Читать книгу Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag - Loretta Walz - Страница 17

»ALLES VERGESSENE SCHREIT IM TRAUM UM HILFE« Maria Zeh

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1978 lernte ich die damals 75-jährige Maria Zeh aus Stuttgart kennen. Ich arbeitete an einem Dokumentarfilm für den Westdeutschen Rundfunk mit dem Titel »Alles Vergessene schreit im Traum um Hilfe«1. Maria Zeh sollte eine der Hauptprotagonistinnen sein.

»Wir brauchen beides: die Erinnerung, um zu wissen, wer wir sind, und das Vergessen, um zu werden, was wir sein wollen. Und beides lässt sich nicht trennen.« So las ich in einer Kolumne von Elke Heidenreich. Doch was passiert mit Erlebnissen, die man nicht vergessen kann? Die so prägend sind, dass sie einem den Weg, das zu werden, was man sein will, nicht mehr offen lassen? Dies war die Fragestellung des Films.

Das Interview mit Maria Zeh zeichneten wir in meiner damaligen Wohnung in Stuttgart auf, denn sie scheute sich, drei fremde Männer – das Filmteam – in ihrer Wohnung zu empfangen.2 Das zweite Gespräch führte ich zusammen mit Helma Fehrmann3 bei ihr zu Hause. Maria Zeh war eine große, gepflegte, sehr elegante Frau mit einer starken Präsenz. Auffallend waren ihre unbändige Neugierde und Offenheit: Sie wollte nichts im Leben verpassen.

Maria Zeh war 1903 in Stuttgart zur Welt gekommen. Im ersten Interview erzählte sie von ihrer Kindheit in einer warmherzigen, kinderreichen Familie in einem Stuttgarter Vorort am Neckar, vom Besuch der Marxistischen Arbeiterschule und von ihrem Engagement in der oppositionellen Lehrerschaft. »Ich hatte Freundinnen, die waren Pfarrerstöchter und Lehrerinnen, und die haben mich mitgenommen in die Marxistische Arbeiterschule. Das war für mich eine neue Welt. Ich war seit 1931 verheiratet, sportlich sehr aktiv, und das hat mich so gepackt, dass ich da richtig eingestiegen bin. Zu der Zeit war ich nicht mehr berufstätig. Mein Mann war Beamter auf Lebenszeit geworden; da wurde ich als Doppelverdienerin entlassen. Ich war 28 Jahre alt. Die Arbeit hat mir gefehlt. Ich war soziale Helferin in einem Betrieb, und das bin ich mit Leib und Seele gewesen. Obwohl es uns wirtschaftlich gut ging, war ich schockiert und hab mich dann da richtig reingestürzt. Da ist mir natürlich eine ganz neue Welt eröffnet worden. Ich habe viele Bildungslücken bei mir entdeckt und nicht nur Genossinnen, sondern Freundinnen gewonnen. Mein Mann war Sportler, er war gut und in jeder Beziehung großzügig. Ich hab ihm gesagt, dass ich in Kurse gehe, mit Mädchen, und die kamen auch zu uns, da war er ein großer Gastgeber. Es waren meist Lehrerinnen aus der Umgebung von Stuttgart, und sonntags war bei uns der Treff. Das war die Zeit der Erwerbslosigkeit und Geldnot. Als der Faschismus begann, wurden die Lehrerinnen entlassen, und die Anlaufstelle war ich. Sie kamen alle zu uns in ihrer ersten Ratlosigkeit

Anfang der 30er Jahre trat Maria Zeh in die Kommunistische Partei ein. »Das war eine Zeit, wo man den Faschismus schon geahnt hat, und damals wurden wir speziell geschult für die illegale Arbeit. Man hat uns gesagt, wenn der Faschismus kommt, dann werden wir von der Marxistischen Arbeiterschule dran sein, weil das als kommunistisch gilt. Es wurde auch gesagt, wenn einer andere belastet, der belastet sich selbst. Also: Wenn man anfängt, auf einem Treppengeländer zu rutschen, dann kann man sich nicht mehr halten. Genauso ist es mit den Aussagen: Wenn man einmal anfängt, gibt’s kein Ende mehr. Daran hab ich mich immer gehalten. Ich habe dann aktiv in der oppositionellen Lehrerschaft mitgearbeitet, dort kamen Blätter raus, wurden Informationen verschickt, gab es Schulungen usw.

Das wurde dann immer härter, es kamen die ersten Verhaftungen, und die Sache wurde ernst. Manche meiner Freundinnen konnten nicht mehr zu Hause sein, und ohne viele Worte hatte ich dann die Aufgabe, nach Quartieren, Geld und Papieren zu gucken, sodass sie in die Illegalität konnten. Geld hatten sie auch keines. So kamen halt alle zu uns. Als die ersten abgerückt sind, mussten die dann auch versorgt werden, man musste Geld überbringen und so weiter – da ist man immer so in Sorge gewesen, dass keiner hochgeht, dass man an sich selbst nie gedacht hat. Ich hab das aus selbstverständlicher Kameradschaft gemacht. Da hab ich erst gemerkt, wie viele Bekannte ich anpumpen konnte. Meine Schwiegermutter war gut gestellt und hat mir immer Geld geschenkt für Modellkleider oder Schuhe, da ging alles Geld hinein. Für mich hat es gar nichts mehr gegeben außer der illegalen Arbeit. Die Kurierdienste waren immer eine gefährliche Sache, deshalb hab ich mein Äußeres damals sehr geschützt. Ja, und dann kam der große Tag meiner Verhaftung, alle Männer, die mit uns arbeiteten, waren ja schon verhaftet worden. Mein Mann hatte am 30. Juli 1935 Geburtstag. Ein Freund hat uns angerufen, wir sollen zu ihm kommen, es gibt für ihn ein Fest. Dort sind wir hingefahren, es war eine lustige Nacht, und alle haben dort geschlafen. Morgens kam das Mädchen und sagte, wir sollen aufstehen. Ich sag: ›Mein Mann hat doch Urlaub.‹ Dann hat mein Mann gesagt, wir müssten auf eine Behörde. Das war die Gestapo. Dann bin ich nicht mehr wiedergekommen

Zwei Tage und Nächte wurde Maria Zeh im Stuttgarter Gefängnis Büchsenstraße verhört. »Vor allem wollten sie Namen wissen, wer die Leute unterstützt, die Papiere besorgt, Flugblätter gemacht und verteilt hat usw., und natürlich wussten die schon vieles ganz genau. Ich hab mir – aufgrund meiner marxistischen Schule – eine Geschichte ausgedacht, und bei der bin ich geblieben. Später kam ich zur Untersuchungshaft ins Frauengefängnis in der Weimarstraße. Es gab täglich viele Gegenüberstellungen, und der Mußgay4 hat gesagt: ›Guck doch der ihre Augen an, die sagt nichts.‹ Ich hab jeden Tag – wie ein Examinand – meinen Text aufgesagt, genau das, was ich bei der Gestapo gesagt hab. Das ist sehr schwierig, wenn man überhaupt nichts zu schreiben hat. Es ist schrecklich, in einer Zelle zu sitzen, ohne alles. Dann kamen immer mehr Verhaftungen und Gegenüberstellungen. Da war einer, dem ist’s Blut runtergelaufen, der Rudi Bergmann: ›Der hat gerade alles gesagt, und so geht’s Ihnen auch.‹ Da gab es auch Genossinnen, die gesagt haben, was die Gestapo weiß, das kann man ruhig zugeben. Aber das hab ich nicht gemacht

Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

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