Читать книгу Gefangene aus Liebe - Lara Greystone - Страница 17
Kapitel 15
ОглавлениеJohn hatte Lara gesagt, sie solle im Hauptquartier anrufen. Doch ihre Hände hatten so stark gezittert, dass sie auf dem neuen Handy von ihm einfach nur das Feld für Wählen berührte. Agnus, der Erste auf der alphabetischen Liste, war am Apparat gewesen.
Sie erinnerte sich an diesen fast zwei Meter großen Wikingertyp mit der rotbraunen Lockenmähne.
Zuerst war ihr kein vernünftiger Satz aus der staubtrockenen Kehle gekommen. Doch Agnus’ Stimme vermittelte so viel Ruhe und Autorität, dass sie das Gefühl hatte, ein starker Arm würde sie mitten im Sturm halten. Der Mann war durch und durch ein Anführer.
Als die fünf Männer ausstiegen, sah sie in der Dunkelheit zwar keine Details, doch einer davon blickte nicht nur genau in ihre Richtung, sondern zeigte auch noch mit ausgestrecktem Arm auf sie – Boris.
„Mist!“ Warum hatte sie sich nicht im Fußraum versteckt?
Aber es war zu spät und ihr blieb keine Zeit mehr zum Überlegen, denn urplötzlich stand ein Typ wie ein Boxer an der Beifahrerseite. Der sah aus, als könnte er die Tür einfach aus den Angeln reißen. Doch kaum berührte der Kerl den Griff, spritzte auf Höhe seiner Brust zweimal ein feiner Blutregen auf die Scheibe. Er sackte gegen die Scheibe und rutschte herunter.
Sie erinnerte sich an Johns Worte. Ein Vampir starb, wenn man sein Herz zerstörte, den Kopf abtrennte oder an extremen Blutverlust.
John und Quint hatten versprochen, auf sie aufzupassen, und vermutlich waren es zwei lautlose Schüsse gewesen, die sein Herz zerfetzten, ohne dabei in den Wagen einzudringen.
Fast gleichzeitig sank der fremde Wagen vorne nach unten. Sie mussten auf die Vorderreifen geschossen haben. Dadurch wäre das Auto der Eindringlinge nicht mehr zu einer Verfolgung fähig. Doch der einzige Fluchtweg war somit auch versperrt.
Alarmiert durch die Schüsse stieben die Angreifer so schnell davon, dass ihre Augen es kaum erfassten.
Nur einen Moment später durchschnitten vier Schüsse die Nacht. Zur Untätigkeit verdammt spürte sie, wie der Wagen sich etwas absenkte, und zwar gleichmäßig. Wahrscheinlich hatten sie alle vier Reifen platt gemacht.
Wie sollten sie hier je wieder wegkommen?
Sie presste sich tief in den Sitz.
„Lara, bist du noch da? Erzähl mir, was gerade passiert.“
Das Handy lag vergessen in ihrem Schoss.
„Die Reifen, sie haben alle vier Reifen getroffen.“
„Lara, bleib ganz ruhig. Das ist kein Grund zur Sorge. Der Mercedes ist mit Spezialreifen ausgestattet, die fahren auch ohne Luft ganz ordentlich. Kommen noch mehr Fahrzeuge oder bleibt es bei den fünf Männern?“
„Nur die fünf.“
Lara fuhr zusammen, denn von einer Sekunde auf die andere stand Boris direkt an der Fahrertür. Nur wenige Zentimeter und die Karosserie trennten sie von ihm.
In Panik krabbelte sie auf den Beifahrersitz, während er ohne Erfolg versuchte, die Tür zu öffnen.
Wie in Zeitlupe sah sie, dass Boris eine Pistole zog und aus nächster Nähe auf die Scheibe feuerte. Sie zuckte vom Knall zusammen, ihr blieb fast das Herz stehen.
Ich muss etwas tun. Ich muss etwas tun!
Doch wie gelähmt konnte sie nur entsetzt auf das Seitenfenster starren.
