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Kapitel 4

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Mitten im Kampfgetümmel sah Hassan Ramón sterben.

Sofort keimte in ihm die Hoffnung auf, endlich mit seiner Mutter fliehen zu können. Der Blutfürst hielt sie nun schon seit Jahren als Geisel. Ein Druckmittel, um ihn zum absoluten Gehorsam als Leibwächter zu zwingen. Selbst der Versuch zu fliehen hätte ausgereicht, damit Ramón ihn beim langsamen und qualvollen Tod seiner Mutter Semira zusehen ließ. Und sie floh nicht, weil ihm sonst das Gleiche blühte. Schon beim kleinsten Aufmucken wurde nicht nur er, sondern auch seine Mutter grausam bestraft.

Er muckte nicht mehr auf, schon lange nicht mehr.

Seine Mutter Semira war einst eine Schönheit gewesen, sein orientalisches Aussehen und seine langen, rabenschwarzen Locken hatte er von ihr geerbt. Doch in den letzten Monaten wurde sie mehr und mehr zur leeren Hülle. Sogar sie, die ehemalige Sklavin aus Byzanz, verlor immer mehr ihren unbeugsamen Lebenswillen.

Ramón hatte in seinem Unterschlupf nur zwei Mann als Wache zurückgelassen. Es würde keinen idealeren Zeitpunkt geben, um seine Mutter zu befreien! Leider kämpften gerade zwei Wächter gleichzeitig gegen ihn und er hatte bereits ein paar üble Verletzungen, die ihn schwächten.

Mit der Kraft der Verzweiflung bäumte er sich auf, versetzte den Wächtern zwei kräftige Hiebe und flüchtete. Ein Schuss in die linke Schulter, knapp oberhalb seines Herzens, riss ihn von den Füßen. Er rappelte sich auf und rannte selbst nach zwei weiteren Treffern immer noch. Allerdings trugen ihn seine Beine nicht mehr lange. Schließlich ging er zu Boden, die Kleidung durchnässt von seinem eigenen Blut.

Mehr tot als lebendig, spürte er, wie eine grobe Hand ihn packte, über den rauen Asphalt schleifte und in einen Kofferraum warf. Als er wieder zu sich kam, lag er in einer der Zellen des ehemaligen Militärbunkers, den Ramón in sein Hauptquartier verwandelt hatte. Die dicke Stahlmanschette um seinen Hals, die man mit einer Kette an der Wand verankert hatte, und die titanverstärkten Handschellen machten ihm auf brutale Weise klar, dass die erhoffte Befreiung seiner Mutter unmöglich geworden war.

Während ihn die höllischen Schmerzen – von seinem ohne frisches Blut nicht heilen wollenden Körper – benommen machten, hörte er Boris vor der Zellentür telefonieren.

„Du weckst mich mitten am Tag, Boris? Wenn du dafür keinen triftigen Grund hast, werde ich meinem Bruder sagen, er soll dir ein Sonnenbad gönnen!“

Diese Stimme am anderen Ende des Telefons gehörte Raúl, dem mächtigen Blutfürsten eines anderen Gebiets.

„Verzeiht die Störung, aber es geht um Euren Bruder.“

„Hat er etwa schon wieder mein Geld in den Sand gesetzt? Dann werde ich ihm nämlich höchstpersönlich ein wenig Sonnenbräune verpassen. Und warum informiert mich Oskar nicht? Er sollte aufpassen, was mein Bruder mit meinem Geld anstellt! Hat dieser faule, sadistische Bastard bei euch etwa zu viel zu tun?“

„Bitte, Fürst, gestattet mir zu erklären.“

„Hör auf zu schleimen und rede!“

„Eurem Bruder gelang es, den Standort der Wächter in Erfahrung zu bringen. Er wollte ihr Hauptquartier stürmen und hatte fast alle Männer dabei.“

„Lass mich raten, die Sache ist in die Hose gegangen?“

„Ja, und Euer Bruder ist im Kampf gefallen.“

„Verdammt!“

Am anderen Ende erscholl ein Brüllen, das Krachen von splitterndem Holz war zu hören und dumpfe Aufschläge von schwerem Stein. Nach einer Weile donnerte Raúls Stimme wieder durch den Hörer: „Wie schlimm ist es? Und was ist mit meinen Investitionen?“

