Читать книгу Ich bin nicht ganz dicht - Luce Brett - Страница 22
Donnerstag, Ende August 2007, auf dem Weg zum Baby-Kino und einem Ausflug
ОглавлениеAls mein Sohn und ich auf den riesigen, ächzenden Klinikaufzug warten, fühle ich mich irgendwie beraubt. Bestraft für meine Ehrlichkeit. Mein Herz auszuschütten, hat mir gerade einen Bonus an Schmach gebracht. Physiotherapie. Traumatherapie.
Nach drei Treppen und einer Gebärmutter, die irgendwo auf Höhe meiner Knöchel zu hängen scheint, bin ich am Kino angelangt und schaue mir in der Baby-Vorstellung Das Bourne Ultimatum an. Ich weine, als Paddy Considine erschossen wird und störe mich an der fehlenden Hintergrundgeschichte von Jason Bourne. Mein Sohn liebt das Spiel von Licht und Schatten und lächelt zum ersten Mal richtig, als Matt Damon jemanden zusammenschlägt. Vielleicht übt es auf ihn eine ebenso befreiende Wirkung aus wie auf mich.
Ich schaue mir die attraktiven und adretten jungen Mütter um mich herum an. In meinem klebrigen T-Shirt (Milch) und mit feuchtem Hintern (Pipi) habe ich das Gefühl, dass mir etwas fehlt. Erst später wird mir bewusst, dass es Nannys sind, eine ganz andere Spezies. „Wahrscheinlich hatten sie heute Morgen sogar Zeit, sich die Zähne zu putzen“, denke ich. Das waren die goldenen Zeiten.
Und dann treten wir unsere Reise auf die Isle of Wight an: drei Stunden Fahrt, eine Fähre und als Zugabe noch eine Kettenfähre. Kein Problem. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich es geschafft habe. Mein Vater holt mich und meinen Sohn zu Hause ab und wir machen es uns auf dem Rücksitz bequem. Das Baby weint. Es hört nur damit auf, wenn wir schneller als 100 km/h fahren. Damit wird die Stunde im stockenden Verkehr wegen Bauarbeiten hinter London zu einer komischen Variante von Speed, nur dass ich weder Keanu Reeves noch Sandra Bullock küsse, sondern mich in den Sicherheitsgurten halb stranguliere, als ich versuche, meinen Sohn in seinem Kindersitz zu stillen, während er vor Wut explodiert.
Meine chaotischen ersten Wochen der Mutterschaft erreichen einen Höhepunkt, als wir das Schiff verpassen. Wir hören noch das Klappern der sich schließenden Tore und sehen, wie die majestätische Fähre ablegt. Mein Vater macht etwas unglaublich Nettes. Er kauft mir ein Ticket für eine Personenfähre und sorgt dafür, dass meine Mutter mich und das Baby auf der anderen Seite abholt, während er auf die nächste Autofähre wartet. Das Wasser erscheint im Dunklen wie ein solider schwarzer Block. Aber ihm haftet noch die Erinnerung des sommerlichen Glanzes an, des Schimmers eines Abends am Meer, wenn der Sand noch warm ist und die Sonnenanbeter sich verzogen haben. Ihm fehlt das Beißende des Winters. Es ist groß und weit und glänzend genug, um mich in eine ruhige Stimmung zu versetzen.
Ich lasse den Tag Revue passieren und klammere mich an der ersten Einschätzung der Ärztin fest, dass zwar großer Mist passiert ist, ich aber wahrscheinlich nicht depressiv bin. Ihre Bemerkung über das Trauma habe ich bereits vergessen. Ich bin unendlich erschöpft. Meine Mutter serviert mir warmes Krebsfleisch. Ich bin heute zu viel herumgelaufen, um noch eine gute Gesprächspartnerin zu sein, habe zu viel geredet und in die Hose gemacht und mich erinnert. Zu viel Angst wirft mich aus der Bahn wie eine Art schwammiger Kopfschmerz.