Aus reiner Hilflosigkeit schickte sie ein Stoßgebet zum Himmel – wie so oft in letzter Zeit. Merkwürdig, dass man dazu in der Lage war, auch wenn sonst nichts mehr funktionierte. Als würde ein uralter Instinkt einen treiben, der wusste, dass es hinter dem Sichtbaren eine höhere Macht gab, die einen retten konnte.
Sie blinzelte und ihr wurde bewusst, dass die Scheibe zwar Spuren des Einschusses trug, aber sie immer noch schützte.
„Den Wagen in Bewegung halten“, murmelte sie geistesabwesend. Und wie durch ein Wunder brachte sie es jetzt fertig, trotz ihrer Todesangst zurück auf den Fahrersitz, und damit näher zu Boris, zu rutschen. Leider würde der gepflasterte Innenhof nicht viel Spielraum bieten und der einzige Ausweg war immer noch versperrt.
„Jetzt bist du fällig!“, brüllte Boris so laut, dass sie ihn durch die dicke Scheibe hörte.
Mit einem fiesen Grinsen legte er den Lauf der Waffe exakt auf sein vorheriges Einschussloch. Der Mistkerl wusste genau, was er zu tun hatte, und würde sicher sein ganzes Magazin leer schießen!
Sie würde nicht schnell genug sein.
Dennoch beeilte sie sich, mit zitternden Händen den Motor zu starten. Ein Geräusch ließ sie zu Boris herumfahren.
Sein Grinsen erstarb. Er ließ die Pistole fallen und strauchelte zurück. Zwei Messer aus unterschiedlichen Richtungen hatten Boris’ rechte Hand und Schulter getroffen. Sie erkannte sogar Quints Rambomesser – es steckte bis zum Heft in der Schulter des Vampirs. Das andere musste von John stammen und war bis zum Griff in den Handrücken eingedrungen, die Klinge ragte aus der Handinnenseite heraus.
Fluchend stolperte der Kerl davon, bis sie ihn in der Dunkelheit nicht mehr ausmachen konnte.
Sie hielt es nicht mehr aus, nur rumzusitzen, und fuhr den Geländewagen in Richtung Feldweg, bis einige Meter vor ihr der leere Wagen den Weg blockierte.
Dort spähte sie in die Nacht, versuchte, etwas zu erkennen, bis es kurz darauf einen dumpfen Schlag an der hinteren Autotür gab.
Ihr ganzer Körper zuckte zusammen.
Mit pochendem Herzen wandte sie sich um.
Gott sei Dank war es nur Quint. Er blutete sehr stark aus zwei Wunden und suchte wohl hinter dem Wagen Deckung.
Ohne vorher nach anderen Vampiren Ausschau zu halten, entriegelte sie die Türen, um dem verletzten Wächter Zuflucht zu bieten.
Quint taumelte ins Wageninnere. „Verriegeln, sofort!“
Sie drückte den Knopf und krabbelte, so schnell es ging, zu ihm nach hinten. Quint hatte eine Hand seitlich auf seinen Hals gepresst, mit der anderen umklammerte er krampfhaft den Oberschenkel. Seine Gesichtszüge ließen den Schmerz erahnen.
„Was ist passiert?“
„Arterie getroffen. Zweimal. Verdammte Elitekämpfer“, keuchte er abgehackt. Quint musste viel Blut verloren haben, und während sie zusah, quoll von Sekunde zu Sekunde mehr heraus.
„Wo ist der Erste-Hilfe-Kasten?“
„Unter dem Fahrersitz.“
Sobald sie den großen Erste-Hilfe-Rucksack hervorgezogen hatte, hörten ihre Hände auf zu zittern.
Wenn sie eine dringende Aufgabe unter Zeitdruck erfüllen musste, vergaß sie oft alles um sich herum und arbeitete konzentrierter und effektiver als unter normalen Umständen. Sie dankte Gott, dass es jetzt auch so war.
Ohne weitere wertvolle Sekunden zu verlieren, legte sie ihm zwei professionelle Druckverbände an.
Verblüfft schaute Quint auf seine beiden Verbände.