„Ich und zwei andere Männer haben überlebt. Unser Hauptquartier und das neue externe Drogenlabor mit dem Lager der Basiskomponenten, das Ihr finanziert habt, sind unentdeckt geblieben.“

„Wenigstens etwas.“

Raúl ließ sich die Details erzählen, wobei Boris einige Tatsachen zu seinen Gunsten veränderte. Dass der sich selbst auf Kosten anderer ins bessere Licht rückte, war nichts Neues für Hassan. Aber außer Boris und ihm gab es ja keine Zeugen des Kampfes mehr, denn die anderen beiden Männer waren als Wache zurückgeblieben.

„Du willst mir also erzählen, dass mein Bruder in eine Falle gelaufen ist und sein Leibwächter ihn feige im Stich gelassen hat? Dass dieser Ritter der weißen Lilie Oskar getötet und meinem Bruder das Herz herausgerissen hat? Und wo warst du die ganze Zeit?“

Gute Frage! Doch Boris hatte sich dafür natürlich eine feine Geschichte ausgedacht, die nichts mit der Wahrheit zu tun hatte.

„Verdammter Lügner!“, brüllte Hassan.

Dieser hinterhältige Hund hatte ihn also nur gerettet, um ihn Raúl als Sündenbock vorzuführen. Feige, wie Boris war, hatte der sich nämlich recht schnell unauffällig aus dem Kampf mit den Wächtern zurückgezogen und vermutlich in sicherer Entfernung den Ausgang abgewartet.

„Es wird Zeit, dass ich selbst nach dem Rechten sehe und mir diesen Ritter und seine Schlampe vornehme! Erwarte mich bei Sonnenuntergang, Boris!“, hörte Hassan den zornigen Blutfürsten noch schreien, bevor der auflegte.

Raúl würde maßlose Rache für den Tod seines Bruders nehmen und er, Hassan, würde der Erste sein, der sie zu spüren bekam. Wahrscheinlich spekulierte Boris darauf, dass Raúl ihm die Führung von Ramóns Gebiet übertragen würde, weil er die Lieferanten und Abnehmer des Drogengeschäftes kannte. Für einen Blutfürsten ergab sich sehr selten die Gelegenheit, ein so großes Gebiet ohne verlustreichen Kampf zu übernehmen. Raúl brauchte aber jemanden, der sich mit der Abwicklung des Geschäftes vor Ort auskannte, um weiter Gewinn zu machen, und das war nicht er, Hassan, sondern Boris. Er war nur das Bauernopfer in diesem Spiel. Boris hingegen bot sich die Möglichkeit, die mächtigste Figur unterhalb eines Blutfürsten zu werden. Um selbst Fürst zu werden, bräuchte dieser feige Lügner nämlich eine kleine Armee, die er nicht besaß – noch nicht.

***

Lara wachte in einem Gefühl völliger Geborgenheit und Wärme auf, das sie nie zuvor in ihrem Leben verspürt hatte. John lag auf dem Rücken, sie auf der Seite, mit ihrem Kopf auf seiner Schulter. Im Schlaf hatte sie sich wie selbstverständlich eng an seinen warmen, starken Körper gekuschelt. Sein muskulöser Arm war in einer gleichermaßen besitzergreifenden wie beschützenden Geste um sie geschlungen, so als wäre das ganz normal.

Sicher, sie waren gemeinsam durch die Hölle gegangen, dennoch war das gerade mal die zweite Nacht, die sie zusammen in seinem Bett verbrachten, und die erste, in der sie auch neben ihm aufwachte.

Sie nahm diesen wunderbaren Moment in sich auf und blieb ganz still liegen, als würde der Augenblick sonst verschwinden wie ein scheues Reh.

Am liebsten würde sie jeden Morgen so aufwachen oder einfach den Rest ihres Lebens hier bei ihm liegen bleiben.

Unter der Decke lag ihre Hand auf seiner Brust. Johns Haut fühlte sich warm und weich an, konnte aber die Stärke der Muskeln darunter nicht verbergen. Wie in einem blitzartigen Aufleuchten stand ihr kurz das Bild seines verbrannten, blutigen Oberkörpers vor Augen. Ihre Hand zuckte erschrocken zurück, aus Angst, ihm damit wehzutun.

