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Geschichte und Geschichten

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In diesem Buch verdichten sich unterschiedliche Erinnerungen zu einer möglichen Lagergeschichte des Frauen-KZ Ravensbrück. Aus den insgesamt 200 aufgezeichneten Interviews habe ich 35 ausgewählt.

Wie schwer diese Auswahl fiel, muss ich nicht betonen. Doch ich möchte einige meiner Kriterien benennen: Ich habe auf die Interviewpartnerinnen verzichtet, die in anderen Veröffentlichungen ausführlich zu Wort kommen. Ich wollte aus jeder Phase der fünfundzwanzigjährigen Sammlung Interviewpartnerinnen vorstellen und gleichzeitig ein möglichst umfassendes Bild der Lagergeschichte aufzeigen. Vor allem beschäftigte mich die Frage nach den Besonderheiten eines Frauen-KZ. Das Krankenrevier zeigte sich mir als ein zentraler Ort des Lagers, in dem Tod und Überleben aufeinander trafen. Dort arbeiteten die so genannten Funktionshäftlinge Hand in Hand mit ihren Feinden, bemühten sich, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – illegalen wie gerade noch erlaubten – Leben zu erhalten.

Im Krankenrevier wurden Frauen sterilisiert, medizinische Experimente durchgeführt, ›Arbeitsunfähige‹ selektiert, und gleichzeitig kamen Kinder zur Welt. Dabei konnten die Häftlingsärztinnen und -krankenschwestern nicht verhindern und mussten tagtäglich mit ansehen, dass auch ihre Arbeit Teil der industriellen Vernichtung durch das KZ-System wurde. Die Unschärfe zwischen internem Widerstand und zwangsweiser Zuarbeit lastete gerade auf den Funktionshäftlingen noch lange nach ihrer Befreiung.

Ihre Biografien stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Aus unterschiedlichsten Blickwinkeln beschreiben sie das Lager. Die Vielzahl der Stimmen machte es mir möglich, aus sich ergänzenden und manchmal auch widersprechenden Erinnerungen ein sich verdichtendes und zugleich vielschichtiges Bild des Lagers zu zeichnen. In diesem uneinheitlichen Bild spiegelt sich auch das Paradoxe mancher Erzählungen und der sich anschließenden Biographien. Durch ihre Verknüpfung werden sie zu einem Abbild der vielfältigen Erfahrungen des Lageralltags und des Überlebenskampfes.

Ich wollte auch Frauen zu Wort kommen lassen, deren Erinnerungen aus verschiedensten Gründen in der bisherigen Darstellung der Lagergeschichte keine Rolle spielten, die zur Persona non grata im Kreis der Überlebenden geworden waren oder nie Kontakt zur Gedenkstätte und den Häftlingsverbänden aufgenommen hatten. In exemplarischen Biografien möchte ich ein bisher nur spärlich beleuchtetes Stück Lagergeschichte erzählen: vom Überleben unter Frauen.

Einige Lebensläufe stehen für sich, andere werden in den einzelnen Kapiteln zu ›verdichteten Themen‹ verwoben. Zum Beispiel die medizinischen Experimente an jungen polnischen Frauen in Ravensbrück: Da ich mehrere Frauen interviewen konnte, die Opfer der Versuchsoperationen wurden, konnte ich deren Geschichte in einer Montage aus vielfältigen Erinnerungen wiedergeben.

Andere Schwerpunkte ergaben sich aus Themen, die signifikant für ein Frauen-KZ sind: zum Beispiel die Geburten oder Mütter mit Kindern im Lager. Anderen Themen, die in vielen Interviews erwähnt wurden, haftet fast etwas Mythisches an. So sprachen viele Interviewte über die ungebrochene Stärke und Solidarität der Häftlinge in Ravensbrück oder den uneigennützigen Einsatz der so genannten Funktionshäftlinge in ihren unterschiedlichsten Arbeitsbereichen im Lager.

Ich hatte das große Glück, die letzte Generation der Überlebenden befragen zu können. In diesem Buch möchte ich ihre subjektive Sicht vorstellen. Ihre Erinnerungen habe ich, so weit es mir möglich war, in die faktische Historiographie eingebettet, zu der mir heute – im Vergleich zum Beginn der Sammlung – umfangreiches Quellenmaterial und eine Vielzahl von historischen Veröffentlichungen und Forschungsarbeiten zur Verfügung standen.

Ich möchte an dieser Stelle allen befragten Frauen herzlichst danken und betonen, dass die notwendige Auswahl für dieses Buch keine einzige ihrer Erinnerungen schmälert. Für mich persönlich war jede Begegnung innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre ein Erlebnis, das ich nicht missen möchte. Auch wenn ich von vielen grauenvollen Erlebnissen erfuhr, bin ich gleichzeitig großer Lebensfreude und starkem Lebenswillen begegnet. Viele meiner Interviewpartnerinnen haben, Ravensbrück zum Trotz, ein hohes Alter erreicht.

Dieses Buch erscheint – gleichzeitig mit einem 90-minütigen Dokumentarfilm – zum 60. Jahrestag der Befreiung des Frauen-KZ Ravensbrück. Nach fünfundzwanzig Jahren der Sammlung von Erinnerungen an Ravensbrück spiegeln beide gemeinsam den Versuch wider, Geschichte und das Erinnern an sie in erzählten Geschichten in neuer Form erfahrbar zu machen.

Loretta Walz

im Januar 2005

Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

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