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Kapitel 1 Kein Blatt vor den Mund

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Das Leben verläuft nicht immer so, wie wir es erwarten. Als ich mein erstes Kind zur Welt brachte, kam in den sozialen Medien gerade das Phänomen des „Sharenting“ auf, des Veröffentlichens von Bildern und Informationen über den eigenen Nachwuchs im Internet. Obwohl im Jahr 2007 weder Microblogging noch Fotofilter ein Thema waren, gab es doch zunehmend die Erwartung, dass wir alle ein Leben führen konnten (und sollten), was man auch mit aller Welt teilen konnte. Fotografische Einblicke sollten belegen, dass wir es in jedem Lebensbereich echt draufhatten.

Meine erste Geburtserfahrung passte nicht so ganz in dieses Schema. Mein Körper und mein Verstand stellten ihre Funktion ein, und das zu einem Zeitpunkt, an dem sie eigentlich ihre volle Blüte hätten erreichen sollten. Ich verließ die Neugeborenen-Station im reifen Alter von 30 Jahren mit einer Reihe von Inkontinenzproblemen, die sich in den darauffolgenden 10 Jahren zu einem epischen Drama auswachsen sollten. Der Zusammenbruch meines Entsorgungssystems wurde von einer Kombination aus relativ normalen, aber bleibende Schäden hinterlassenden Verletzungen, Pech und einer vererbten körperlichen Überbeweglichkeit verursacht, die ich immer für eine gute Sache gehalten hatte. Die Tatsache, dass ich als Teenager einen Spagat beherrschte, bedeutete einfach, dass meine Muskeln und Bänder sich leicht überdehnen ließen – vor allem die in meinem Beckenboden, die dafür sorgen, dass im Bauchraum alles an Ort und Stelle bleibt. Nach der Geburt war ich auch mental angeschlagen. Ich erlebte aus erster Hand, warum Inkontinenz zu den letzten medizinischen Tabus zählt – und zu den hartnäckigsten.

In einer Gesellschaft, die die Anzeichen des Alters ebenso fürchtet wie das Altern selbst und sich gerne bewertend und scharfzüngig auf Schwächen und Fehlbarkeiten stürzt, ist kein Platz für das Thema Inkontinenz. Inkontinenz hält uns den Spiegel unserer Ängste vor und macht uns bewusst, dass der körperliche Verfall uns allen droht, und mit ihm die öffentliche Beschämung.

Von Inkontinenz sind mehr Frauen betroffen als Männer – ein weiterer Grund, weshalb das Thema nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die es verdient hat. Und es gibt die mehr oder weniger offen geäußerte Ansicht, dass Inkontinenz einfach zum Frausein dazugehört und jeder weibliche Körper früher oder später davon betroffen ist. Sei es aus Unwissenheit oder Streitlust – Mediziner, und auch viele Frauen, halten an der alten Lüge fest, dass Inkontinenz Teil des Älterwerdens ist. Etwas, mit dem Frauen sich einfach abfinden müssen – wie mit Falten oder mit Männern, die uns die Welt erklären.

Es ist im Übrigen ein weltweites Phänomen, das eine Lawine von Kummer, Verzweiflung und Vernachlässigung nach sich zieht. Inkontinenz ist so stigmatisiert, dass die Betroffenen oft keine Stimme haben und an den Rand der Gesellschaft gedrückt oder ignoriert werden. Sie tragen schwer an ihrer Scham und denken häufig, sie hätten keine Behandlung verdient. Laut Forschungen des National Childbirth Trust aus dem Jahr 2016 schämten sich 38 Prozent der Britinnen mit Inkontinenz zu sehr, um sich einer medizinischen Fachkraft anzuvertrauen.1 Manche reden nicht einmal mit dem Partner oder der besten Freundin darüber.

Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was mit mir passiert war. Ich musste mir die ganze Geschichte wie ein Mosaik aus Krankenhausbriefen, Blogs, Erinnerungen, Arztberichten, hastig gekrakelten Notizen zu Beratungsstellen und gemeinnützigen Vereinen, Medienberichten, medizinischen Forschungsbeiträgen und Aufklärungskampagnen zusammensetzen.

Ich fand jede Menge Informationen darüber, dass Betroffene sich Hilfe suchen sollten und diese auch bekommen würden. Seltener fand ich Berichte, in denen Betroffene ihre eigenen Erfahrungen schilderten oder offen über den Schmerz und das Chaos, die Kosten und die Absurdität des Ganzen sprachen.