„Du bist in Sicherheit, schlaf weiter“, murmelte John mit geschlossenen Augen und zog sie noch näher an sich.

Aber ihr Herz raste mit einem Mal. Sie musste einfach wissen, ob mit ihm alles in Ordnung war, musste das mit eigenen Augen sehen.

Sein gefolterter Körper war ein Anblick des Grauens gewesen, sich davon überhaupt jemals zu erholen, widersprach jeder Vernunft.

Natürlich war das Schlafzimmer durch die Stahljalousien völlig verdunkelt, doch John hatte eine gedimmte Nachttischlampe angelassen – vermutlich wegen ihrer Klaustrophobie. Leider würde die Lampe dagegen kaum helfen, aber für ihr jetziges Vorhaben spendete sie genug Licht.

Ganz vorsichtig, um ihn nach den enormen Strapazen der letzten Tage nur ja nicht zu wecken, schob sie die Decke bis zu seiner Hüfte hinunter.

Ihre Augen wanderten über seinen Körper.

John war wunderschön und makellos – überall.

Zitternd holte sie tief Luft und fuhr mit ungläubigem Staunen sacht über seine verführerische Haut, die zum Streicheln geradezu einlud.

Unendlich erleichtert, ja beinahe erlöst, legte sie ihren Kopf danach wieder auf seine breite Schulter. Sie waren beide in eine Katastrophe geraten und hatten gemeinsam überlebt – nicht wie damals im Tunnel, als ihr Freund zurückblieb und seine verkohlte Leiche nur noch anhand des Gebisses identifiziert werden konnte.

John und sie hatten überlebt, weil sie sich bedingungslos zusammengetan hatten. Na ja – fast bedingungslos.

Beim Gedanken an den erlebten Horror lief ihr eine Träne über die Wange.

Er war entsetzlich gefoltert worden und hatte tagelang nicht geschlafen. Daher widerstand sie schweren Herzens dem Drang, John vor lauter Glück an sich zu pressen, loszuheulen und anschließend jeden Zentimeter an ihm fühlend zu erkunden.

Vorsichtig schlüpfte sie unter Johns Arm hindurch, stand auf und zog seinen Morgenmantel über. Auf Zehenspitzen schlich sie ins Bad und schloss so leise wie möglich die Tür. Heilfroh atmete sie durch, denn dies war der einzige Raum, in dem ihre Klaustrophobie nicht die würgenden Klauen um sie legte. Die verglaste Außenwand schenkte ihr eine Aussicht auf das parkähnliche Gelände. Sie entdeckte Wildheart, Quints Pumadame, die sich genüsslich im Sonnenschein auf dem saftigen Gras wälzte.

Dann zog der große Spiegel über den beiden Waschbecken ihre Aufmerksamkeit auf sich. Mit lilafarbenem Lippenstift stand dort geschrieben:

Lust auf Frühstück?

Bei mir, sobald Du wach bist.

Ara.

Daneben prangten ein fetter Smiley und ein Pfeil nach unten.

Dort, unter dem Waschbecken, entdeckte sie die übergroßen, pinkfarbenen Bärentatzen-Hausschuhe aus Plüsch, die Ara ihr beim letzten Aufenthalt geschenkt hatte.

Ein amüsiertes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus.

Daneben lag, fein säuberlich aufgestapelt, Kleidung von Alva, die in etwa dieselbe Größe besaß wie sie. Es waren die gleichen Kleidungsstücke, die ihr letztes Mal geliehen wurden und die ihr Quint hatte abnehmen müssen, als er ihre Erinnerungen gelöscht hatte. Die Sachen rochen frisch gewaschen und zuoberst lag ein neues Paar Socken, auf dem ein Zettel klebte:

Schön, dass Du wieder da bist und uns John zurückgebracht hast! Ich habe den Kühlschrank und die Vorräte aufgefüllt. Hoffentlich habe ich Zeug erwischt, das Dir schmeckt.

Bis später! Ara


P.S. Die Socken sind von Quint. Er hat es herausgefunden!

Ja, die Socken. Darin war das Blatt Papier versteckt gewesen, das sie heimlich verfasst hatte, bevor Quint sie alles über die Vampire vergessen ließ. Darauf hatte sie in aller Eile das Wichtigste aufgeschrieben und natürlich die Tatsache, dass es Vampire gab und John dazugehörte.

