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1. Kapitel Der Traum vom Sterben 1.

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Die Sonne ging auf, während der Engel seine schneeweißen Schwingen ausbreitete. Das Sonnenlicht fiel auf sie herab und ließ die Federn leuchten wie Diamanten. Er trug eine lange Robe; die blauen Augen waren voller Schmerz. Sein braunes Haar hing ihm wirr im Gesicht; kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Er war blass, sein Atem nur ein unregelmäßiges Luftschnappen.

Der Engel stand auf dem Dach einer Kirche, ob am Rande eines Dorfes oder einer Stadt, konnte er durch den Schleier seiner Qual nicht erkennen.

Vollkommen erschöpft lehnte er sich an das Kreuz, das sich hinter ihm erhob. Schmerz durchzuckte ihn. Er verzog das Gesicht und krümmte sich. Sein Atem wurde schneller, ein Schrei drang über seine Lippen. Der Schmerz und die Verzweiflung hallten in seinem eigenen Kopf wider.

Währenddessen stieg die Sonne immer höher, beobachtete den Engel in seinem einsamen Kampf.

Langsam begann er, von innen heraus zu leuchten. Was zuerst nur ein schwacher Schein gewesen war, wurde heller und gleißender, je höher die Sonne stieg. Und das Licht schien ihm große Schmerzen zu bereiten. Je heller das Leuchten wurde, desto gequälter wurden seine Atemzüge. Blut floss aus seinen Augen wie eine groteske Art von Tränen.

Dann, als die Sonne im Zenit stand, ging der Engel in Flammen auf und verbrannte unter qualvollen Schreien.

Daniel fuhr mit rasendem Herzen aus seinem Schlaf hoch. Er atmete schwer, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Sein Keuchen zerschnitt die Stille und klang wie das verzweifelte Luftschnappen des Engels. Die Dunkelheit drückte schwer auf Daniels Augen, und die Schatten in seinem Zimmer verschwammen zu einer wabernden Masse.

Er machte schnell seine Nachttischlampe an, um die Schatten zu vertreiben. Dann ließ er sich zurück in sein Kissen fallen und fuhr entnervt durch sein braunes Haar.

Sein Zimmer wurde nun in warmes Licht getaucht. Auf seinem Schreibtisch, der an der gegenüberliegenden Wand stand, zeigte ihm sein Wecker an, dass es drei Uhr morgens war.

Daniels Blick wanderte weiter, zu dem Sessel neben seinem Schreibtisch. Danach kamen nur noch ein Schrank, am Fußende seines Bettes, und ein, zugegebenermaßen recht kleines, Bücherregal. Damit war sein Zimmer voll. Obwohl es in hellen Farben gehalten war, konnte es die Gedanken an seinen Traum nicht vertreiben.

Daniel zog sein Kissen unter dem Kopf hervor und legte es sich quer über sein Gesicht. Am liebsten hätte er laut geschrien. Dieser Traum verfolgte ihn jetzt schon seit Monaten, und es war jede Nacht derselbe.

Viel zu oft hatte Daniel Angst davor einzuschlafen. Er wollte nicht jede Nacht das Schicksal des Engels miterleben, wie er erst Höllenqualen litt und dann starb. Der Engel, der sein Gesicht trug.

Daniels Wecker riss ihn unsanft aus dem Schlaf. Er konnte nicht genau sagen, wann er schließlich wieder eingeschlafen war, aber seine Nerven waren immer noch zum Zerreißen gespannt. Passend zu seiner Stimmung zog er sich vollkommen schwarz an.

In der Küche setzte er sich an den Tisch und sah schlecht gelaunt aus dem Fenster. Seine Eltern waren schon zur Arbeit gefahren; Geschwister hatte er keine, also hing Daniel allein seinen Gedanken nach.

Am liebsten wäre er einfach nicht in die Schule gegangen, aber es war wohl eine fadenscheinige Ausrede, zu Hause zu bleiben, weil man schlecht geträumt hatte. Sein Körper schien da allerdings anderer Meinung zu sein. Jede Bewegung strengte ihn an, ließ seine Atmung schneller werden und sein Herz rasen.

Daniel wartete nur darauf, dass das Feuer in sein reales Leben überging und ihn und alles um ihn herum verschlang. Seufzend nahm er seine Schultasche und verließ das Haus.

Es hatte geregnet; die Straße glänzte noch feucht, die Morgenluft roch frisch. Dass es schon mitten im Frühling war, machte Daniel nervös, schließlich war in seinem Traum Sommer gewesen. Er konnte nicht erklären, woher diese Nervosität kam, aber sie war da; eine dunkle Welle, die nur darauf wartete, über ihm zusammenzubrechen.

