebissen? Geht’s dir gut?«
Überflutet von Adrenalin sah Johanna verdutzt in ein älteres, lebendiges Gesicht. Sie hatte den Eindruck, als könne sie jede einzelne Pore in den Falten der Frau vor ihr erkennen. Unnatürlich grinsend erwiderte sie, jede Silbe betonend: »Nein, er schnappte daneben.«
Die alte Frau, die sich mit »Birgit Lobinger von der BI Burglengenfeld. Ich protokolliere, mit anderen, alle heutigen Vorkommnisse« vorstellte, klappte ein doppelseitiges Klemmbrett auf, sah auf ihre Uhr und notierte etwas.
»Johanna Schön, BI Naabwenden, und ich dokumentiere die gleichen Ereignisse in Bildern.«
Nachdem Birgit sich nochmals bei Johanna versichert hatte, dass es ihr gut ging, verabschiedete sie sich und ließ sie alleine mit ihren Gefühlen und Gedanken zurück.
Mit den verstreichenden Sekunden wurde ihr klar, dass dies nicht der einzige brenzlige Moment an diesem Tag bleiben würde. Wie auf Watte schritt sie auf der mit Adrenalin getränkten Wolke dem nächsten Motiv entgegen.
Im Laufe der elf Minuten, die Johanna nach der Hundeattacke auf der Achterbahn des Räumungsgeschehens entlangrauschte, senkte sich langsam der Pegel ihrer Stresshormone und pendelte sich vorübergehend auf dem Niveau eines untrainierten Marathonläufers ein.