Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 13
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Taxöldener Forst, ›Wackerland‹ / Oberpfalz, Dienstag 7. Januar 1986 / 03:18
Niemand in Sybilles Wagen sprach nach dem Zwischenstopp an der Leitplanke ein Wort. Jede der Frauen war allein. Allein mit ihren Gedanken, mit ihrer Angst und ihrer Hoffnung. Langsam und mit sicherer Hand lenkte Sybille den Wagen über die holprige Asphaltdecke. Nur das Knarzen und ächzende Aufstöhnen der Plastikteile, der Handgriffe, des Autohimmels und des Handschuhfachs, das bei jedem Auf und Ab der Bodenwellen hörbar wurde, störte die Stille. Leise sang die sich im Fahrtwind biegende Antenne, mit jeder Kurve änderte sie ihre Melodie. Monoton stiegen und fielen die Motorgeräusche beim Beschleunigen oder Bremsen.
Gegen Ende der Fahrt reihten sich immer mehr Fahrzeuge in die Schlange auf dem vor Sybille und ihren Freundinnen liegenden Weg ein. Sie fuhren durch Wackersdorf und suchten auf der Zufahrtsstraße zum ›Roten Kreuz‹ eine Parkmöglichkeit. Das ›Rote Kreuz‹ im Taxöldener Forst war der Ausgangs- und Versammlungsort des Widerstandes gegen die WAA, hier fanden diverse Veranstaltungen und Mahnwachen statt.
Sybille stellte ihren ›Papagei‹, wie sie ihr rotes Auto wegen seiner gelben und grünen Türen und der blauen Motorhaube nannte, so ab, dass sie im Notfall den Gefahrenbereich schnell und ohne unnötiges Manövrieren würde verlassen können.
Vorbeieilende Einsatzfahrzeuge des Bundesgrenzschutzes und der Bereitschaftspolizei sowie mobile Rundfunkstationen für die Nachrichtenübertragung begleiteten ihren morgendlichen Weg. Schneeglätte verhinderte ein schnelles Vorankommen. In einer Kurve drehte sich ein zu schneller dunkelroter Personenwagen mit der Aufschrift ›Presse‹ und schlitterte auf Johannas Gruppe zu. Beherzt sprangen alle bis auf Inga in den Straßengraben.
Inga stand mit weit aufgerissenem Mund, aus dem ein ansteigender, schriller Ton entwich, bewegungsunfähig am Flurrain, die Arme mit abwehrend erhobenen Handflächen vorgestreckt, und sah den langsamer werdenden Wagen auf sich zu gleiten. Ihre gefütterten schwarzen Lederhandschuhe verursachten einen dumpfen Schlag und kratzten klebrig an dem vereisten hinteren Seitenfenster der Beifahrerseite entlang, als das Gefährt mit ihr kollidierte. Der Schwung des Fahrzeugs drückte ihre starken fleischigen Arme, die der Kraft des Wagens nichts entgegensetzen konnten, sanft in Richtung ihrer Brust zurück. Ingas Schrei verstummte. Wie durch ein Wunder schob sich der Wagen an ihr vorbei und blieb stehen.
Zuerst leise, dann langsam immer lauter begann Inga zu kichern, ein Kichern, das in hysterisches Lachen überging. Ihre Freundinnen, die sich gerade aus dem Straßengraben aufrappelten und den Schnee von ihren Kleidern schüttelten, stimmten in das vom Schock verzerrte und doch befreiende Gelächter mit ein.
Fahrer und Beifahrer sprangen aus dem Pressefahrzeug und starrten erschrocken und wortlos auf die kreischenden Frauen. Ein dritter Mann, der kurz danach den Wagen verließ, fragte Inga: »Sind Sie verletzt? Brauchen Sie einen Arzt?«
Mit einem Ruck drehte sich die Angesprochene zu ihm um und übergab sich auf seine polierten braunen Winterstiefel.
Querfeldein setzte die kleine Gruppe auf gefrorenem Waldboden den restlichen Pilgerweg zur Rodungsinsel fort. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen wanderten unruhig vor und zurück, hin und her. Langsam suchten sich ihre Schritte in der stockfinsteren Nacht einen Weg. Nach geraumer Zeit tauchten im mattgelben Licht ihrer Leuchten vereinzelte Transparente auf. Je näher sie dem Gelände kamen, desto mehr Plakate und Spruchbänder mit Aufschriften wie ›WAA NEIN‹, ›F. J. Strauß und seine Horden wollen unsere Heimat morden‹ oder ›Wenn ein Baum fällt, fallen CSU und DWK‹ passierten sie. Wortlos schlitterten sie über vereiste Wurzeln und schneebedeckte Heidelbeersträucher, nur hin und wieder rutschte ein Fluch über die kalten Lippen.
Unvermittelt endete die schattenlose Finsternis des nächtlichen Waldes. Vor ihnen lag die Lichtung des Rodungsgeländes mit dem Hüttendorf, darüber stand eine dünne Mondsichel, die sich zum Neumond senkte. Schemenhaft zeichneten sich die Konturen einzelner Hütten ab.
Ein Ruf über ihren Köpfen, der eher ein Flüstern war, begrüßte sie: »Schön, dass ihr schon da seid!«
Erschrocken leuchtete Jo nach oben. Sie standen direkt vor dem Baumhaus am Waldweg, der zum Roten Kreuz zurückführte.
Schweigend und rastlos irrten sie auf den weitläufigen, ausgetretenen Wegen und Pfaden zwischen den Hütten Wackerlands hin und her, auf und ab. In den Feuerstellen wartete rote Glut auf Nahrung. Aus manchen Hütten drang leises Schnarchen oder das Ächzen unruhigen Schlafes, ansonsten schwieg lautlos die frostige Nacht. Die schwere Ruhe lastete spürbar auf den Dächern, es schien, als sei die Zeit eingefroren. Eine beklemmende Stille, die das Atmen schwer machte.
Zwischen zwei Hütten, die wie Tipis gebaut waren, blieb Sybille stehen. Sie enteiste die Stille. »Es sieht alles so friedlich aus, wie in einem Indianerdorf.«
»Ja, wie in einem Indianerdorf, …« wiederholte Jo Schottenhamml und fügte melancholisch hinzu: »… das keine Ahnung hat, dass im Morgengrauen die Armee über den Fluss kommt, um es zu vernichten.«
Wie eine Ohrfeige klatschte der Satz in Johannas Gedanken. Sie hatte den Grund ihres Hierseins völlig vergessen. Ein heftiges Ziehen an ihrer Jacke brachte sie in die Gegenwart zurück: Jo zupfte breit grinsend an Johannas Kleidung und zeigte mit einem Nicken auf Inga.
Inga stand selbstvergessen etwas abseits. Mehrmals öffnete sie ihren Mund wie ein Fisch und hauchte warmen Atem wie Seifenblasen in die Luft.
»Was machst du da?«, fragte Johanna verwundert.
Als sei es etwas ganz selbstverständliches, antwortete Inga: »Ich küsse die Nacht warm.«
Die Freundinnen sahen sich irritiert an, dann löste sich heiteres Lachen und lockerte ihre angespannten Körper wie eine beruhigende Massage. Inga verstärkte den Effekt, indem sie ratlos in die heiteren Gesichter der umstehenden Frauen sah.
Unbeachtet eilten zwei Männer, mit Holzscheiten beladen, an ihnen vorbei und warfen das Brennmaterial auf die Glut in den Feuerstellen. Ein kurzer knisternder Funkenflug zog Sternschnuppen gleich durch die Nacht.