Seit er diesen Traum hatte, bekam er immer wieder Panikattacken. Sie kamen vollkommen unerwartet, mit einer Intensität, die ihn jedes Mal erschreckte.

Auch jetzt spürte er eine aufkeimende Angst in sich. Schatten schienen nach ihm greifen zu wollen, während ihm war, als würde ihn jedes Gesicht misstrauisch ansehen.

Daniel versuchte, diese Gedanken abzuschütteln, doch es war hoffnungslos. Sie verfolgten ihn mit der gleichen Hartnäckigkeit wie sein Traum.

Bereits völlig erschöpft, traf er auf seinen besten Freund Raphael, der immer zwei Straßen vor der Schule entfernt auf ihn wartete. Manchmal fragte Daniel sich, wieso Raphael sich ausgerechnet ihm angeschlossen hatte.

Raphael war ein außergewöhnlicher Mensch, neben dem er sich manchmal unauffällig und fast schon unbedeutend fühlte. Er hatte dunkle, verstrubbelte Haare und erstaunlich grüne Augen, die er sich immer mit schwarzem Kajal nachzeichnete. Auch seine Kleidung war schwarz; Daniel hatte ihn noch nie in einer anderen Farbe gesehen.

»Hey«, sagte Raphael, als Daniel ihn erreicht hatte.

»Hey«, erwiderte Daniel. Dann gingen die beiden gemeinsam weiter.

»Du siehst aus, als hätte man dich gerade erst ausgegraben«, sagte Raphael unverblümt, nachdem er seinen Freund eine Weile gemustert hatte.

»Wie charmant«, sagte Daniel und lächelte schwach, »aber so fühle ich mich auch.«

Raphael sah ihn nur nachdenklich an. Einerseits mochte Daniel diese Verschwiegenheit an ihm, andererseits war in Raphaels Augen manchmal eine Starre, die Daniel Angst machte. Er war dann unerreichbar für jeden, bis sich der Schleier vor seinen Augen wieder lichtete.

Viele seiner Freunde konnten nicht verstehen, wieso Raphael Daniel so viel bedeutete, aber bei ihm fühlte er sich so verstanden und … sicher.

»Du hattest wieder diesen Albtraum, nicht wahr?«, durchbrach Raphael schließlich die Stille.

Daniel ließ mit einem Seufzer die Luft aus seinen Lungen entweichen, dann nickte er und stellte Raphael die Frage, die ihn schon so lange beschäftigte: »Glaubst du, der Traum bedeutet etwas?«

Raphael zog eine Augenbraue hoch. »Wie kommst du darauf?«

»Ich träume ihn jede Nacht; es ist immer die gleiche Handlung«, sagte Daniel. »Was ist, wenn es bedeutet, dass ich bald sterben werde?«

Raphael dachte kurz nach. »Das ergibt keinen Sinn«, meinte er dann.

»Und wieso nicht?«, fragte Daniel.

»Du hast erzählt, in deinem Traum bist du ein Engel, also bist du bereits tot. Du müsstest erst sterben, damit der Traum sich bewahrheitet«, erklärte Raphael.

»Wow«, erwiderte Daniel, »das beruhigt mich jetzt kein bisschen.«

Raphael legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Das wird schon wieder«, versicherte er.

Als sie dann gemeinsam den Klassenraum betraten, hatte Daniel den überwältigenden Drang, schreiend wieder nach draußen zu rennen. Raphaels Seitenblick nach zu urteilen, sah man ihm das auch an.

Der Schultag zog sich endlos hin. Daniel fühlte sich zerschlagen, erschöpft und konnte sich kaum konzentrieren. Erst, als Raphael ihm erzählte, wie er einmal über seine Katze gestolpert war und dabei ein Buch über die Balkonbrüstung geworfen hatte, musste Daniel lachen. Es passte nicht so ganz zu Raphaels Ruf an der Schule.

Als es endlich zur Pause klingelte, ging Daniel mit seinen Freunden auf den Schulhof, während Raphael wie immer verschwand. Allerdings wusste Daniel nicht genau, wohin sich Raphael zurückzog.

Mit halbem Ohr hörte er den Gesprächen seiner Freunde zu, hatte aber kein Interesse daran, sich an ihnen zu beteiligen. Schule, Hobbys, Freundinnen …, das alles kam ihm so unwichtig und klein vor.

»Leute«, sagte er und unterbrach damit die Planung von Chris’ Party, seinem Freund seit Kindertagen. »Ich geh mal Raphael suchen.«

Alex, der neben Chris stand, rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf.

Chris sah Daniel dagegen enttäuscht an. »Aber am Wochenende kommst du auf jeden Fall, oder?«, fragte er.

