Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 20

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Naabwenden, Donnerstag 31. Mai 1984 – Christi Himmelfahrt

Johanna ging den ebenen, mit Kies belegten Weg auf eine großflächige weiße Hauswand mit zwei kleinen Fenstern und einer verspiegelten Glastür zu. Aus dieser Perspektive konnte sie das Dach, das nach Süden ausgerichtet war, nicht erkennen.

Noch als sie vor der Haustür stand, die von drei schmalen, ebenfalls verspiegelten Fenstern eingerahmt war, fragte sie sich, warum die BI-Vorsitzende sie gestern zum Kaffee herbestellt hatte. Ihre Stimme hatte am Telefon unnatürlich sachlich und geschäftlich geklungen.

Johanna suchte an der Wand nach einer Klingel und fand lediglich ein Tau, das zwischen den Glasflächen des Eingangsbereiches hing. Versuchsweise zog sie daran und hörte aus dem Inneren des Hauses zwei unterschiedlich klingende Glocken nach den Bewohnern läuten.

Sybille Zintl öffnete abgehetzt die Tür. Johanna trat ein und stand auf dem Absatz eines Treppenhauses. Erstaunt rutschten ihr die Worte »Seltsame Architektur« aus dem Mund.

Sybille Zintl lachte. »Vermutlich haben sich das schon sehr viele Leute gedacht, aber bis jetzt hat es sich noch niemand auszusprechen getraut. Bin gespannt, was du sagen wirst, wenn du den Rest gesehen hast.«

Johanna suchte nach entschuldigenden Worten. Ihre Gastgeberin lachte abermals hell auf, als sie das rot leuchtende Gesicht der Besucherin sah. Sie zeigte auf acht Stufen, die nach unten führten, und sagte: »Schon gut. Hier entlang.«

Johanna folgte ihr am Treppenabsatz durch eine Schiebetür in einen lichtdurchfluteten Raum.

»Entschuldige mich kurz. Gerade bevor du geläutet hast, bekam ich einen wichtigen Anruf. Setz dich und fühl dich wie zu Hause, bin sofort zurück«, sagte Sybille Zintl und eilte über eine Wendeltreppe ein Stockwerk nach oben.

Johanna sah sich im Zimmer um. Vor ihr erstreckte sich eine fünfteilige Fensterfront, die vom Boden bis zur Decke über dreieinhalb Meter maß. Je länger Johanna ihre Blicke umherschweifen ließ, desto mehr Merkwürdigkeiten fielen ihr auf. An der Rückwand führte eine sechsstufige Treppe zu einer weiteren Schiebetür hinauf. Neben dem Aufgang schloss sich ein Monstrum von einem Kachelofen an.

Johannas Blick fiel auf eine kleine Kommode, die an der Wand gegenüber stand. Es war nicht die ungewöhnliche Form des Möbelstücks und auch nicht die schöne Holzmaserung, die sie anzog, sondern eines der Bilder, die in unterschiedlich großen Rahmen darauf standen. Erstaunt nahm sie das Foto, das in einem gewöhnlichen Holzrahmen steckte, von seinem Platz. Auf dem Bild posierten zwei junge Mädchen, deren Vertrautheit man ihnen ansah.

»Wusstest du nicht, dass deine Mutter eine enge Freundin von mir war?«, fragte Sybille Zintl, die unbemerkt die Wendeltreppe heruntergestiegen war und nun hinter Johanna stand.

Erschrocken zuckte Johanna zusammen und stieß ein kaum verständliches »Nein« hervor.

»Habe ich dir, als wir im Internat unser ernstes Gespräch führten, nicht erzählt, dass ich sie kannte?«

»Doch, aber …« brach Johanna ab, denn sie hatte nur Augen für ihre jugendliche Mutter.

Sybille Zintl ließ ihr Zeit, das Bild wieder an seinen angestammten Platz zurückzustellen, dann forderte sie ihren Gast auf: »Komm, lass uns in die Küche gehen. Für mich ist sie der gemütlichste Raum auf dieser Etage.«

Über die wenigen Stufen neben dem Kachelofen gelangten sie in die Küche, ein niedrigerer, aber größerer Raum als der, aus dem sie kamen. Im Gegensatz zum Wohnzimmer bestand hier die nach Süden ausgerichtete Fensterfront aus sechs Fensterbahnen. Durch ihre Anlage erschien die Küche zweigeteilt. Im hinteren Teil bildeten die Schränke und das Spülbecken mit dem in der Mitte platzierten Herd den Kochbereich. In der anderen Hälfte des Raumes, in der ein mittelgroßes Ostfenster in den Morgenstunden etwas Licht versprach, stand in der Mitte ein großer runder Holztisch mit zwei Stühlen. An der Fensterwand stand ein dritter Stuhl, auf dem sich eine rot getigerte Katze räkelte.