Genau das versuche ich nun mit diesem Buch zu tun. Es enthält Momentaufnahmen aus dem vergangenen Jahrzehnt und schildert mein Denken und meine Erfahrungen in einer Zeit, in der meine intimsten Funktionen mehr als einmal für Peinlichkeiten sorgten. Ein Jahrzehnt, in dem ich verzweifelt darauf hoffte, mit diesen Problemen nicht alleine dazustehen. Ich fragte mich, ob auch andere Angst vor den Behandlungen hatten und sich Gedanken um die Auswirkungen auf sie selbst, ihre Kinder und ihr Liebesleben machten.

In die Vergangenheit einzutauchen, war nicht immer leicht. Wie viele Frauen, die eine traumatische Geburt durchlebten, hatte ich Flashbacks. Die plötzlich aufblitzenden Erinnerungen betrafen weniger die Geburt selbst, sondern das, was danach kam. Meine erste (und bei Weitem nicht letzte) Erfahrung, als Erwachsene in einer Pfütze meines eigenen Pipis zu stehen. Ein Samstagmorgen im Hochsommer, als das grelle Sonnenlicht erbarmungslos auf meine Verletzungen schien und das Wasser der Dusche weder das Blut verbergen konnte, das an meinen Beinen herunterlief, noch die wachsende Urinlache zu meinen Füßen.

Ich stand wie gelähmt da und schaute zu. Was war noch übrig von mir in diesem Körper einer „jungen Mutter“? Was genau war kaputt gegangen? Hatte ich das Schicksal irgendwie herausgefordert, indem ich der Geburt leichten Herzens und mit viel Optimismus entgegengesehen hatte? Weil ich nicht wusste, was mich erwartete?

In nur einer Stunde mit Presswehen hatte ich mich von einer gesunden jungen Frau in eine klapprige, undichte Totalkatastrophe verwandelt, und ich hatte viel mehr verloren als nur die Elastizität oder eine glatte Haut. Mir war mein inneres Gleichgewicht abhandengekommen. Erschüttert durch den Schock, den mein Körper erlitten hatte, erhielt ich zusätzlich die Diagnose einer Wochenbettdepression und den Stempel „traumatisiert“. Einige Ärzte sprachen sogar von einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Es gibt von diesem Morgen nur ein einziges Foto, das nichts davon anklingen lässt. Auf dem wir das Blut und die Nähte weggeschnitten haben und drei Gesichter in die Kamera starren. Auf dem Schwarzweißfoto, behaupten nette Menschen, sehen ich, mein Ehemann und das Baby ganz reizend aus, aber der panische Blick in meinen Augen lässt sich nicht leugnen. Die einzige Person, die jemals die Farbvariante zu Gesicht bekam, meinte nur: „Verbrenn es, meine Liebe, DU SIEHST AUS, ALS WÄRST DU TAUSEND JAHRE ALT.“

Der größere Schock war jedoch die Erkenntnis, dass unabhängig davon, wie sehr man es bräuchte, die Zeit niemals auch nur einen Moment stillsteht, damit man ein schwieriges Erlebnis in Ruhe verarbeiten kann. Das Leben hat seine eigene Vorstellung, vor allem, wenn es um Geburten geht. Es ist die heftigste Lektion für alle Gebärenden: Die Welt dreht sich auch ohne unser Zutun in schwindelerregender Geschwindigkeit weiter, und unsere Babys wachsen und haben Bedürfnisse, ganz egal, wo uns gerade der Kopf steht.

Und was ich lesen konnte zur kulturellen und historischen Sicht auf Geburtsverletzungen und Inkontinenz, hat mich ebenfalls wütend gemacht. Warum ertragen Frauen das so lange schon klaglos? Obwohl das Ganze wahrscheinlich schon seit der Zeit abläuft, als Eva oder eine ihrer Töchter den ersten Dammriss 3. Grades hatte (oder Schlimmeres) und das Problem ohne Kegel-Übungen (erste Beschreibungen stammen aus dem Jahr 1948)2 oder einen Wäschetrockner in den Griff bekommen musste. Oder seit den Zeiten, in denen jemand zum ersten Mal betrunken war oder alt, in oder nach den Wechseljahren, verletzt oder krank, was einen Großteil der Themen des Alten Testaments recht gut zusammenfasst.

Warum sind nicht schon mehr Menschen an der Last und Einsamkeit der Verkörperung eines Tabus zerbrochen? Wann immer ich das Thema angesprochen habe, berichteten Frauen mir von ihren eigenen Erfahrungen oder denen ihrer Mütter, Großmütter oder Tanten. Einige davon mögen durchaus Stellvertretergeschichten gewesen sein, frei nach dem Motto: „Ich frage für einen Freund.“ Aber ich konnte die Wahrheit heraushören. Es gibt eine Menge Inkontinenzgeschichten da draußen, aber sie werden nur im Flüsterton erzählt, hinter grobem Humor versteckt, wie in Witzen über Einlagen und Trampoline, oder in den lustigen Grimassen, die wir bei Beckenbodenübungen schneiden.

