Читать книгу Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag - Loretta Walz - Страница 6

ERINNERN AN RAVENSBRÜCK

Оглавление

Die Erinnerung an Ravensbrück braucht engagierte Menschen. Erika Buchmann, Aenne Saefkow und andere Überlebende des Frauen-Konzentrationslagers haben Beispiele gesetzt. Sie begannen unmittelbar nach der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, Zeugnisse der KZ-Zeit zu sammeln, um über den Ort der unzähligen Verbrechen zu informieren. Als Zeuginnen des Geschehenen baten sie ihre ehemaligen Mitgefangenen um Dokumente, Briefe, Fotos, um Gegenständliches wie Kleidung oder Kleidungssymbole, künstlerisch Gefertigtes, bisweilen Geschnitztes, winzig klein aus Stielen von Zahnbürsten, um im Lager entstandene kleinstformatige Alben oder Büchlein, die Geburtstags- oder Namenstagsgeschenke waren, und anderes mehr.

Die erste Ausstellung der am 12. September 1959 eröffneten Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zeigte diese Überbleibsel, die im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zu musealen Kostbarkeiten avancierten. Dennoch fehlte diesen »echten« Erinnerungsstücken oftmals eine individuelle mündliche Geschichte, die die Dinge, entsprechend dem althergebrachten museologischen Credo, zum Sprechen bringen könnte. Ravensbrück, der Verbrechensort zwischen 1939 und 1945, braucht diese Sprache, die Sprache als Erinnerung der einst an diesen Ort deportierten Frauen, Männer und Kinder.

Loretta Walz hat diese Sprache der Erinnerung schon vor mehr als zwei Jahrzehnten fasziniert. Eine erste Begegnung unmittelbar nach meinem Amtsantritt in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück im Dezember 1992 hatten wir sehr bald verabredet. Die Sowjetarmee räumte gerade das ehemalige KZ-Gelände. Wir planten gemeinsam die notwendige ›Spurensuche‹ auf dem durch militärisch genutzte Überformung verwandelten Ort; eine Spurensuche mit Ravensbrückerinnen, wie wir die Überlebenden ganz selbstverständlich nannten, begleitet von Kamera, Mikrofon und unseren Fragen. Edith Sparmann aus Dresden, Helga Luther aus Berlin und Gertrud Pötzinger/ Niederselters waren im Jahr 1993 die ersten Eingeladenen. Sie sprachen viele Stunden über ihre sehr emotional geprägten Erinnerungen, über die entwürdigende Prozedur der Ankunft, die Unterbringung in den Baracken, die Appelle auf der Lagerstraße, die Arbeit als sinnlose, aber auch als beruflich erlernte Tätigkeit, die Orte des Häftlingseinsatzes und der SS. Mit ihnen suchten wir die baulichen Relikte der KZ-Zeit innerhalb und außerhalb des Lagerkomplexes. Es entstand der erste dreißigminütige Begleitfilm »Spurensuche« zur Ausstellung »Ravensbrück. Topographie und Geschichte des Frauen-Konzentrationslagers«, die wir am 23. Mai 1993 in Anwesenheit der Interviewten eröffneten. Sie – die Überlebenden – haben wiederum Beispiele gesetzt mit ihrem Engagement für den Ort, ihrer ungebrochenen physischen und psychischen Stärke. Interviewsituationen als Begegnungen, die zur Fortsetzung mahnten, die unvergesslich sind.

Die Zusammenarbeit mit Loretta Walz und den Ravensbrückerinnen begann als Programm, für das uns Eile geboten schien. Es war nicht an den Ort gebunden, vielmehr an die Zeitzeugen selbst, die das Lagergeschehen in sich tragen. So entwickelten wir ein inhaltliches und immer wieder auch ein finanzielles Realisierungskonzept für ein Interviewprogramm in Ravensbrück, aber auch an weit entfernten Orten. Mit der Fokussierung auf die gesamte Lebensgeschichte und der Schwerpunktsetzung auf die Haftzeit war es mehr als richtig, zu den Ravensbrückerinnen nach Hause zu fahren, ob nach Warschau, Prag, Hamburg oder Odense – Ort des Lebensabends der Dänin Astrid Blumensaadt-Petersen, die uns mit ihren Ravensbrücker Zeichnungen und ihren zahlreichen Zeugnissen aus jener Zeit eine reiche Begegnung ermöglichte. Thematische Schwerpunkte kristallisierten sich heraus: so die pseudomedizinischen Versuche an Polinnen, die Geburten und die Kinder, die Rolle von Siemens in Ravensbrück, das Schicksal von Sinti, Roma und Jüdinnen, das Jugend-KZ Uckermark – der vorliegende Band ist ein Spiegelbild der umfassenden Fragestellung und Sammlung.

Loretta Walz hat mit leidenschaftlicher Hingabe und auf vorbildliche Weise das gewachsene Interesse der Historiker an kollektiver Erinnerung um die individuelle Erinnerung von Überlebenden des KZ Ravensbrück ergänzt. Sie hat Frauen und Männer befragt. Gegenstand ihres Engagements für Ravensbrück ist der Mensch oder besser die Menschen oder noch genauer die Menschen in der Zeit.

Für die Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück ist eine Mediathek als Schatzkammer entstanden, die ihresgleichen suchen wird; mit diesem Buch zugleich ein herausragend passioniertes Werk, das, um es mit Marc Bloch zu sagen, »Gelehrten und Schuljungen gleichermaßen verständlich« sein wird.

Es ist mir eine große Freude, dass unsere wissenschaftliche wie menschliche Zusammenarbeit aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung diese außergewöhnliche Veröffentlichung erfährt. Ich danke dem verständnisvollen Antje Kunstmann Verlag. Ich danke Loretta Walz, die gewissermaßen als Architektin und Bauleiterin, als Dramaturgin, Psychologin und Pädagogin, unterstützt von ihrer Familie und von ihrem sympathischen Team, das Werk vollbracht hat – und ich danke den Ravensbrückerinnen von ganzem Herzen.

Sigrid Jacobeit

Leiterin der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück/

Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

Подняться наверх