Es ist ein denkwürdiges Wochenende. Ich erlebe unvergleichliche Freude, reiße den ersten Witz über meine lädierten Rohrleitungen und fange an, den Verstand zu verlieren. Und ich dachte schon, meine ursprüngliche Aufgabenliste wäre anspruchsvoll gewesen.
Ich sehe, wie viel Freude andere Menschen an meinem Baby haben. Es ist der beste Teil des Mutterdaseins und er trifft mich völlig unvorbereitet – all diese Einblicke in die Liebe. Ein Freund der Familie findet meinen Sohn „bezaubernd“ und löst damit ein Feuerwerk in meinen Eileitern aus. Mein Vater beugt sich vor und küsst ihn auf die Stirn, und ich sehe all die Liebe, die er für mich und meine Schwestern hatte und von seiner eigenen Familie bekommen hat. Die Liebe, die er sich mit meiner Mutter aufgebaut hat. Die Vergangenheit und die Zukunft der Liebe, gebündelt in diesem einen kleinen Kuss.
Den ersten Witz über meinen lädierten Unterleib reiße ich am folgenden Morgen. Das Ganze ähnelt ein wenig dem ersten Stuhlgang nach der Entbindung – schmerzhafter als erwartet und mit unangenehmen Folgen. Alles in allem keine schöne Erfahrung und nur mäßig witzig obendrein.
Humor dient häufig als Schutzwall und ich fühle mich gerade ziemlich wehrlos. Ich sitze in einem wunderschönen Garten, der dank des milden Klimas der Insel eine grüne Oase bildet. Er liegt hinter einem kleinen einfachen Haus aus dem 19. Jahrhundert und vereinigt Feigenbäume und Tomaten, Statuen und Bonsai-Bäume, eine wilde Wiese und einen Steingarten, aus dem es grün und lila sprießt. Blumen wiegen sich in der sanften Brise, ihr Duft liegt in der Luft. Es ist ein Garten, der mit Liebe angelegt wurde, hinter einem Haus, das die Hoffnung und Erwartung ausstrahlt, dass es Freunde, Kinder und Überraschungsgäste empfangen darf. Auch wenn Tassen, Teller und Besteck nicht zusammenpassen, sind Stärke und Güte im Überfluss vorhanden.
Es war also nicht wirklich fair, dass ein Freund der Familie (der mich seit Kindertagen kennt), eine Geschichte erzählte, in dem es darum geht, dass jemandem „der Arsch aufgerissen“ wurde. Das Gespräch fand am anderen Ende des Gartens statt und ich war gar nicht beteiligt. Dennoch fühlte ich mich aufgerufen, laut und spitz zu antworten:
„Das reicht jetzt aber. Einigen von uns wurde wirklich der Arsch aufgerissen – und er ist noch nicht einmal wieder ganz zusammengewachsen.“
Nun gut, es war ein Anfang.
Ich glaube, mir wurde in diesem Moment bewusst, dass Humor sowohl meine Rettung als auch mein Verderben sein würde. Diesmal fing mich die Liebe der Familie auf, und ich dachte nicht weiter darüber nach, dass ich mich ganz beiläufig zur Zielscheibe des Spotts gemacht hatte. Ein Sündenbock für alles. Es fiel mir auch nicht auf, dass ich begonnen hatte, öffentlich grobe Dinge über meinen Körper zu sagen, als Auslassventil für meinen Schock und meine Wut. Ganz sicher war mir nicht klar, dass gar keine Notwendigkeit dafür bestand, denn die meisten Menschen sind nett genug, dir zuzuhören, dein Entsetzen zu teilen und dir mit Güte zu begegnen, wenn es dir wirklich richtig dreckig geht. Du musst nicht fluchen und herumschreien.