Es gibt ein britisches Lagerfeuerlied mit dem Titel „Seven Old Ladies“, eine grobe Parodie einer Ballade aus dem 18. Jahrhundert. Es ist vor allem für seine erste Zeile bekannt – Oh dear what can the matter be? Seven old ladies stuck in the lavatory – und beschreibt eine Reihe von bedauernswerten Frauen, die auf der Toilette feststecken. Es gibt hundert Varianten dieser Verse, aber die Inkontinenz kommt mehrfach vor, ausgedrückt durch die kleine Miss Murry, die sich beeilt, es aber nicht rechtzeitig schafft, oder Miss Moore, die nicht mehr warten kann und sich in die Hose macht. Es scheint, als seien Frauen mit Toilettenproblemen ein uraltes Thema, ein Teil der Kultur, und dennoch bleibt Inkontinenz ein belastendes und irritierendes Leiden. Nette Scherze übertünchen das echte Problem – Stigmata, die aus den Rissen im Lack der Zivilisation hervorquellen und unsere Definition in Frage stellen, wie ein Körper aussehen und funktionieren sollte.

Es gibt Hilfe. Physiotherapeutinnen, Ärzte und Spezialistinnen können einen sicheren Ort bieten, an dem sich niemand wie eine Idiotin oder Nervensäge vorkommen muss, und sie können gute Ergebnisse erzielen. Leider ist das gesellschaftliche Tabu so groß, dass die meisten Leute nicht einmal hingehen. Nur weil man sagt, dass es in Ordnung ist, sich Hilfe zu suchen, ist ein Teil der Wahrheit dennoch, dass Inkontinenz bitter ist und die meisten Menschen denken, dass nur müffelnde alte Damen und gesellschaftliche Außenseiter davon betroffen sind.

Das ist der Grund, warum ich dieses Buch geschrieben habe: Aus Wut über all die Mythen und die Frauenfeindlichkeit und in der Hoffnung, dass sich einige in dem Wissen, dass sie nicht alleine sind, weniger schlecht fühlen und Hilfe in Anspruch nehmen. Es ist mir wichtig, zu zeigen, dass Inkontinenz in der Regel behoben werden kann, und dass selbst in den Fällen, in denen dies nicht vollständig gelingt, ein gutes Leben möglich ist. Und dass es wirtschaftliche Vorteile hat, wenn wir inkontinenten Menschen helfen, ihre Blasenfunktion wieder in Ordnung zu bringen. Wir müssen alle erwachsen werden und vernünftig darüber sprechen, denn nur das ist angemessen, und es könnte das Leben von Millionen Menschen verbessern, meines eingeschlossen.

Menschen fragen mich häufig, ob es mir schon immer so leichtgefallen ist, über dieses Thema zu reden. Schön wär’s. Ich hatte keine andere Wahl. Mein dreißigjähriges Ich, das durchaus bereit war, eine halbe Fußballmannschaft in die Welt zu setzen, wäre eher im Boden versunken, als in der Öffentlichkeit zu pupsen. Mein vierzigjähriges gebrochenes Ich musste einen Weg finden, mit dem Risiko zu leben.

Körperfunktionen zu erwähnen, galt in der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, als unhöflich. Nicht nur in meiner Familie, sondern praktisch überall. Es wurden klare Grenzen zwischen den Geschlechtern gezogen. Sperma und kleine Jungs, die in der Öffentlichkeit pinkelten, waren witzig. Mädchen durften sich höchstens gut versteckt hinter Büschen zum Pinkeln niederlassen, über andere Ausscheidungen wurde gar nicht gesprochen. Periodenblut erschien in Anzeigen als blaue Flüssigkeit und die Puppen von Tiny Tears™ lehrten eine ganze Generation, dass die Körperfunktionen eines Mädchens unsichtbar sein sollten. Wir durften die Plackerei des Elterndaseins auf uns nehmen, aber sollten darauf achten, dass aus unseren kleinen Löchern nicht mehr als nur gelegentlich ein wenig Wasser floss.

(Un)reinen Tisch zu machen und öffentlich über meinen lädierten Intimbereich zu reden, war so nicht geplant. Ich wurde mit einer feministischen Weltsicht geboren, aber nicht mit absoluter Schamlosigkeit. Ich musste meine Schutzschicht und mein „Draufgängertum“ von Grund auf neu aufbauen. Es begann im Babygeschäft Mothercare. Ich war so gestresst, dass ich ein einziges Leck war – das Gesicht tränenüberströmt, die Füße in einer Urinlache und mit einem Still-BH, der schon anfing, nach Joghurt zu riechen.

Ich bin nicht ganz dicht

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