Читать книгу Ich bin nicht ganz dicht - Luce Brett - Страница 25
Frühjahr 1988, Schulbus, windige Landstraße in der Nähe von Loughborough, auf dem Weg zum Schwimmunterricht
ОглавлениеIch mag Schwimmen, weil wir uns nicht zusammen mit den Jungs umziehen müssen. Beim normalen Sportunterricht ziehen wir uns alle gemeinsam im Klassenzimmer um, und alle können deinen Schlüpfer, dein Unterhemd und deine Windpockennarben sehen.
Von den fünf Mädchen in meinem Jahrgang trägt eine bereits einen BH, und wir glauben, dass eine Drittklässlerin auch schon einen braucht (sie könnte aber auch einfach nur pummelig sein). Meine Mutter hat mir ein Bustier gegeben, obwohl meine Brüste nur ganz wenig wackeln, wenn ich sie schüttele. Außerdem bekomme ich Haare.
Ein sicheres Zeichen, dass die Pubertät bevorsteht, und das bedeutet Pickel, Jungs, der Abschlussausflug in der vierten Klasse und Zungenküsse. Ich glaube, es bedeutet auch, dass ich Babys bekommen kann.
Ich weiß eine Menge über Babys, weil meine Mutter gerade schwanger ist mit Zwillingen. Ich war beim Krankenhaus-Rundgang mit dabei und habe mich freiwillig bereit erklärt, den Geburtsstuhl zu testen, als keine der Frauen das wollte. Außerdem besitze ich ein Buch, das einen Fötus in verschiedenen Wachstumsphasen zeigt. Er hat ein Gesicht wie ein Außerirdischer und merkwürdig durchscheinende Finger. Babys im Bauch ihrer Mütter sehen aus wie E.T. – der Außerirdische.
Ich bin bereit, eine Frau zu werden, und ich stecke keine Kissen mehr unter meinen Pulli, um so zu tun, als sei ich schwanger. Ich weiß, woher Bauchnabel stammen und warum sie aussehen wie der Knoten eines Luftballons. Ich finde, dass der lateinische Name für Nabelschnur, Funiculus umbilicalis, irgendwie lustig klingt.
Ich bin mir nicht ganz sicher, wo ich meine Eizellen aufbewahre, aber heute wird sich das alles ändern.
Die große Schwester meiner Freundin hat ihr eine Broschüre gegeben, die sie extra bei der Mädchenzeitschrift Jackie angefordert hatte. Ich bin so neidisch, dass meine Augen fast zu Schlitzen werden.
Es ist die verruchteste Sache, die jemals in unserer langweiligen Ecke in den East Midlands passiert ist. Jemals. Wir lassen die Broschüre auf der Fahrt zum Schwimmen und zurück von Hand zu Hand wandern.
Die von einem Tampon-Hersteller herausgegebene Broschüre besteht aus beschrifteten Zeichnungen in Pastellfarben. Sie ist wirklich gut gemacht. Das Perineum gehört nicht zu den Highlights.
Wir erfahren etwas über den Monatsfluss (schwer und leicht) und bekommen gezeigt, wie unsere Eierstöcke aussehen (wie Bonbons) und unsere Röhre, die man „Vagina“ nennt. Die Röhre ist das Wichtigste, denn da kommen die Tampons rein. Die Broschüre teilt uns mit, dass Tampons die ganze Bescherung problemlos aufsaugen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Faden aus mir heraushängen soll.
Wir versuchen uns die Worte zu merken. Es gibt neue wie „Eierstöcke“, „Menstruation“ und „Applikator“, aber auch altbekannte, wie „Binde“ und „monatlich“, die eine neue Bedeutung bekommen. Noch nie zuvor war ich dem Teenagerleben so nah.
Wir erfahren etwas über Schmierblutungen, den Beginn der Periode und die 28 Tage. Die wissenschaftlichen Erklärungen begeistern uns. Selbst das Erwähnen von Krämpfen kann unsere Vorfreude nicht dämpfen. In der Broschüre ist keine Rede von starken Blutungen oder Zervixschleim, der wie Eiweiß aussieht, oder der Hoffnung, dass der Tampon auch ja weit genug oben sitzt. Das ist jetzt auch nicht wichtig. Das Universum lädt uns zweifelsohne ein, einem geheimen Club beizutreten. Wir stehen an der Schwelle zu etwas Großem.