»Klar«, antwortete Daniel und versuchte zu lächeln, was ihm gründlich misslang.

»Versprochen?«, wollte Chris wissen.

»Versprochen«, bestätigte Daniel.

Sie schlugen kurz ihre Fäuste aneinander, dann drehte Daniel sich um und ging in Richtung Schulhaus. Kurz genoss er die Stille, als er die Aula betrat. Er schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen. Dann suchte er nach Raphael.

Daniel fand seinen Freund schließlich auf der Tribüne der Turnhalle, wo er in ein Buch vergraben dasaß. Während Raphael vollkommen in sein Buch eingetaucht schien, blieb Daniel stehen, unsicher, ob er nicht störte.

»Na, hast du keine Lust mehr auf tiefgründige Gespräche gehabt?«, fragte Raphael da, ohne von seinem Buch aufzusehen oder den Sarkasmus in seiner Stimme zu verbergen.

Daniel überwand die letzten Schritte, während Raphael sein Buch schloss, und setzte sich neben ihn. »Ich hatte schon Lust auf Gespräche«, sagte Daniel, »allerdings auf Gespräche mit dir.«

»Worüber möchtest du denn reden?«, wollte Raphael wissen.

Daniel zuckte nur mit den Schultern.

Raphael lehnte sich zurück und schwieg. Auch Daniel sagte nichts, denn er fand die Stille zu schön, als dass er sie stören wollte. So saßen sie nebeneinander, bis es zum Ende der Pause läutete. Gemeinsam standen sie auf und gingen in ihr Klassenzimmer.

»Es macht Spaß, sich mit dir zu unterhalten«, scherzte Daniel und grinste Raphael an.

Raphaels Lippen umspielte nur ein leichtes Lächeln, als wäre er zu mehr zu schüchtern.

»Das ist das Geheimnis: Wahre Freundschaft braucht nicht viele Worte«, sagte er dann.

Sie setzten sich auf ihre Plätze. Daniel bemerkte, wie sich ein stechender Schmerz in seiner Schläfe festsetzte. Erst dachte er, dass es nur an dem schlechten Wetter lag, aber am Ende des Schultags war der stechende einem pulsierenden Schmerz gewichen.

Am liebsten hätte er sich einfach vor der Welt verkrochen, doch wenn er alleine war, wurde die Angst vor seinem Traum schlimmer.

»Sollen wir noch irgendwo hingehen?«, fragte Raphael, als sie das Schulhaus endlich verließen.

»Wohin denn?«, fragte Daniel.

»Ich kenne ein kleines Café, hier um die Ecke«, sagte Raphael.

Daniel antwortete nicht. Plötzlich tat ihm jeder Knochen im Leib weh, und ein wahnsinniger Hass war in seinem Herzen erwacht. Er wusste genau, dass er kurz vor einer Panikattacke stand und eigentlich hatte er keine große Lust, sie auf offener Straße zu bekommen.

»Wenn es dir lieber ist, kann ich dich auch nur nach Hause begleiten«, fügte Raphael hinzu und sah ihn an.

Daniel schüttelte den Kopf, was seinen Kopfschmerzen nicht gerade gut bekam. »Ich würde gerne noch einen Kaffee trinken.«

»Trotz deiner Kopfschmerzen?«, fragte Raphael nach.

Daniel sah ihn überrascht an. »Woher weißt du das?«

»Man sieht es dir an«, antwortete Raphael schlicht.

Da klingelte sein Handy. Daniel konnte nicht hören, wer sich am anderen Ende der Leitung befand, er musste sich mit Raphaels Antworten begnügen.

»Nein, auf keinen Fall«, sagte er gerade. »Ich will nicht, dass …«

Er wurde unterbrochen. Daniel lief einfach weiter stumm neben seinem Freund her.

»Das ist mir egal, ich will ihn nicht in Gefahr bringen.«

Daniel bekam langsam das unangenehme Gefühl, dass sich das Gespräch um ihn drehte.

Raphael legte die Stirn in Falten. »Und Wyn ist sich sicher?«, fragte er, bevor er geschlagen seufzte. »Na schön, bis später.«

Er legte auf und sah Daniel an. »Hast du heute Abend schon etwas vor?«

»Nein«, erwiderte Daniel und fühlte sich in seiner Vermutung bestätigt, »aber es klingt, als hätte ich es gleich.«

Raphael lachte leise. »Ein paar Freunde von mir wollten heute ein Lagerfeuer veranstalten. Möchtest du mitkommen?«

Daniel zögerte. Er kannte niemanden von Raphaels Freunden.

»Sie sind fantastisch, glaub mir«, sagte Raphael und schubste ihn in eine Seitenstraße. »Zu dem Café geht es da lang.«

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