Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 16
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Naabwenden, Herbst 1983
Mit schnellen Schritten vergilbten die warmen und langen Tage des Frühherbstes. Um die Atmosphäre und das vielfältige Farbenspiel der im Herbstkleid leuchtenden Laubbäume einzufangen, war es nach den langen Arbeitstagen im Geschäft zu spät. Für farbenprächtige Landschaftsaufnahmen blieben Johanna nur der Samstagnachmittag und der Sonntag oder ihr freier Tag, wenn sie nicht gerade im Fotostudio ihres Onkels Markus Ruider aushalf.
Die wenigen Stunden, die sie in letzter Zeit mit ihrer allerbesten Freundin, ihrer Spiegelreflexkamera, verbrachte, waren regnerisch und neblig. Nur zweimal hatte sie während dieser Ausflüge den Auslöser gedrückt. Sie streifte alleine durch die melancholische, regenkalte Oberpfälzer Landschaft. Irgendwo zwischen den Gräsern und Sträuchern sprangen zwei blinde Passagiere auf sie über. Einen von ihnen, eine Zecke, entfernte sie am Abend problemlos. Den anderen trug sie weiter mit sich: Es war eine Unruhe, wie eine blasse, weit entfernte Melodie, die näherkommt, auch wenn sich jeder Schritt von ihr entfernt. Doch irgendwann erreicht sie ihr Ziel: das Herz. Für Johanna war es eine bluesige Melodie. Wie ein Ohrwurm fraß sich die Kräfte aufzehrende Melancholie in sie hinein. Diese Schwermut säte Unfrieden.
Uneins mit sich selbst rang Johanna bis tief in den Herbst hinein mit Vergangenheit und Zukunft – sie spürte eine wachsende Unzufriedenheit mit der Welt, insbesondere mit Naabwenden und mit ihrem Leben, und fühlte sich auf eine ihr selbst noch nicht ganz verständliche Weise beengt in ihren Häuten.
Johanna glaubte, der Mensch habe nicht nur seine äußerliche Haut. In ihrer Vorstellung trug er darunter noch viele Häute, wie eine Zwiebel. Mit ihrem Außenmantel war sie völlig einverstanden – es waren ihre vielschichtigen inneren Häute, von denen einige sich zu eng anfühlten, andere erst noch gefüllt werden wollten. Die dünne Schicht, die ihre Kreativität darstellte, brach an vielen Stellen unkontrolliert auf und suchte im fotografischen Ausdruck neue Formen. Am schlimmsten fühlte sie sich in ihrer schlaff herunterhängenden Intellektuellenhaut. Jeder Tag in der Metzgerei laugte ihren Geist aus. Oft hatte sie das Gefühl, ihre Intelligenz werde wie eine Weißwurst ausgezuzelt, und befürchtete, dass am Ende nur eine leere Hülle übrigbleiben würde, die Weißwurst essende Kunden bediente.
Immer häufiger fragte sie sich, was sie eigentlich hier hielt. Sie hätte ihre Koffer packen und einfach die Stadt verlassen können, sie hätte genügend mögliche Standbeine, so dass es ihr in der Ferne an nichts fehlen würde. Finanziell wäre sie durch die Fürsorge ihrer Mutter abgesichert, beruflich könnte sie überall als Fotografin ein Auskommen finden. So oft sie sich fragte, was sie hier hielt, so oft kam sie zum immer gleichen Ergebnis: Sie wusste es nicht.
An einem dieser Herbstabende regte sich wieder die tiefe innere Unzufriedenheit. An Lesen war nicht zu denken, ein innerliches Kribbeln ließ ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen. Um sich abzulenken, beschloss sie, den räumlich greifbaren Ballast, der sich in Form von Zeitungen, Briefen und anderem Kram im Laufe des Jahres auf der Fensterbank, in überquellenden Bücherregalen und Schubkästen angesammelt hatte, auszusortieren. Der schwierigsten Arbeit, den vollen Schrankkästen, schenkte sie vorerst nur ihre gedankliche Aufmerksamkeit. Johanna wusste aus Erfahrung, dass sich offensichtliche Unordnung schneller aufräumen ließ als jene, die sich in verschlossenen Schüben, Fächern und Kartons befand. So begann sie mit den ungeordneten Stapeln auf den Bücherregalen.