Meine Aufklärung in Sachen Sex und Fortpflanzung erfolgte eher klassisch. Ich lernte etwas über meine Anatomie, indem ich heimlich die feministischen Bücher meiner Mutter las. Für das Internet war es noch zu früh, also reimte ich mir den Rest mithilfe der Gerüchteküche in der Schule und von Artikeln aus Zeitschriften zusammen. Derbere Begriffe lernte ich erst im Alter von 26 Jahren beim Lesen eines Callgirl-Blogs mit dem Titel Belle de Jour.
Das beste Buch meiner Mutter war Unser Körper, unser Leben, ein gebundenes Exemplar, das stolz neben anderen stand wie Der weibliche Eunuch von Germaine Greer, Frauen von Marylin French, Jane Fondas Fitness-Buch und einem Buch der britischen Anthropologin und Autorin Sheila Kitzinger (leider war es nicht ihr Klassiker Das Erlebnis der Geburt: Mütter und Väter berichten, der mir möglicherweise für die Geburt geholfen hätte).
Die Ausgabe von Unser Körper, unser Leben meiner Mutter stand schon mein gesamtes Leben lang im Regal. Es wurde gemeinsam verfasst von einer Gruppe von Frauen, und sein Erfolg liegt in der Kombination aus den gesammelten Erfahrungen vieler Frauen und klaren medizinischen Fakten. In den 1990er-Jahren wirkte es ein wenig wie ein kurioses Relikt, wohingegen es sich heute anfühlt wie die Blaupause für die moderne Frauenrechtsbewegung – von der Entmystifizierung von Menstruationsblut in den sozialen Medien bis hin zum Aufstellen von Suffragetten-Statuen in der Nähe des britischen Parlaments.
Wenn ich als Teenager alleine zu Hause war, verbrachte ich Stunden auf dem Fußboden des Esszimmers und starrte auf die zahlreichen Diagramme und Zeichnungen und Fotos. Schamlose Schamhaare, die sich stolz zwischen Frauenbeinen kräuselten, und Zeichnungen von Brüsten. Es gab auch ausführliche medizinische Beschreibungen von Geburten und Fotos von schreienden Babys, eingerahmt von den Beinen ihrer Mütter, aber ich dachte nicht darüber nach, wie sich das wohl anfühlt oder wie anstrengend es sein mag oder was eine Öffnung von zehn Zentimetern Durchmesser bedeutet.
Ich bestaunte das alles, auch wenn ich fand, dass der Vorschlag, mir mithilfe eines Spiegels meinen Muttermund anzusehen, ein bisschen weit ging. Allein schon aufgrund des Winkels erschien mir das undenkbar.
Das erste Mal, dass ich überhaupt in Betracht zog, diese Region in Augenschein zu nehmen, war um 9 Uhr morgens am Tag, nachdem die Wehen begonnen hatten, als die Hebamme Kay mir anbot, mithilfe eines Spiegels zu sehen, wie mein Sohn aus mir herauskam. Aber das Risiko, mein bestes Stück in diesem Zustand zu betrachten, erschien mir, selbst wenn ich das Zittern hätte beenden können, einfach zu groß. Ich versuchte zu scherzen und meinte, der Zeitpunkt, an dem noch irgendetwas hätte bewundert werden können, sei wohl definitiv verstrichen, aber ich sprach wohl so undeutlich, dass mein Mann für mich übersetzen musste: „SIE WILL ES NICHT SEHEN.“
Selbst in diesem Moment, vollgepumpt mit Pethidin, traumatisiert, triefend und pressend, wusste ich es bereits. Ich wusste, dass etwas kaputt gegangen war und dass nicht nur die Hebammen alle Hände voll zu tun haben würden, um mich zusammenzuflicken. Ich wusste allerdings nicht, dass es gar nicht so einfach ist, den Schaden zu beurteilen, wenn man nicht weiß, wie es vorher da unten aussah.