Читать книгу Gott war dort, aber sie ist schon wieder fort - Kurt F. Stangl - Страница 9
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Naabwenden/Oberpfalz, Dienstag, 7. Januar 1986 / 01.58
Johanna saß, den Blick starr auf eine Teekanne gerichtet, tief in Gedanken versunken am Küchentisch und nahm weder die seichten Melodien wahr, die das Radio spielte, noch den Dampf, der aus einem roten Emailletopf quoll. Sie atmete langsam und tief, um Kraft zu sammeln, und allmählich löste sich ihre äußere Anspannung – nun war sie bereit. Bereit für die bevorstehende Konfrontation, über die sämtliche Medien in den letzten Tagen die wildesten Gerüchte und Spekulationen verbreitet hatten. Demnach würde es im Laufe des Tages zu einer Neuauflage des Kampfes ›David gegen Goliath‹ kommen, wobei das vorherrschende mediale Bild doch einige Unterschiede zur biblischen Erzählung aufwies: Der Gigant würde seine Armeen in die Arena schicken, während der Zwerg ein brutaler Haufen von Krawallmachern sei, die aus der ganzen Republik anreisten, um sich im Wald bei Wackersdorf zusammenzurotten.
»Wie um alles in der Welt kommen die zu solchen Behauptungen?«, fragte sich Johanna. Sie wusste, dass die Bürgerinitiativen gegen eine ›Atomare Wiederaufarbeitungsanlage‹ in Wackersdorf in ihren Aufrufen weder von Gewalt gesprochen noch zu Gewalttaten aufgerufen hatten. Im Gegenteil, jede ihrer Aktionen war bewusst als eine Form von gewaltfreiem zivilem Ungehorsam konzipiert. Diese Aktionen dienten oft nicht allein dazu, ein Zeichen zu setzen, sondern waren gleichzeitig auch hilfreich für die weitere inhaltliche Überzeugungsarbeit. Johanna dachte daran, wie vor einigen Tagen viele Kinder auf dem Gelände Hunderte von Luftballons hatten aufsteigen lassen: Die Reise dieser Ballons sollte sichtbar machen, wie weit und in welche Richtungen die Luftströmungen im Falle des Betriebs einer WAA deren Emissionen von Wackersdorf aus verteilen würden. Aber von solchen Zusammenhängen konnte niemand je eine Zeile in den gängigen Zeitungen lesen. ›Blut verkauft sich eben besser als die phantasievollen Ideen von uns WAA-Gegnern, die zum gewaltfreien Widerstand stehen‹, schloss Johanna verärgert ihren Gedankengang.
Ihre Angst und Wut für den Moment beiseiteschiebend stand sie auf, schaltete fast mechanisch die Herdplatte ab und goss das kochende Wasser aus dem Emailletopf bis zum letzten Tropfen in die bereitgestellte Thermoskanne, in der ein paar Teebeutel hingen.
Ein piepsendes Zeitzeichen löste die Musik von Francis Lais Hit ›Bilitis‹ ab. »Zwei Uhr, hier ist der Süddeutsche Rundfunk im allgemeinen Nachtprogramm der ARD, heute ist der siebte Januar, wir bringen Nachrichten«, verkündete eine monotone Stimme. »Bayern: Auf dem Rodungsgelände der geplanten Atomaren Wiederaufarbeitungsanlage, kurz WAA, in Wackersdorf wird für die frühen Morgenstunden die Räumung des Hüttendorfes, das Hunderte von Kernkraftgegnern besetzen, erwartet. Dazu sagte der bayerische Innenminister: »Die Rodungsarbeiten werden fortgesetzt, das können ein paar radikale Chaoten nicht ändern.«
Johannas Aufmerksamkeit wurde von den Nachrichten abgelenkt, weil sich die Tür öffnete. In einem hellblauen Nachthemd trat ihre Großmutter Anna Schön in die Küche. Sie blinzelte im hellen Licht und rieb sich mit beiden Händen ihre verschlafenen Augen.
»Gehst du wirklich – da runter?«, fragte sie müde, mit einer abfälligen Kopfbewegung Richtung Süden, die Wackersdorf andeuten sollte.
»Ja«, antwortete Johanna kurzangebunden, um einer längeren sinnlosen Diskussion schon im Ansatz aus dem Weg zu gehen. In den letzten Wochen und Monaten schien diese Art von Gesprächen mit ihrer Familie nicht abzureißen, jede Unterhaltung endete in einer Diskussion und immer mit demselben unbefriedigenden Ergebnis. Jedes Mal vertieften sich zwischen ihnen die bereits ausgehobenen Gräben, und jeder Streit fügte neue hinzu. Bei der letzten Auseinandersetzung mit ihrem Vater hatte er sie gewarnt: »Mach, was du willst, aber merk dir, in meinem Haus dulde ich keine Kriminelle. Wenn sie dich einsperren, hab ich keine Tochter mehr!«
»Was ist, wenn sie dich verhaften …«, versuchte ihre Großmutter in einem versöhnlicheren Tonfall, sich Gehör zu verschaffen.
