Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 14

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Oberpfalz /Naabwenden, September 1983

Frisch geduscht und dezent geschminkt stand Johanna siebenundfünfzig Minuten nach der Rückkehr von der Herbstmesse vor dem Spiegel. Sie suchte passende Ohrringe zu dem eng geschnittenen, ärmellosen schwarzen Kleid, das sie trug. Während es vorne hochgeschlossen war, unterstrich es besonders ihre femininste Seite, die Rückenpartie, mit drei waagerecht eingesetzten Spaghettischnüren, die wie Leitersprossen wirkten. Ansonsten reichte der hintere Ausschnitt fast bis zur Taille. Das Kleid ähnelte dem, das Audrey Hepburn in ›Frühstück bei Tiffany‹ weltberühmt gemacht hatte.

Johanna hatte Spaß daran, sich zum Ausgehen wie eine Hollywooddiva zu kleiden. Sie liebte es, herausgeputzt die ganze Nacht durchzutanzen und feuchtfröhlich zu feiern. In dem Freundeskreis, in dem sie sich bewegte, gab es nur wenige junge Männer, die freiwillig tanzten – wenn sie sich überhaupt einmal auf die Tanzfläche begaben, dann entweder, weil sie von ihren Freundinnen förmlich dort hingeschleift wurden, oder weil sie versuchten, eine attraktive Frau zu beeindrucken oder sie schlichtweg aufzureißen.

Für Johanna war dieses Tanzverhalten ein Glücksfall. Es gab selten ein männliches Wesen, das auf der Tanzfläche ihre Nähe suchte – für die meisten war sie ganz einfach zu lang, und selbst die männlichen Besucher, die sie körperlich überragten, fühlten sich nicht von ihr angezogen. So konnte sie ihrer Tanzlust freien Lauf lassen, ohne von jagenden Männern plump angemacht zu werden. Sie bewegte sich lieber alleine im Rhythmus der Musik, oder mit einer Freundin oder einer Bekannten, der es ebenso wenig ausmachte wie ihr, mit einer Frau die Hüften zu schwingen. Es waren sowieso mehr weibliche Tanzpaare auf der Fläche zu sehen als gemischte Paare. Tanzen hatte für Johanna keine sexuelle Bedeutung, es ging ihr nicht wie den meisten gemischten Pärchen um erotisch anregende Berührungen. Darum war es für sie nicht dramatisch, Tänze, die zum Schwofen einluden, auszulassen; für sie zählte nur die pure Lust an der Bewegung.

Die alte Standuhr, die sieben Minuten vorging, schlug sieben. Johanna zog sich eine Jacke über und griff nach dem grobgliedrigen silbrig-metallenen Träger ihrer schwarzen Handtasche. Auf dem Weg nach unten begegnete ihr niemand, was um diese Zeit nicht ungewöhnlich war. Der Kombi parkte noch vor dem Haus, denn nachdem sie von ihrem Messe-Ausflug so spät zurückgekommen war, hatte sie ihn nicht wie gewohnt zurück in die Familiengarage eine Querstraße weiter unten gestellt.

Ihre Handtasche, die sie beim Einsteigen mit etwas zu viel Schwung auf den Beifahrersitz warf, hüpfte wie bei einem schrägen Sprung auf einem Trampolin wieder vom Polster hoch, prallte ans Seitenfenster und fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. »Hey, hey, hey, du brauchst dich gar nicht so zu hetzen, es hat noch nicht mal zusammengeläutet«, ermahnte sie sich. Während sie den Motor startete, riefen die Glocken der Barbara-Kirche zum Gottesdienst.

In der Kirche eilte sie die schmalen hölzernen Stufen zur Empore hinauf. Johanna empfand den Vorabendgottesdienst als entspannend. Als Kind hatte sie den Kirchenbesuch als lästige Pflicht angesehen, heute waren die 41 Minuten, die Pater Simon, der Pfarrer in St. Barbara, für die Messfeier brauchte, für sie ein Genuss für Körper und Seele – wobei sich der Genuss allerdings auf die 41 Minuten beschränkte, in denen sie Ruhe fand, und nicht etwa die Predigt betraf. Helene hatte einmal behauptet, dass die Predigten des Paters wie abgestandenes Wasser rochen.