In einem bunt zusammengewürfelten Haufen von Zeitungen, Prospekten und Flugblättern entdeckte sie die Broschüren von der Herbstausstellung in Schwandorf wieder. Sie sortierte die Handzettel und Hochglanzbroschüren über die geplante WAA in Wackersdorf aus und legte sie auf ihr Nachtkästchen, auf dem sie dann noch mehrere Wochen ungelesen einstaubten.
Ein paar Tage vor Weihnachten stand Johanna vor ihren Bücherregalen, das eben ausgelesene Buch noch in der Hand. Während sie »Die toten Seelen« von Nikolai Gogol in die enge Lücke zwischen »Anna Karenina« und »Der Hund der Baskervilles« zwängte, fragte sie sich, welche Lektüre sie durch diese und die nächsten Nächte würde begleiten dürfen.
Ein neues, ungelesenes Buch stand ihr im Moment nicht zur Verfügung, in letzter Zeit war sie weder in der Stadtbücherei noch in einer Buchhandlung gewesen. Mit schnellen Blicken streifte sie die Reihe mit klassischer Literatur und blieb für einen Moment im darunter liegenden Regalfach hängen. Nach einem Bildband greifend, sah sie aus dem Augenwinkel einen ihrer zahlreichen Reiseführer über Ägypten. Das Titelbild weckte in Johanna die Erinnerung an herrliche und traurige Stunden mit Betty. Aus den Tiefen ihrer Vergangenheit hörte sie ihre Stimme »Sellafield« flüstern.
Sie wandte sich dem Wust von Papieren auf ihrem Nachtkästchen zu, ging hinüber, blies die dünne Staubschicht vom ersten Handzettel, setzte sich ins Bett und begann zu lesen. Im Stapel befanden sich zwei verschiedene Sorten von Informationsmaterial. Von der ersten Art war sie anfangs besonders beeindruckt: Professionelle, aufwändig gestaltete Hochglanzbroschüren. Meistens zeigte deren Titelseite eine idyllische, flurbereinigte bayrische Landschaft, häufig standen darin ein barocker Kirchturm und ein betonierter Kühlturm eines Kernkraftwerkes, einander einträchtig ergänzend, Seite an Seite. Ein weiteres beliebtes Motiv war ein pflügender oder Heu wendender Traktor im Vordergrund mit einem Kühlturm gleich dahinter. Welches Bild auch immer die Vorderseite zierte, jedes verkörperte Tradition und Zukunft – genau so, wie die bayrische Landesregierung das Land Bayern gerne darstellte.
Johanna gefielen die gut ausgeleuchteten Bilder auf den Innenseiten, ganzseitige Fotos vom technischen Innenleben eines Kernkraftwerkes oder einer Wiederaufarbeitungsanlage. An der Gestaltung dieser Werbeschriften fiel ihr besonders auf, dass sie neben den Bildern nur sehr knappe Texte enthielten. Abgesehen von den Bildunterschriften und dem Impressum bestand eine solche Broschüre nur aus ein bis zwei beschriebenen Seiten. In wenigen Absätzen wurden die Vorteile von Atomenergie beschrieben. Auf der letzten Seite prangten plakativ, wie die Zehn Gebote in Stein gemeißelt, Dutzende von fett gedruckten Zeilen mit technischen Daten. Johanna fiel eine große Ähnlichkeit mit Autoprospekten auf: Auch in den Broschüren in ihrer Hand fiel häufig das Wort ›Sicherheitsstandard‹, doch im Gegensatz zur Autowerbung wurden hier keine Sicherheitsmaßnahmen wie Bremskraftverstärker, Servolenkung oder Airbag aufgezählt.
Die zweite Gattung der Papiere bestand aus doppelseitig bedruckten Blättern. Die auf preiswertem Papier kopierten, in ihrer Dichte erdrückenden Texte wirkten sperrig und hölzern. Es schien, als ob viele der Sätze miteinander einen Wettkampf austrugen, welcher von ihnen die meisten Informationen aufnehmen und wiedergeben konnte, ohne ein zweites oder drittes Mal gelesen werden zu müssen. Auch auffällige Layoutfehler trugen dazu bei, dass der Leser sich nur zaghaft an die schwer verdaulichen Worte wagte. Aber im Gegensatz zu den Hochglanzprodukten wiesen diese Informationsblätter auf die Gefahren und Risiken der Kernenergie hin.
Nachdem Johanna sich durch etwa drei Viertel ihrer willkürlich zusammengesetzten Lektüre gearbeitet hatte, konnte sie keine Entscheidung treffen, wem oder was sie Glauben schenken durfte.