Nun war sie wieder da, die Angst, wie ein kalter Schneesturm nach einem warmen Frühlingstag. Mit beklommenem Herzen dachte Johanna: ›So weit werde ich es nicht kommen lassen.‹
Schließlich lief sie nicht, wie der Großteil ihrer Familie zu glauben schien, gedankenlos und blauäugig in ein sinnloses Abenteuer. Wie diese erste Begegnung ausgehen könnte, war ihr durchaus bewusst, auch wenn sie noch nicht ahnen konnte, wie verheerend die bevorstehende Niederlage und wie tief die Wunden am Ende des Tages sein würden. Sie wusste nur, wie auch immer der Tag verlaufen würde, ihr Widerstand würde erst dann beendet sein, wenn die geplante Anlage im Taxöldener Forst gestoppt wäre – ganz gleich, ob der Kampf gegen die WAA ihr ganzes Leben andauern würde.
Gerne hätte sie ihre Großmutter beruhigt, um sich selbst zu beruhigen, wusste aber nicht wie. Zu groß war ihre Distanz zur väterlichen Linie ihrer Familie geworden, eine Entwicklung, so schien es ihr, die schon seit ihrer Geburt im Gange war.
Johanna war dabei, ihr gewohntes Leben aufzugeben und es neu zu gestalten, nicht aber es zu zerstören, wie ihre Großmutter offenbar befürchtete. Sie wusste genau: Sie stand auf Messers Schneide, ein Schritt zur Seite und der Fall wäre unvermeidlich. Im Laufe ihres Lebens balancierte sie auf vielen Schneiden, auf scharfen, auf stumpfen oder auf mehreren gleichzeitig – und im Augenblick auf ungefähr dreien zu viel. Ein Abrutschen schien unvermeidlich. Doch bis jetzt tanzte sie noch, ohne zu ermüden, auf vielen Hochzeiten, auf denen sie gleichzeitig die Braut und der Bräutigam war, und der Kapitän auf ihrem eigenen Schiff, das sie Leben nannte.
In ihrer Kindheit hatte nichts darauf hingedeutet, dass sie jemals solche Balanceakte vollführen würde. Geprägt vom ländlichen Oberpfälzer Konservatismus war sie im Umfeld althergebrachter katholischer Moralvorstellungen aufgewachsen. Ihre Mutter Elisabeth hatte trotz des herben Wesens ihres Mannes auf eine liberale Erziehung gesetzt, mit aller Liebe und Aufmerksamkeit, die sich ein Kind nur wünschen konnte. Von ihr hatte Johanna auch die Liebe zur Fotografie, schon mit sieben Jahren hatte sie eine alte, abgegriffene Kleinbild-Kamera bekommen.
Wie ein weit verzweigter Fluss mit vielen Schleifen und Biegungen wand sich Johannas Biografie durch die Jahre. An einem Samstag im Mai 1972 hatte der Flusslauf sich zum ersten Mal gebogen und eine nie verwachsene Wunde gerissen.
Um ihre wenige verbleibende Freizeit sinnvoll zu verbringen, hatte Elisabeth Schön alle Möglichkeiten genutzt, am kulturellen Leben in der mittleren und südlichen Oberpfalz teilzunehmen. Den Genuss von Konzerten, Ausstellungen oder Theateraufführungen hatte sie meistens mit ihrer besten Freundin Anna geteilt.
An jenem Abend waren die beiden Frauen auf dem Weg nach Weiden zu einem Max-Reger-Konzert, als in der Dämmerung unerwartet eine Hirschkuh aus dem Unterholz eines Waldstücks auf die Straße trat. Anna, die Fahrerin, wich dem Tier noch aus, fuhr dabei aber frontal in den in diesem Moment nachfolgenden Sechzehnender-Hirsch. Sein Geweih durchschlug die Windschutzscheibe und blieb in Elisabeths Brust stecken.
Für Johanna bedeutete dieser Unfall nicht nur den Verlust ihrer über alles geliebten Mutter, sondern auch die Trennung von ihren bisherigen Freundinnen und Freunden und von einem Stück ihrer Heimat. Denn vom Beginn ihres zweiten Schuljahres an schickte ihr Vater sie – so empfand es das Kind – ins Exil. Johanna verbrachte den Rest ihres Schullebens in einem Mädcheninternat in Regensburg, dessen Lehrkörper aus Schulschwestern und einigen weltlichen Lehrerinnen bestand.
In den ersten Jahren in dieser neuen Umgebung vergrub Johanna sich hinter Büchern, schloss die Welt aus, die sie ausgeschlossen hatte. Hier wurde ihr Traum geboren, als Archäologin verschollene Schätze zu finden und in der ganzen Welt Geheimnisse zu ergründen. Wäre nicht Helene, ihre Freundin aus Kindertagen, gewesen, wäre ihre Seele wahrscheinlich im magischen Sog der Bücher eingestaubt und verdorrt. Ihre Freundin, die damals als Einzige Zugang zu Johannas Herz fand, schaffte es an den Wochenenden und in den Ferien, ihr die wirkliche Welt und das Leben wieder näherzubringen, und sie half ihr, diese Welt zu erforschen und zu bereisen.