Johanna stand automatisch auf oder kniete nieder, wenn die rituellen Abläufe des Gottesdienstes es erforderten, aber ansonsten war sie in sich zurückgezogen. In der Ruhe des Gesangs und der altbekannten Gebete konnte sie nachdenken und ihren Gedanken ungehindert Flügel verleihen, um zu sehen, wohin sie trieben.

An den meisten Samstagabenden ging sie, wenn sie nach der Messe das Gotteshaus verließ, hinüber zur anderen Straßenseite, um in ihrer Stamm-Pizzeria ›Napoli‹ Blanca, Helene und ihre anderen Freunde zu treffen. Während eines guten italienischen Essens mit einem oder zwei Gläsern Rotwein planten sie, wie und wo sie den Rest der beginnenden Nacht verbringen konnten.

Heute Abend brach Johanna die Gewohnheit und sammelte nach der Messe Blanca und Helene der Reihe nach mit ihrem Wagen ein. Denn sie wollten vor dem Tanzen noch nach Pfreimd fahren, um sich den Film ›Die flambierte Frau‹ anzusehen, von dem bereits seit Wochen jeder sprach. Kino war neben Tanzen und Faulenzen Johannas drittliebste Freizeitbeschäftigung, wenn man vom Lesen, Reisen und Fotografieren absah.

Als Blanca auf der Beifahrerseite ins Auto stieg, setzte sie unvermittelt die Giftattacke vom Nachmittag fort: »Wie siehst du denn aus?«

»Wieso? Wir wollen doch nachher noch in die Disco, oder?«

»Man könnte glauben, du wolltest nicht ins Kino, sondern wartest auf Freier.«

»Hey, in meinem Kleid sehe ich wenigstens nicht so billig aus wie du in deinen Second-Hand-Klamotten!«, biss Johanna zurück.

Helene, die hinten eingestiegen war, erkannte sofort, dass sich aus dem Stimmungstief vom Nachmittag ein Sturm zusammenbraute. Sie hob ihre Arme wie ein flehender Priester und stimmte einen monotonen Singsang an: »Herr, schütte Regen auf die erste Reihe in diesem von dir gegebenen Fahrzeug, damit sich die heißblütigen Gemüter dieser jungen Damen, die sich wie dumme Gänse benehmen, abkühlen mögen – Amen.«

Helene war sichtlich erleichtert, als sie nach der sechseinhalb Minuten langen Fahrt, die sich wie eine Ewigkeit hinzog, aus dem Wagen klettern konnte. Aus dem beginnenden Sturm war eine Eiszeit geworden.

Das Filmtheater, wie es auf der Lichtwerbung hieß, war fast ausverkauft, obwohl der Film in den umliegenden Provinzstädten wie Weiden oder Schwandorf bereits vor Monaten gezeigt worden war. Das Kleinstadt-Kino in Pfreimd war für die Filmwirtschaft trotz seiner 300 Sitzplätze uninteressant, aus diesem Grunde liefen hier alle Filme drei oder vier Monate später als in den großen Kinos wie in Regensburg oder München an. Trotzdem war es für die Jugendlichen in den Ortschaften und Dörfern um Pfreimd das höchste der Gefühle, denn es war das einzige Filmtheater im Umkreis von 30 Kilometern.

Vom Film verstört und irritiert trat das Trio nach dem Abspann die Flucht nach vorne an. Unterwegs zum nächsten Vergnügen diskutierten sie heftig über das Gesehene. Weit mehr Spaß als der Film versprach die Tanznacht im ›Babylon‹, dem Discotempel in dem benachbarten Städtchen Nabburg.

Uneingeschränkt gaben sich die drei dem berauschenden Rhythmus der Musik hin. Auch heute beherrschte eine Übermacht an tanzwilligen Frauen das Lokal.

Weit nach ein Uhr winkte Helene Johanna von der Tanzfläche. »Blanca sitzt da hinten und lässt sich volllaufen, sprich mal mit ihr. Auf dich wird sie hören. Mir reicht es für heute, ich fahr mit meinem Bruder nach Hause«, sagte sie und verabschiedete sich mit einer kurzen Umarmung von ihrer Freundin.