Sie fragte sich, wo die Unwahrheit in den perfekt gestalteten Hochglanzbroschüren lag. Klang nicht schon automatisch Wahrheit mit, wenn die bayrische Landesregierung als Urheber verantwortlich zeichnete? Johanna war mit der Überzeugung aufgewachsen, dass alles, was die CSU und vor allem Franz Josef Strauß zum Wohle Bayerns wollten, nicht verkehrt sein konnte.
Aber wo lag dann die Lüge in den Handzetteln, die von den WAA-Gegnern verteilt wurden? Oder gab es gar keine endgültige Wahrheit?
Auf jeden Fall stand für sie nach der Lektüre außer Frage, dass ein Atomunfall schwere Schäden für die gesamte Bevölkerung anrichten konnte. Würde die Staatsregierung es zulassen, dass ein Unternehmen, das Strahlungsschäden verursachen konnte, in Betrieb ginge? In den Schriften der DWK, der Betreiberfirma der WAA, schrieb man in Fettdruck mit wenigen Zeilen von hohen Sicherheitsstandards. Was damit konkret gemeint war, stand in keiner Zeile. Mit dem Wort ›Sicherheitsstandard‹ schlummerte Johanna ein. Die Träume, die sie in dieser Nacht hatte, enthielten keinen Hinweis darauf, dass sich in den nächsten Tagen zwei Dinge ereignen würden, die ihr Leben entscheidend verändern würden.
Unausgeschlafen durchquerte Johanna nach einer unruhigen Nacht gegen sieben Uhr morgens den leeren Schlachtraum. Wie so oft an schlachtfreien Tagen war sie um diese Uhrzeit die Einzige im Betrieb.
Sie durchschritt den Raum. Erst nach einigen Schritten bemerkte sie den nassen Fußboden. Ein seichter See breitete sich bis zu den gekachelten Nebenräumen aus. Die Sanitärräume, Toiletten und Duschen, und ein großer Abstellraum waren durch eine schwere Schiebetür vom hygienisch sensiblen Metzgereibereich abgetrennt. In dem Abstellraum befanden sich neben einer Waschmaschine, in der die ganze Betriebswäsche gewaschen wurde, ein Trockner, ein Bügelbrett und eine Vielzahl von Putzutensilien.
Johanna ahnte, was sie hinter der Tür erwartete. Mit einem beherzten Ruck schob sie sie beiseite, und ein Strom von Wasser umspülte ihre Füße. Für einige Augenblicke blieb sie einfach stehen und ergab sich machtlos den Wassermassen. Einige treibende Gegenstände stießen an ihre Beine.
Mit nassen Schuhen stieg sie kurz darauf die Treppe des Wohnhauses hinauf und meldete ihrem Chef und Vater in der Metzgerei ›Land unter‹.
Der herbeigerufene Installateur, der erst vor einigen Wochen neue Leitungen und Rohre verlegt hatte, stellte einen Rohrbruch fest. Auf die Frage, wie das trotz neuer Kunststoffrohre habe geschehen können, sagte er nur: »Verstehen’s, nichts ist perfekt. In der Fabrikation braucht nur eine kleine Luftblase oder ein kleines, kaum sichtbares Steinchen hineingekommen sein, und schon ist es passiert. Man kann noch so sauber arbeiten, es passiert halt.«
Das zweite Ereignis, das Johanna aufrütteln und Licht in ihre offenen Fragen bringen sollte, geschah ein paar Tage nach der durchgelesenen, unverdaulichen WAA-Marathonnacht. Wie an jedem Samstag nach Ladenschluss kehrte Johanna den Gehweg vor dem Geschäft. Von Weitem hörte sie Helene lauthals lachen. Sie schaute auf und sah, wie der vor Kichern zuckende Körper ihrer Freundin das Fahrrad, das sie den Berg hinaufschob, rhythmuslos tanzen ließ. Helene grinste Johanna schon aus einigen Schritten Entfernung mit Lachtränen in den Augen an und platzte schallend heraus: »Du wirst es nicht glauben …«. Erneut überkam sie eine heftige Welle ihres Lachanfalls, Tränen des Vergnügens schossen aus beiden Augen. Wieder setzte sie zum Sprechen an: »Du wirst …«, aber ein wildes Grunzen unterbrach sie zum zweiten Mal. Kopfschüttelnd blickte Johanna sie fragend an: »Was ist so komisch?«
Eine Art Wiehern aus Helenes Kehle brach einen Antwortversuch ab. Johanna zeigte auf Besen und Kehreimer und sagte: »Während ich das Zeug hier aufräume, kannst du nach oben gehen und dich beruhigen.«
Japsend stieg Helene langsam die Treppe zum Dachgeschoss hinauf, immer wieder von einem Lachkrampf am Weitergehen gehindert. In Johannas Zimmer ließ sie sich rücklings aufs Bett fallen und versuchte sich zu entspannen.