Sybille Zintl, die Johannas forschendes Gesicht beobachtete, fragte: »Findest du die Architektur jetzt immer noch seltsam?«

Johanna grinste verlegen.

»Mein Mann – er ist Architekt, wie du wahrscheinlich weißt – hat es geplant und gestaltet. Es ist ein energiesparendes Haus«, sagte die Gastgeberin.

Johanna setzte sich an den Tisch und lehnte den angebotenen Kaffee ab. Eingeschüchtert von der ungewohnten Umgebung traute sie sich nicht, stattdessen nach einer Tasse Tee zu fragen.

»Was kann ich dir sonst anbieten?«, fragte Sybille Zintl.

»Nichts.«

»Bist du sicher? Ein Glas Wasser vielleicht?«, blieb die Gastgeberin hartnäckig.

Johanna zögerte kurz und nickte dann zustimmend, denn bei einem Glas Wasser war sie sich sicher, dass es keinerlei Umstände machen würde. Ihr war es zuwider, irgendjemandem Umstände zu bereiten.

Nachdem Sybille Zintl ihr das gewünschte Getränk gereicht hatte, brühte sie für sich Kaffee auf. Währenddessen sagte sie geradeheraus: »Ich war letzte Woche sehr überrascht, dich bei unserer Sitzung zu sehen. Was hat dich veranlasst, zu uns zu kommen?«

»Ich bin gegen Atomkraft«, blieb Johanna weiterhin wortkarg.

»Das sind viele, aber deswegen kommen sie noch nicht zu unseren Sitzungen. Wie kommt eine junge Frau wie du zu diesem Thema?«

Johanna fragte sich, worauf die BI-Vorsitzende hinauswollte. »Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen möchten. Glauben Sie, ich wurde geschickt, um zu spionieren?«

»Nein, das denke ich nicht«, lachte Sybille Zintl. »Aber die Johanna Schön, die ich als Schülerin kannte, würde sich nie und nimmer für Politik interessieren. Reisen, Archäologie und Mode, ja, aber sie hatte keinerlei politisches Verständnis.« Sie lachte erneut und fügte hinzu: »Schwester Remedia würde wohl sagen, ›Johanna Schön, deine Aufmüpfigkeit und dein ungebührliches Aussehen zeigen mir, dass du ein moralisch und sozial verkommener Mensch bist. Gott helfe mir, aus dir ein gottesfürchtiges Wesen zu formen‹.«

Johanna erinnerte sich lebhaft an die Internatsleiterin Schwester Remedia, mit der sie regelmäßig aneinandergeraten war – die Ordensfrau hatte grundsätzlich andere Vorstellungen als die Schülerin, was Mode und dezentes Schminken anging. So hatte sie einmal versucht, Johannas rot geschminkte Lippen abzuwischen, und ihr anschließend den Auftrag gegeben, beim gemeinsamen Mittagsmahl der Lehrerschaft und der Schülerinnen, statt zu essen, Psalmen aus der Bibel vorzulesen. Noch heute konnte Johanna viele Psalmen auswendig.

»Du hast dich wirklich seit der Schule sehr verändert. Ich meine nicht dein Äußeres, auch nicht dein Modebewusstsein. Damals wäre es mir nur nie in den Sinn gekommen, dass du dich jemals für soziale Belange engagieren würdest, geschweige denn dich für Politik interessieren könntest. Wie kommt das?«, bohrte Sybille Zintl erneut. Johanna begriff immer noch nicht, was sie mit ihrem hartnäckigen Nachfragen erfahren wollte. Deshalb erzählte sie ihr in einer Kurzfassung von ihrer Begegnung mit Betty, von dem Infostand bei der Herbstmesse in Schwandorf, und wie ihr dadurch die Gefahren der geplanten WAA bewusst geworden waren.