Johanna ging schweren Herzens zu Blanca. Sie wusste, wenn etwas an Blanca nagte, konnte sie sehr zornig werden, und ihre Wutattacken waren gefürchtet.

»Na, was ist los? Wie geht es dir?«, begann Johanna vorsichtig.

»Geht dich einen Scheißdreck an.«

»Trink nicht so viel.«

»Was geht es dich an, wie viel ich trinke? Tu nicht so auf Moral. Ich tu nichts Unanständiges …«, antwortete Blanca in einem angetrunkenen Tonfall. Sie starrte in Johannas Augen und hauchte ihr mit den Worten » … aber du« ihre Alkoholfahne ins Gesicht.

Johanna fand die Anschuldigung erheiternd. »Ach ja? Was mach ich denn für unanständige Dinge?«

»Es gibt keinen Rock, den du nicht anmachst. Hat dir das Flittchen in Ägypten nicht gereicht? Du ekelst mich an.«

Blanca setzte zum Trinken an, aber noch bevor sie das Glas an die Lippen setzen konnte, nahm Johanna es ihr ab und trank es in einem Zug aus.

»Miststück!«, rief Blanca und stürmte zornig davon. Johanna, die dachte, ›Soll sie doch sehen, wie sie heimkommt‹, blieb alleine zurück.

Ein paar Wochen vor ihrer Ägyptenreise war es zur Gewohnheit geworden, dass Blanca nach dem Tanzen bei Johanna übernachtete. Heute Nacht würde sie wohl oder übel ohne Körperkontakt auskommen müssen.

Johanna war immer auf der Suche nach Berührungen. Welche Art des Körperkontakts war nebensächlich, Hauptsache er war zärtlich. Manchmal genügte es ihr, wenn irgendjemand eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich. Genauso wichtig wie die Liebkosungen, die sie sich erhoffte, war es ihr, Zärtlichkeit zu schenken; dennoch konnte sie echte Liebe selten genießen. Am meisten verschwendete sie ihre Liebe an Menschen, die sie von ihr nicht haben wollten. Ihre Familie war das Musterbeispiel für diese Ablehnung. Manchmal fragte sie sich, ob sich ihre Gefühle ebenso entwickelt hätten, wenn damals nicht der Lebensräuber, der Tod, ihre Mutter aus ihrem Leben gerissen hätte und mit ihr all die Geborgenheit und Liebe, die sie ihrer Tochter Johanna geschenkt hatte.

Tanzen war eine Möglichkeit, ihre Sucht nach Berührung zu befriedigen, aber die intimste Berührung war noch nicht vergessen. Es war am Morgen nach der ersten Liebesnacht mit Betty gewesen. Johanna war unbekümmert erwacht und spürte, wie Bettys Körper fest an sie geschmiegt ihre Form imitierte. Sanft ruhte ein Arm der schlafenden Anwältin auf ihrer Hüfte. In diesem kurzen Moment hatte Johanna sich geborgen gefühlt. Nach vielen kalten Jahren des Herumwanderns in einer offenen Gefühlssavanne hatte sie für wenige Stunden ein Obdach gefunden.

Und wegen Blanca, dieser eifersüchtigen Närrin, sollte sie auf dieses Gefühl verzichten und es aus ihrem Gedächtnis streichen? Nein!

Nicht einmal sich zu betrinken machte jetzt noch Spaß. Leicht benebelt verließ Johanna die Disco. Ein auffrischender Wind fegte in ihr Gesicht. Die angenehme Brise war nicht nur eine Wohltat auf ihrer Haut, sie kühlte auch den Zorn in ihren Gedanken ab. Mit jedem Schritt, den sie zu ihrem Auto hinunterging, strich sie Blanca mehr und mehr aus ihrem Kopf.

Unten am Wagen nahm sie eine Decke aus dem Kofferraum und klappte die Rückbank um. Johanna, die sich nach der bestandenen Führerscheinprüfung vorgenommen hatte, niemals angetrunken zu fahren, legte sich an Ort und Stelle schlafen. Mit verworrenen Gedanken schlief sie ein. Im Morgengrauen erwachte sie, stand auf und fuhr nach Hause.

Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort

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