Mit diesen Hinweisen war es ihr letztendlich gelungen, sich auch wieder an den Rest zu erinnern. Dadurch hatte sie außerdem die Möglichkeit gehabt, John zu lokalisieren, dem sie erst kurz zuvor davongelaufen war. Quint hatte sie zwar durchsucht, aber die Notiz in ihren Socken nicht gefunden. Der Vampir mit der wilden, roten Lockenmähne hatte deswegen sicher Ärger bekommen und war bestimmt stinksauer auf sie.

Dem wollte sie lieber erst mal nicht begegnen. Bei Arabella war das anders, die hatte schon längst ihre Neugierde geweckt. Ara erinnere ihn an Pippi Langstrumpf, hatte John mal grinsend gesagt und sie war gespannt darauf, diese Frau endlich kennenzulernen. Zuerst würde sie sich jedoch eine wohltuende Dusche in Johns Luxusbadezimmer gönnen.

Sie genoss die angenehme Wärme der Bodenheizung, als ihre nackten Füße über den rötlich-cremefarbenen Marmor aus China traten. In die ebenerdige Glasdusche würde man auch locker zu zweit hineinpassen, was sie gerne mal ausprobieren würde. Oder gemeinsam mit John in den Whirlpool steigen, der im Boden eingelassenen war und für sechs Leute Platz bot. Vielleicht würde sie es sich auch irgendwann auf einem der Liegestühle unter den Palmen bequem machen, die als Ruhezone für den dahinter liegenden Saunabereich dienten.

Bevor sie aus Johns schwarzem Morgenmantel schlüpfte, roch sie an dem edlen Seidenstoff. Sein verlockender männlicher Geruch beschwor Bilder ihrer ersten stürmischen Nacht herauf und zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. Sie war drauf und dran, sofort wieder zu ihm ins Bett zu kriechen, obwohl ihr Magen mit einem lauten Knurren protestierte. Doch wie eine eiskalte Dusche traf sie die Erinnerung an das letzte Mal in Johns Wohnung und an den Grund, warum sie Hals über Kopf gegangen war. Wobei geregelte Flucht wohl der bessere Ausdruck wäre.

Der Rausch jener Nacht und die Sehnsüchte, die damit erneut aufgestiegen waren, zerplatzten wie Seifenblasen und Lara seufzte.

Das hier war die Wohnung einer anderen.

Auch wenn seine Ehefrau seit knapp zwei Jahren tot war, lebte sie an diesem Ort weiter: in den Schränken, an den Wänden, den eingestickten Initialen überall – und in Johns Herz.

Hier gab es keinen Platz für sie – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Hier wäre sie nur eine Kopie, ein Puzzleteil, das nie richtig in den einzigen, freien Platz passen würde.

Ihr Inneres zog sich schmerzhaft zusammen. Wie zum Abschied vergrub sie noch einmal ihre Nase in der schwarzen Seide und trat dann schnell unter die Dusche. Das wohlig warme Wasser nahm sich ihrer Tränen an.

Auf einmal sehnte sie sich nach ihrem eigenen Zuhause, dem Wohnhaus der Müller. Sie hatte es renovieren lassen und dabei auch selbst viele Stunden liebevolle, aber auch schweißtreibende Handarbeit investiert. Die Zimmer, ihre Möbel, einfach alles dort spiegelte etwas von ihrer Persönlichkeit wider – ganz anders als hier, in Johns Wohnung. Und so edel und gemütlich es hier auch sein mochte, die Dunkelheit darin erinnerte sie fortwährend an ein Mausoleum.

Gott sei Dank war es ihr möglich, auch weiterhin die Sonne zu genießen, denn trotz gegenteiliger Mythen würde sie durch Johns Biss niemals zum Vampir werden. Und sein Blut, das er ihr vor ein paar Tagen in ihrem ohnmächtigen Zustand eingeflößt hatte, um ihr Leben zu retten, sorgte nur dafür, dass sich vorübergehend jede Zelle ihres Körpers regenerieren beziehungsweise neu wachsen konnte. Durch sein Blut würden ihr eine neue Niere ebenso wachsen wie ein Fingernagel. Nur eine Verletzung des Herzens war meist tödlich, genau wie bei Vampiren.

Gefangene aus Liebe

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