Doch Johannas Weg zum Wissen wurde abrupt abgeschnitten: Als sie kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag wegen unüberwindlicher Differenzen mit der Internatsleitung die Schule wechseln sollte, schickte ihr Vater sie gar nicht mehr zur Schule, sondern zwang sie stattdessen zu einer Lehre unter seiner Aufsicht. Ihr Traum, nach alten Artefakten zu suchen, endete hinter der Verkaufstheke in der Metzgerei ihres Vaters, und statt Fundstücke zu registrieren, trug sie schwere Fleisch- und Wurstwaren vom Kühlhaus in die Verkaufsräume. Aus dem für sie tristesten Alltag, der damit vor ihr lag, konnte sie sich nicht befreien, denn nur wenige Worte ihres Vaters genügten, um ihr Seelenleben in tiefe Abgründe zu stürzen und ihr ihre Kräfte zu rauben.
Gegen Ende ihres ersten Lehrjahres in der Metzgerei kamen ihr ihre Verwandten Martina und Markus Ruider mit einer List zu Hilfe. Sie überredeten Hans Schön, seine Tochter an jeweils einem Tag pro Woche in ihrem Fotostudio aushelfen zu lassen. So kam es, dass Johanna zwei Jahre später ausgebildete Metzgereifachverkäuferin war und ein weiteres Jahr darauf ihre Fotografie-Ausbildung erfolgreich abschloss.
Die vielen Monate, seit sie sich dem Widerstand gegen die WAA angeschlossen hatte, brachten sie der Realität näher, mehr als ihr bewusst war. Verborgene Talente und Kräfte traten den Weg aus den Katakomben zum Licht an. Dieser Aufstieg ins Bewusstsein hatte für Johanna im Sommer vor zwei Jahren begonnen. Damals hatte sie Betty, eine englische Juristin, in Kairo kennengelernt. Diese hatte, noch unbewusst, den Schlüssel einer bis dahin versperrten Tür umgedreht, hinter der für Johanna ein anderes Leben wartete. Monate nach jener Begegnung im Land der Pharaonen, bei einem Besuch der ›Oberpfälzer Herbstmesse‹ in Schwandorf, hatten zwei Worte aus Bettys Erzählungen diese Tür geöffnet. Dahinter lag ein langer, harter und beschwerlicher Weg verborgen, voller kalter Ablehnung, aber bepflanzt mit fruchtbaren Wundern.
Dabei hatte Johanna noch auf ihrer ersten Ägyptenreise weder mit den Ortsnamen noch mit den anderen Begriffen, die Betty in ihren Lebenserinnerungen genannt hatte, etwas anfangen können. Sie hatte die unbekannten Wörter in ihrem schwarzen, mit roten Ecken verzierten Notizbuch festgehalten, um später in Deutschland in einem Lexikon nachblättern zu können, ein Vorsatz, der dann zunächst im Alltagschaos untergegangen war.
Nun stand ihre Großmutter mit ängstlichem Blick vor ihr, und Johanna empfand nach langer Zeit so etwas wie Mitleid für die alte Frau – bis diese wieder zu reden anfing:
»Aber Kind, denk doch an das Gerede! Unsere Nachbarn, unsere Kundschaft oder die Kollegen deines Vaters im Stadtrat, was werden die sagen? Es ist so schon schlimm genug, was man über dich munkelt …« Mit einem Mal verstummte Anna und sah verlegen nach unten.
›Aha, daher spielt die Musik. Nur niemanden verärgern. Nur freundlich nicken und über die schmutzige Wäsche der anderen herziehen, während die eigenen zum Himmel stinkenden Altlasten still und heimlich im Garten vergraben werden‹, dachte Johanna.
Laut sagte sie, in einem sarkastischen Ton, der ihr in letzter Zeit öfter über die Lippen kam, als ihr lieb war: »Was munkeln denn unsere lieben Mitbürger über das schwarze Schaf deiner Familie?«
»Du weißt schon«, kam die gespielt verlegene Antwort.
»Was weiß ich?«
»Dass du leicht zu haben bist …«, platzte es aus Anna heraus, und als müsste sie klar machen, dass sie selbst dieses Gerede der Leute nicht für ein leeres Gerücht hielt, fügte sie hinzu: »… du Flittchen.«
Hellauf lachte Johanna, mit dem scheinbar herzhaften Lachen fühlte sie eine angenehme Befreiung in sich aufsteigen.
Das Gelächter ihrer Enkelin brachte Anna erst recht in Wut. Sie drehte sich um und schimpfte im Hinausgehen: »Wirst schon sehen, wie es mit dir enden wird!«
Sie griff nach der Türklinke und erweiterte ihren schon abgeschlossenen Satz »… du Schlampe.«
Mit einem heftigen Schlag fiel die Tür ins Schloss.