Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 11

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Naabwenden/Oberpfalz, Dienstag 7. Januar 1986 / 02.34

Matt leuchtete eine abnehmende schmale Mondsichel. Sie verlieh dem kalten Schneemantel, der seit Tagen über den sanften Hügeln, den Wäldern und den historisch gewachsenen Städten der mittleren Oberpfalz lag, einen märchenhaften Zauber. In manchen Gärten und Hofeinfahrten hielten Schneemänner Wache. Klamme Kinderhände in nässedurchlässigen Wollhandschuhen hatten sie unter lautstarker Begleitung aus anfangs kleinen Schneebällen geformt.

Trotz dieser eisigen Wachmannschaft vor ihren Häusern schliefen viele Menschen in den Orten dieses Landstriches in der Nacht nach dem Dreikönigstag unruhiger als in den Nächten zuvor. Einige dieser unruhigen Schläfer verbrachten die Nacht in selbst gezimmerten Holzhütten auf einer kürzlich gerodeten Waldlichtung in Schlafsäcken oder auf Stroh, andere in warmen Häusern und bequemen Betten. Und wieder andere übernachteten in den Bundeswehr- und Grenzschutzkasernen zwischen dem Fluss Naab und der Landesgrenze.

Niemand sehnte sich nach dem Sonnenaufgang.

Minuten oder auch erst Stunden nach Mitternacht rüsteten sich Einheimische und Fremde für einen nächtlichen Waldspaziergang. Die Anwohner entlang der Naab und ihre Gäste in den Kasernen hatten ein gemeinsames Ziel: Beide Gruppen wollten den Menschen in den provisorischen Hütten im Taxöldener Forst einen Besuch abstatten, freilich mit entgegengesetzten Beweggründen und Absichten. Dennoch verspürten sie in diesen Stunden wohl ähnliche Ängste und Erwartungen.

Jeder, der sich in dieser Nacht in Richtung Wackersdorf auf den Weg machte, fürchtete die Gewalt der anderen Seite. Auch Johanna, die in der Metzgerei in Naabwenden ihre Winterjacke anzog, kämpfte innerlich mit widerstreitenden Ängsten und Hoffnungen.

Sie verließ das Haus. Kälte wartete auf sie. Langsam sog sie die frische, kalte Luft tief durch die Nase ein, um sie warm und dampfend wieder auszuatmen. Wie kleine weiße Nebelwolken tanzte ihr Atem vor ihrem Gesicht. Mattes Glitzern überzog stellenweise den dunklen Straßenbelag und ließ auf Frosttemperaturen schließen.

Johanna betrachtete die ihr lang vertraute Umgebung, die ihr durch die nächtliche Winterstimmung wie zu einem Gemälde verfremdet erschien. Vor ihr im Nordosten der Stadt lag eine Hügelkette mit vier kleinen sanften Wellen, zu denen vom Naab-Flusstal aus strahlenförmig je eine Hauptstraße hinaufführte. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit wurden diese Straßen in den Nächten besonders sichtbar: In mattem Gelb leuchteten Weihnachtsgirlanden, die quer über den Fahrbahnen hingen. Sie brannten von Sonnenuntergang bis zum Morgengrauen und verliehen den neuen und alten Stadtvierteln im Advent und noch einige Wochen nach Weihnachten einen besonderen Charme. Auf dem historischen Marktplatz unten auf der ›Berziener‹ genannten Naabinsel, einem Herzen der Stadt, liefen die Schlagadern aus künstlichem Licht zu einem großen Verkehrsknoten zusammen. Neben den vier Straßen aus dem Norden trafen dort noch fünf weitere Straßen von den vier westlich gelegenen Hügeln und der in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Bundesstraße her zusammen und bildeten ein nierenförmiges Muster. Im Gegensatz zu der nordöstlichen Hügellandschaft glichen die westlichen Erhebungen eher eigenständigen kleinen Bergen, die in sichelförmiger Anordnung die Biegung der Naab nachzeichneten. Manchem Betrachter erschienen sie schroff und kantig. Nur einer dieser Hügel diente als Siedlungsgebiet, der Latdenberg mit einem eigenen historischen Stadtkern im Stadtviertel Neuwenden.

Auf dem frostschimmernden Boden ging Johanna langsam mit kurzen Trippelschritten, die mit ihren langen, weites Ausschreiten gewohnten Beinen einen eigentümlichen Kontrast bildeten, vorsichtig zum alten Marktplatz in Neuwenden hinunter, vorbei an einigen Häusern, aus deren Kaminen selbst jetzt, einige Stunden nach Mitternacht, weißer Rauch in die Sternennacht stieg und sich schnell in der kalten Luft auflöste.