„Wow, das ging ja schnell. Alva wäre stolz auf dich.“
Sie hörte, dass seine Stimme sich veränderte, und musterte den harten Kämpfer. Kreidebleich lehnte er sich zurück in den Sitz und wirkte seltsam kraftlos.
„Ich hab nur einen dieser Dreckskerle erwischt.“
Seine Stimme wurde leiser.
„Quint? Du siehst leichenblass aus.“
„Leg mich ja nicht in die Sonne, damit ich Farbe kriege.“
Sie ließ sich von seinem Scherz nicht täuschen und behielt ihn im Auge, weil sie fürchtete, er würde jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Deswegen entging ihr nicht, dass er auf einmal an ihr vorbei aus der Frontscheibe schaute und seine Augen etwas in der Dunkelheit fokussierten.
„Scheiße!“
Sie wollte sich umdrehen, doch Quint fixierte sie mit seinem Blick und befahl: „Du musst die Luftversorgung umstellen, sofort.“
Er hatte den Satz kaum beendet, da schlossen sich seine Lider. Ohne nachzudenken, handelte sie wie ferngesteuert.
Ein leises Zischen ertönte. Die zum Sicherheitspaket gehörenden Pressluftflaschen gaben Luft ab und sorgten mit einem leichten Überdruck auch dafür, dass keine Luft von außen ins Wageninnere dringen würde.
Sie blinzelte und sah erst jetzt durch die Frontscheibe. Hatte Quint sie in eine Art Trance versetzt?
Draußen vor dem anderen Fahrzeug stand Boris, breitbeinig, mit einer Gasmaske und komischen, länglichen Dosen in der Hand, die kaum eine Sekunde später klackernd und rauchend auf der Motorhaube landeten. Es schien, als hätte der Vampir extra gewartet, um ihr entsetztes Gesicht zu sehen, wenn er sie warf. Und sie hätte schwören können, dass er ihren ängstlichen, zitternden Anblick genießen wollte. Aber gerade diese Erkenntnis verhinderte, dass genau das mit ihr das passierte, denn jetzt wurde sie richtig, richtig sauer.
„Du elender Mistkerl! Ich hab so die Schnauze voll von dir!“
Wutentbrannt kletterte sie hinters Steuer.
„Du feiger Dreckskerl wirfst mit Dosen nach mir? Ich werde dir zeigen, was gute, deutsche Wertarbeit ist!“
Sie legte den Gurt an, der Motor lief noch.
Am Rande bekam sie mit, dass Quint sich im Rücksitz wieder rührte. „Schnall dich an, Quint!“
Ohne hinzusehen, warf sie ihm das Handy zu, das sie auf dem Beifahrersitz wiedergefunden hatte. Agnus war immer noch in der Leitung.
„Ich habe vier Tonnen, du Scheißkerl! Vier Tonnen, die unter meinem Befehl stehen!“
Außer sich vor Wut trat sie das Gaspedal ganz durch.
Boris hatte noch mehr Gasgranaten geworfen. Draußen waren zwischen ihm und ihr dichte Schwaden. Bis er begriff, wie ihm geschah, rammte sie ihn bereits mit voller Wucht und quetschte ihn zwischen den beiden Fahrzeugen ein.
Vier Tonnen hieß auch, dass der Mercedes wesentlich mehr „Kampfgewicht“ besaß als der andere Wagen und sie hatte in Physik gut aufgepasst.
Mit Boris dazwischen trat sie weiter aufs Gaspedal und schob das Fahrzeug der Angreifer unerbittlich vorwärts, bis es vom Weg abkam, mit den Rädern in den Graben geriet und auf die Seite ins morastige Feld kippte.
„So, damit ist der Weg jetzt auch endlich frei!“
„Gute Arbeit, Lara. Und erinner mich dran, dass ich dich nie wütend mache.“
Noch während Quint mit ihr redete, holte er zwei Reservemagazine aus dem Lederbeutel und schob sie in seine beiden Pistolen.
Er wirkte auf sie aber bei Weitem nicht fit.
„Geht’s dir denn schon wieder besser, Quint?“
„Egal, ich werd John da draußen nicht alleinlassen.“
Während er sich noch zwei Messer aus dem Lederbeutel nahm, beugte sie sich vor und spähte in den Graben, ohne jedoch viel zu erkennen.
