Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 19
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Wackerland / Oberpfalz, Dienstag 7. Januar 1986 / 07.40
Ein verwaschenes Brüllen dröhnte durch das Dunkel des Waldes. Jeder an der Lichtungsgrenze horchte auf. Zwei weitere schwache Schreie ließen vermuten, was durch Zuruf weitergegeben wurde. Ein Chor verschiedener Stimmen brüllte, jetzt verständlich hörbar: »Die Bullen kommen!«
Anfangs sah es aus, als tänzelten weiße Stecknadelköpfe über den schneebedeckten Boden, allmählich verwandelten sie sich zu Champignonköpfen. Gespenstisch schnell wuchsen die weißen Champignons zwischen den Baumkonturen, vermehrten sich. Brachten immer neue Frucht. Die Umrisse schärften sich, unter den Pilzköpfen wuchsen grüne Stiele.
Johanna stand nicht mehr allein am Sperrzaun. Ein halbes Dutzend Verbündeter scharte sich um sie.
»Sieht aus wie Schimmelpilzbefall auf einem Schwarzbrot im Zeitraffer«, bemerkte trocken eine Frau, die ihr grauweiß gemustertes Kopftuch nach Oberpfälzer Art gebunden hatte und einen Mantel im selben Farbton wie ihre Kopfbedeckung trug. Wenn man die Falten in ihrem Gesicht als Maß für ihr Alter nahm, musste sie über hundert Winter erlebt haben.
»Für mich schaut’s eher nach einem gigantischen Kopf einer Meduse aus«, bemerkte ein bärtiger Mann Mitte dreißig mit Pudelmütze und Skijacke.
»Was ist das?«, fragte die alte Frau.
»Eine gefährliche Quallenart mit giftigen Tentakeln.«
In diesem Moment lösten sich die Arme der Qualle vom Kopf und begannen sich rund um das Dorf zu strecken.
»Es ist schlimm, dass der Grenzschutz und die Polizei, die eigentlich zu unserem Schutz und zum Erhalt der Demokratie da sind, uns, die aufrechten Bürger, einkreisen und bedrohen«, klagte der junge Mann pathetisch.
In dicken Winteruniformen, bewaffnet mit Helm, Plastikschild und Schlagstock, stapften über den gefrorenen Schnee Dutzende von Hundertschaften auf den vermeintlichen Gegner zu – für einige endlos lange Sekunden sah Johanna sich genau an dem Punkt stehen, an dem die Zielrichtungen ihres Vormarsches zusammenliefen. Einige der Beamten schleppten schwer an Bergsteigerausrüstung, Motorsägen, Funkgeräten, Mikrofonen oder Videokameras. Im Hintergrund bauten sich einige Einsatzkräfte mit Gewehren auf, deren Läufe mit Abschussbasen für Tränengasgeschosse ausgestattet waren.
Ohne größere Schwierigkeiten überwand die Vorhut der Grenzschutzbeamten den Zaun des Dorfes. Nun standen sie Johanna und einer auf mittlerweile über hundert angewachsenen Schar von Demonstranten, die sich an der Begrenzung eingefunden hatten, Auge in Auge gegenüber.
Zum ersten Mal an diesem Tag stand Johanna zwischen den Fronten. Sie steckte das Blitzgerät auf das Kameragehäuse, legte einen hochempfindlichen Film ein und begann mit den ersten Aufnahmen.
Ihre Konzentration wurde durch eine laute Stimme unterbrochen, die plötzlich mitten hinein in die gespannte Atmosphäre ertönte. Eine Stimme, die sie sehr gut kannte. Johanna eilte an der Menschenkette entlang, bis sie das Glied fand, zu dem die Stimme gehörte. Fest in der Kette verankert standen Sybille und Inga Seite an Seite.
»Du siehst ziemlich schlecht aus, geht es dir nicht gut? Melde dich doch krank und geh nach Hause«, forderte Inga den Beamten auf, der ihr gegenüberstand.
Verärgert kam vom Nachbarn des Angesprochenen: »Wenn ihr ordentliche Staatsbürger wärt, bräuchte er nicht hier in der Kälte zu stehen und könnte sich zu Hause von seiner Frau pflegen lassen.«
Das Niemandsland zwischen den Gesichterfronten maß kaum einen Meter. Johanna wetzte hektisch vor und zurück, bis sie den geeigneten Blickwinkel für eine kurze Fotostrecke fand. Bevor sie auf den Auslöser drückte, blickte sie Sybille an und lächelte ihr zu. Es war ein Lächeln wie es eine Geliebte ihrem Liebhaber zuwirft, dem sie mit ihrem Mut beweisen möchte, dass sie ihm ebenbürtig ist.