Gegenüber dem Haus ihrer Urgroßmutter stellte Johanna sich unter eine Laterne und setzte behutsam Thermoskanne und Kameratasche auf der Bordsteinkante ab. Sehnsüchtig sah sie zu dem alten gemütlichen Haus hinüber, aus dessen Kamin ebenfalls Rauch aufstieg. In dem großen Garten hinter diesem Gebäude hatte sie in den letzten zwei Jahren so manche schöne Stunde mit ihrer ›Urli‹ verbracht.

Johanna nannte ihre Urgroßmutter nach ihren ersten unbeholfenen Worten aus frühester Kindheit Urli. Damals war das Wortgebilde ›Urgroßmutter‹ für ihre Zunge zu hart und holprig gewesen, so rollte nur die kurze Kauderwelsch-Version ›Urli‹ über ihre Lippen. Dieser später beibehaltene, liebevoll gemeinte Name war in der Stadt der einzige Kosename für Magdalena. Für die meisten Leute in Naabwenden war sie nur »Magda, die Hexe«.

Von der anderen Straßenseite kam der Ruf einer leisen, kräftigen Stimme: »Morgen, mein kleiner Liebling. Komm rein in die Wärme.« Johannas Urgroßmutter stand vor ihrer Haustür, winkte ihr zu und zog sich bereits wieder langsam ins lichtlose Treppenhaus zurück.

Johanna folgte der Einladung. Während sie schnell durch den dunklen Flur schlüpfte, dachte sie: »Wenn alle Frauen unserer Familie mit zweiundachtzig noch so gut aussehen, gesund bleiben und so gut drauf sind wie sie, wird mein Leben noch sehr spannend.«

In der wohlig warmen Küche saß Magdalena in einem Bambusschaukelstuhl und strickte an einem Pulli. Johanna beäugte ungläubig das Strickwerk. Vor ein paar Stunden am Nachmittag des Dreikönigstages hatte es nur aus dem Vorderteil des geplanten Kleidungsstücks bestanden, nun fehlten für das Rückenteil nur noch einige Reihen. Ohne eine Antwort zu erwarten, fragte Johanna mit einem Schmunzeln: »Nehme an, du warst heute Nacht noch nicht im Bett, oder?«

»Ach, weißt du, eine alte Frau wie ich braucht nur noch wenig Schlaf. Komm, setz dich zu mir«, forderte Magdalena ihre Urenkelin auf, neben ihr am Fenster Platz zu nehmen.

Vom Holzofen her breitete sich ein warmer Luftstrom im Raum aus bis zu dem zweiten Schaukelstuhl, in den Johanna sich entspannt fallen ließ. Sie öffnete den Reißverschluss ihres Anoraks, klappte die Seitenteile auseinander und blickte durchs Fenster zum Stadttor hinunter.

»Mit wem fährst du?«, fragte Magdalena, die ebenfalls zum Fenster hinaussah, ohne auf ihre Handarbeit zu achten.

»Mit Sybille, Heidrun Schottenhamml und Inga Müller«, antwortete Johanna nüchtern.

»Verstehe nicht, wie eine Oberpfälzer Familie ihr Kind Inga nennen kann«, brummte Magda leise vor sich hin.

»Wie sagst du immer? Andere Zeiten, andere Sitten«, spottete Johanna schmunzelnd und beobachtete, wie ihre Urli zustimmend zurücklächelte. Magdalenas Augen glänzten zufrieden im Licht der Straßenlaterne, ohne auf ihre Stricknadeln zu sehen, die Masche um Masche gleichmäßig aneinanderreihten. Schweigend blickten beide Frauen zur Allee mit ihren kahlen Bäumen hinunter, die zuerst gerade auf das Stadttor zulief und sich danach in weiten Bögen bis an die Naab schlängelte.

Unvermittelt sprach Magda, als brächte sie einen längeren unausgesprochenen Gedankenaustausch zum Abschluss: »Zeig es ihnen. Lass dir deine Taten nicht verbieten, sie sind die Konsequenz deiner Gedanken – handle so, dass DU auf dich selbst stolz sein kannst. Aber schade niemandem dabei.«

Sie griff nach Johannas Hand, die ihr gegenüber auf der Armlehne des Schaukelstuhls lag, und legte ihre Finger in deren Handfläche, während der Ballen auf dem Handrücken ruhte. Johanna spürte, wie durch Urlis Berührung Energie in sie strömte.

Von der Naabinsel herauf wühlten sich zwei schmale Lichtkegel durch die Nacht. Mit klapperndem Motor hielt der Wagen vor Johannas Kameratasche und der Thermoskanne. Ohne Worte ließ Magda ihre Urenkelin gehen und drückte zum Abschied ihre Hand. Ein Lächeln erwiderte den Gruß. Skepsis, Trauer und Stolz konnte Magdalena in Johannas Augen erkennen, bevor sie ruhig in würdevoller Haltung den warmen, dunklen Raum verließ.