„Kann der Mistkerl das überlebt haben?“
„Ja, aber mich überlebt er nicht.“
Quint grinste auf eine Art, die ihr normalerweise eine Gänsehaut beschert hätte, und legte die Hand an den Türgriff. „Bis gleich.“
„Quint, das Gas!“
„Ist durch den starken Wind bereits verflogen.“
Als er die Tür zumachte, ließ sie sich in den Sitz fallen und musste mit einem Mal unwillkürlich kichern.
„Und ich wollte unbedingt mit meinem eigenen Wagen fahren, ich Idiot! Ich hätte jetzt eine kaputte Seitenscheibe, vier platte Reifen, Macken auf der Motorhaube und vorne wäre alles platt und – igitt – blutig. Aber das alles würde mich ja gar nicht mehr stören, weil ich entweder schon eine Kugel im Kopf oder eine Gasvergiftung hätte.“
Gas! Der Gedanke schoss ihr wie ein Blitz durch den Kopf. John! Wo war er? Hatte er das giftige Gas eingeatmet?
Hatten sie ihn mithilfe des Gases überwältigt und gefangen genommen? War er überhaupt noch am Leben?
Ohne nachzudenken, legte sie den Rückwärtsgang ein, fuhr wieder in den Mühlenhof und starrte in die Dunkelheit.
Sie entdeckte die Umrisse von zwei Gestalten.
Einer lag leblos am Boden. Über dem stand ein anderer mit zwei Schwertern und war offensichtlich kurz davor, einen Kopf abzutrennen.
Nichts hielt sie mehr im Wagen. Mit aller Kraft stieß sie die schwere gepanzerte Fahrertür auf und rannte los.
Die Warnungen von Agnus und Quint waren vergessen.
Der Mann beendete sein Werk, ehe sie ihn erreichte, kam ihr mit den Schwertern entgegen und versperrte ihr den Blick auf den anderen. Sie hatte sich nicht geirrt.
John war derjenige, der noch stand.
„Sieh nicht hin, Lara.“ Er musterte sie von oben bis unten. „Bist du unverletzt?“
„Ja.“
„Habt ihr Boris erwischt?“
„Ja. Quint gibt ihm gerade den Rest.“
„Dann sind ja alle vier erledigt“, sagte er erleichtert. „Das ist gut, denn meine Munition und meine Messer sind aufgebraucht.“
Er ließ seine Schwerter zu Boden fallen und schloss sie in seine Arme. Bei ihr hätten alle Alarmglocken schellen müssen, aber sie fühlte sich einfach nur überglücklich, weil sie beide noch am Leben waren.
In Johns Armen fiel ihre ganze Anspannung ab und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Erst als sie ihr nasses Gesicht abwischen wollte, löste sie sich ein wenig von ihm. Dabei registrierte sie durch Zufall auf dem Dach ihres Hauses eine kleine, unscheinbare Bewegung.
Unbewusst kniff sie ihre Augen zusammen. Außer dunklen Schemen konnte sie in der tiefschwarzen Nacht nur eine Sache erkennen: ein Stück von einem Gewehrlauf.
John stand mit dem Rücken dazu und sein größerer Körper schirmte sie vor der Gefahr ab. Im Bruchteil einer Sekunde blitzte jedoch die Erkenntnis auf, dass das dort oben ein Scharfschütze sein musste und Johns Kopf oder Herz tödliche Ziele darstellten.
In dieser Sekunde hörte sie auf zu denken und handelte.
Sie drehte sich aus Johns Umarmung und schob ihn etwas zur Seite. Gleichzeitig zog sie mit der anderen Hand die Pistole hinter ihrem Rücken aus dem Holster und schoss, ohne zu zögern, in Richtung des Gewehrlaufes.
Im gleichen Moment sah sie das Mündungsfeuer des Gewehrs.
Drei Schüsse gellten durch die Nacht.
Ein explosionsartiger Schmerz in der linken Brust.
Sie wurde von ihren Füßen gerissen.