Etwas später kam Johanna zu ihr. Sie setzte sich aufs Bett, sah sie an und wartete.
Immer noch lachend setzte Helene erneut an: »Du wirst es nicht glauben, was heute passiert ist. Mein Vater, der Autofreak und Bastler …« wieder schnappte sie nach Luft und wischte sich Lachtränen aus dem Gesicht.
Johannas früheste Erinnerungen an Helenes Vater brachten ihn mit schmutzigen, ölverschmierten Händen in Verbindung. Bei ihren unzähligen Besuchen sah sie Herrn Huber meist nur kopflos, denn er lag die meiste Zeit unter einem Wagen oder steckte kopfüber in einem Motorraum. Einmal hatte er ihr erzählt: »Für mich ist das Montieren und Herumschrauben an einem Fahrzeug eine Art Ausgleichssport zu meinem Bürojob. Es gibt einige Spinner, die laufen sich nach Feierabend die Seele aus dem Leib. Da hole ich mir lieber ein altes Modell vom Schrottplatz, um es wiederherzurichten.«
Johanna nahm Helene in den Arm und legte eine Hand auf ihren Bauch. »Komm, atme tief durch und fang ganz von vorne an«, forderte sie ihre überdrehte Freundin auf. Helene beruhigte sich von einem Moment auf den anderen.
»Du kennst doch meinen Vater, wie penibel er ist. Nichts entgeht seinem Adlerauge. Du weißt ja, wie er sich aufregen kann, wenn jemand etwas übersieht oder eine übertragene Aufgabe vergisst. Erinnerst du dich noch, wie er explodierte, als meine Mutter vergessen hatte, zu tanken, und deshalb unterwegs stehen blieb?«
Johanna nickte zustimmend.
»Und heute …« Ein erneutes Auflachen stoppte Helenes Redefluss. Stockend erzählte sie weiter: »… und heute blieb er mit dem Wagen liegen. Und weißt du, warum?«
»Kein Benzin?«
Mühsam brachte Helene zwischen ihrem Lachanfall hervor: »Nein, … noch … besser. Wenn es nur das gewesen wäre – er hat doch tatsächlich vergessen, das Motoröl nachzufüllen! Du hättest ihn sehen sollen. Er stand da, zog die Schultern hoch und meinte lakonisch ›Nobody is perfect‹. Du hättest ihn sehen sollen! Herrlich!«
Wieder schüttelte sie sich vor Lachen.
Am Abend saß Johanna wie jeden Samstag in der Vorabendmesse. Noch bevor Pater Simon den Altarraum betrat, dachte sie an die Woche zurück. Entspannt und guter Dinge saß sie an ihrem angestammten Platz oben auf der Empore. Immer wieder mischte sich das Wort ›Sicherheitsstandard‹ in ihre Gedanken. Auch als ihr der heutige Nachmittag mit Helenes Erzählung ins Gedächtnis kam, war es da. In der Erinnerung an den Wasserrohrbruch tauchte es wieder auf. Bis zum Ende von Pater Simons Predigt schwirrte das Wort in ihrem Kopf herum wie ein Schwarm lästiger Mücken.
Die langweiligen Worte aus dem Chorraum der Kirche störten plötzlich Johannas Konzentration. »Nur Gott allein hat alles unter Kontrolle. Nur er weiß, was er tut und warum. Auch wenn wir Menschen es nicht einsehen wollen. Wir sind nicht vollkommen, ohne seine Gnade bleiben wir unvollkommene Sünder. Nur der Herr hat die Möglichkeit, uns zu vergeben«, hörte sie Pater Simons Predigt in ihre Gedanken einbrechen.
Diese Sätze von unten brachten Licht in ihre Überlegungen. Jetzt ergab das Wort ›Sicherheitsstandard‹ einen Sinn. Nichts ist sicher. Nicht einmal der Tod – denn Jesus hat ihn bekanntlich überwunden.
Mit einem überwältigenden Gefühl der Erkenntnis verließ Johanna die Kirche.