Unvermittelt fragte Sybille Zintl: »Hast du dieser Betty auch Avancen gemacht, so wie mir damals?«

Jetzt endlich verstand Johanna die Einladung. Ihre ehemalige Lehrerin hatte anscheinend befürchtet, sie sei erneut zum Ziel eines Annäherungsversuches geworden.

»Ich war damals im Internat jung, unerfahren und sehr naiv. Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben – ich wusste gar nicht, dass Sie die Bürgerinitiative leiten, sonst wäre ich wahrscheinlich gar nicht dort aufgekreuzt«, versuchte Johanna sich zu rechtfertigen.

»Gut. Lassen wir also die Geister ruhen.«

»Ich versichere Ihnen, es war nur jugendliche Schwärmerei, weiter nichts. Ja, lassen wir die Geister schlafen.«

Sybille Zintl holte aus einer Schublade einen Zettel hervor und reichte ihn Johanna. »Die Anmeldung für die BI, lies sie dir in Ruhe durch und füll sie aus, wenn du bereit bist, dich uns anzuschließen.«

Während Johanna das Formular durchlas, verschwand die BI-Vorsitzende im Wohnzimmer. Nach einiger Zeit – Johanna hatte bereits den Zettel vollständig ausgefüllt und unterschrieben – kam die Hausherrin mit einem blau eingebundenen Buch zurück. »Nachdem dich vorhin das Foto im Wohnzimmer so fasziniert hat, habe ich hier noch ein paar andere Bilder, die dir vielleicht gefallen werden.« Sie setzte sich neben Johanna und legte das Buch, ein Fotoalbum, auf den Tisch.

»Wie lange waren Sie mit meiner Mutter befreundet?«, fragte Johanna.

»Erstens, da jetzt zwischen uns alles geklärt ist und du offizielles Mitglied der BI Naabwenden bist, schlage ich vor, dass du mich wie alle anderen BI-Leute mit ›Du‹ und ›Sybille‹ ansprichst. O. k.?«

Johanna lächelte kurz und nickte zustimmend.

»Und zweitens kannte ich deine Mutter bereits, bevor wir eingeschult wurden«, fuhr Sybille fort.

Beide blätterten sie Seite für Seite durch die zum Teil schon vergilbten Bilder. Sie lachten und unterhielten sich, als wären sie schon lange Freundinnen. Johanna tat es gut, mit einem anderen Menschen über ihre Mutter reden zu können und vor allem zu dürfen. In ihrer Familie sprach kaum jemand über sie – ihr Vater konnte nicht über seine verstorbene Frau sprechen, und ihre Großmutter wollte nicht. Nach so vielen Jahren des Schweigens hatte Johanna jetzt eine Stimme gefunden, die mal fröhlich, mal melancholisch und dann wieder hoffnungsvoll über die gemeinsam mit ihrer Mutter erlebten Tage erzählte. Dadurch konnte auch sie selbst ihre Erinnerung öffnen, die sie wie einen wohlgehüteten Schatz in sich verborgen hatte. An diesem Nachmittag durfte er in der Gegenwart eines anderen Menschen glänzen.

Nach einer Stunde intensiven Gesprächs war Johanna soweit aufgetaut, dass sie ungeniert fragte, ob sie eine Tasse Tee bekommen könnte. Später auf dem Heimweg fragte sich Johanna, ob Sybille, als die engste Vertraute ihrer Mutter, ihr nicht vielleicht schon längst den Zugang zu ihren Erlebnissen mit Elisabeth Schön ermöglicht hätte, wenn sie nicht im Internat ihre Zuneigung falsch interpretiert hätte. Vielleicht wäre es damals anders gekommen, wenn Johanna verstanden hätte, dass die Sympathie, die die Lehrerin ihr entgegenbrachte, ihren Ursprung in deren tiefer Freundschaft zu ihrer verstorbenen Mutter hatte. Im Gefühlswirrwarr der beginnenden Pubertät hatte sie diese freundschaftliche Zuneigung mit einem Interesse verwechselt, das ihr Anlass zu der Hoffnung gegeben hätte, ihre Verliebtheit könnte erwidert werden.

Zu Hause dann hatte Johanna das untrügliche Gefühl, trotz aller früheren Missverständnisse eine neue Freundin gefunden zu haben. Diese neu gewonnene Freundschaft sollten Johanna und Sybille im Laufe der vor ihnen liegenden Jahre weiter aufbauen und vertiefen.

Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort

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