Johanna schien es, als ob sie mit jedem Schritt nach draußen erneut Nervosität einsammelte. Auf der Straße atmete sie schwer aus und noch schwerer ein, ihr Herz schnürte sich zusammen. Ein Gefühl von Übelkeit kletterte langsam vom Magen in ihre Speiseröhre. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen den unwiderstehlichen Drang an, sich übergeben zu müssen.

Inga Müller tänzelte wie ein Boxer auf Johanna zu und deutete mit ihren kurzen Armen ein paar Magenschläge an. Bei dem Größenunterschied der beiden Frauen sah der gespielte Angriff eher wie eine Reihe von Tiefschlägen aus. Für Inga wäre ein südländischer Name angebrachter gewesen. Die Fünfunddreißigjährige verkörperte mit ihrer vor allem in der Oberweite üppigen Figur, den langen, glänzend schwarzen Haaren und mit ihrem überschwänglichen Temperament eher den Typ einer italienischen Mama, die abends lautstark durch die Gassen Roms ihren Sohn Angelo zum Essen ruft, als den des nordischen Vamps, an den manche beim Klang ihres Namens denken mochten.

Sybille, Johannas engste und beste Freundin, lud inzwischen Fototasche und Thermoskanne, die verwaist auf dem Gehweg standen, in den Kofferraum ihres bunten Autos. Auf der Rückbank des zweitürigen Kleinwagens saß Heidrun Schottenhamml mit ihrer zwölfjährigen Tochter Johanna, die jeder nur Jo nannte. Nur ihre Mutter nannte sie Hanna oder, wenn sie Strenge demonstrieren wollte, Johanna. Inga kletterte durch die Beifahrertür nach hinten. Wie bei jeder gemeinsamen Fahrt durfte Johanna wegen ihrer langen Beine vorne sitzen.

Sie erreichte Sybille zu spät, um beim Einladen zu helfen. Die verschlafen wirkende Freundin tätschelte ihr zur Begrüßung sanft den Rücken. Sie hielt einen Moment inne, als der Schein der Straßenlaterne Johannas Gesicht beleuchtete. »Dir ist schon klar, dass wir zu einer Platzbesetzung fahren?«

»Na klar. Wieso?«

»Mein’ ja nur. Die Beamten, die dich festnehmen, werden sich freuen und dich vor Schreck gleich wieder laufen lassen, die haben wahrscheinlich noch nie eine so gut geschminkte Demonstrantin gesehen. Hast du unter deinem Anorak ein Abendkleid?«, neckte Sybille grinsend.

Johanna zeigte ihre Zunge. »Lach du nur.«

Die Freundinnen schlugen fast gleichzeitig die Fahrzeugtüren zu. Bevor die Fahrerin den Zündschlüssel umdrehte, hielt sie mit einer Hand ihren Pass hoch und fragte: »Um sicher zu gehen, habt ihr alle eure Ausweise oder euren Pass dabei? Falls ihr kontrolliert oder verhaftet werdet, müsst ihr euch ausweisen können.«

Alle Insassinnen des Autos riefen: »Ja.«

»Kommt schon, hebt euren Ausweis, wie abgemacht«, forderte Sybille hartnäckig die anderen Frauen auf. Als keine Reaktion kam, setzte sie zornig nach: »Ich fahr nicht eher los.«

Wie auf Befehl brach ein fröhliches Gelächter los. Jede zog ihre Identitätskarte aus einer Jackentasche hervor und wedelte mit dem Papier vor Sybilles Gesicht herum. Gut gelaunt starteten sie in die Nacht. Wie es Ingas Charakter entsprach, unterhielt sie die kleine Gesellschaft mit Anekdoten aus ihrem Umfeld und Familienleben, indem sie Personen gekonnt komödiantisch überzeichnete und ins Groteske zog. Mit ihren Witzen heiterte sie ihre Gefährtinnen auf und löste deren innere kalte Anspannung. Inga war als Spaßvogel bekannt, aber keine der Frauen hatte sie bis zu diesem Morgen so aufgedreht gesehen; ihre gute Laune steigerte sich fast ins Hysterische. Kurz nach Pfreimd unterbrach sie plötzlich ihre unter dem Gelächter ihrer Mitstreiterinnen zum Besten gegebene Franz-Josef-Strauß-Parodie und schrie ihre Fahrerin an: »Halt an! Schnell, halt an!«

Beherzt trat Sybille auf die Bremse und brachte das Fahrzeug gekonnt in einer Feldwegeinfahrt zum Stehen. Kaum hatte Johanna den Wagen verlassen, drängte Inga sich schon unter Einsatz ihrer Ellenbogen an ihr vorbei, beugte sich weit über die Leitplanke und gab ihren Mageninhalt an ein leeres, umgepflügtes Kartoffelfeld weiter. Mit jedem Würgen entlarvte sie ihre aufgesetzte Heiterkeit. Jede der Freundinnen verstand, dass Inga auf die für sie passendste Art mit Fröhlichkeit versucht hatte, ihre Angst zu überspielen.

Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort

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