Doch selbst in meinen traurigsten Momenten bleibe ich eine ewige Romantikerin und Optimistin. Als die Sonne untergeht, denke ich: „Es wird alles wieder gut, oder?“
Ich klammere mich an die positiven Dinge, so gut es geht. Ich habe ein Baby. Und es ist Sommer. Und es gibt sogar Eiscreme. Mein Sohn ist die Raupe Nimmersatt, rosig in einem grünen Strampler. Ein neugieriger Kurgast aus dem 19. Jahrhundert im Schatten des viktorianischen Hauses. Ich bin immer noch in der Lage, die Schönheit der Welt zu sehen.
Am nächsten Morgen stille ich meinen Sohn auf einer Terrasse an der Seemauer, im blauen Licht der Dämmerung. Die Welt schläft, aber das Meer ist wach und immer da.
Die frische klare Luft erinnert mich an Sylvia Plath und ihr Gedicht „Morgenlied“, in dem sie beschreibt, wie sie „kuhschwer und blumig“ in ihrem viktorianischen Nachthemd aufsteht, bezaubert von der „Handvoll Musiknoten“ ihres Babys, dessen Vokale „schweben wie Luftballons“. Sylvia hat keinerlei Zweifel daran, dass die Liebe es aufgezogen hat wie eine „dicke goldene Uhr“.1 Ich denke einige Sekunden über Plath nach, aber sie scheint mir eher ein unheilvoller Bezugspunkt zu sein und ich schiebe die Gedanken beiseite.
Ich erlerne an diesem Wochenende auch praktische Fertigkeiten, wie man beispielsweise offene Arme entdeckt, die bereit sind, ein Baby eine halbe Stunde lang zu halten, wenn man vor Müdigkeit selbst fast umfällt.
Größtenteils aber löse ich mich auf. Tief in meinem Inneren, als ich ins Meer steige, die Brüste hart und schwer mit Milch. Es sticht, aber ich weiß, dass nicht das Salzwasser das Problem ist. Ich kann den Spinnaker Tower sehen, der auf dem Festland gleich gegenüber vom Strand aufragt. Der Kanal zwischen Insel und Festland ist zu schmal, um mich zu verschlingen. Ich wünsche mir, dass das Meer sich ausdehnt und alles überschwemmt. Als wir zum Haus meiner Eltern zurückkehren, folge ich den Geräuschen meines Babys wie einem Lied, das in meinem Kopf festhängt, während ich herumirre. Ich weiß, dass irgendetwas in der Luft liegt.
Bei den Recherchen für dieses Buch gehe ich meine E-Mails und Entwürfe durch und finde eine der wenigen Sachen, die ich während des Mutterschaftsurlaubs geschrieben habe:
Du liegst auf dem Boden im Haus deiner Eltern und es bedrängt dich von allen Seiten. Du denkst: „Ich könnte mich einfach unter die Wellen legen.“
Deine Arme und Schultern spüren die Schwere, noch bevor du den Gedanken zu Ende gedacht hast. Deine Knie schmerzen. Es ist keine Selbstmordabsicht, kein Plan, nicht einmal ansatzweise. Aber es ist real und es hängt in der Luft.
Du weißt, dass du nicht hingehen und dich ertränken würdest. Du würdest nicht von der Kaimauer springen oder dich von der Fähre stürzen. Aber wenn du stillstehst, kommst du nicht gegen das Gefühl an, dass du es tun könntest.
Ein Schalter in deinem Bauch wird umgelegt. Tief in deinem Inneren weißt du bereits, dass du es niemals wirst vergessen können. Du gehst hinüber zu deinem Baby, das auf dem Boden liegt, und legst dich daneben.
Aus der Stereoanlage deines Vaters ertönt Macy Grays „I try“. Du denkst nach über den Song, du schaust auf dein perfektes Baby, und du entspannst dich. Das Gefühl des Unwohlseins beginnt sich aufzulösen. Es besteht eine Chance, eine winzige Chance, dass das Lied, der Moment, die Liebe für deinen Sohn dich gerettet haben. Du schaust auf dein Kind. Seine Schönheit und Perfektion übersteigen deine Vorstellungskraft. Es ist mehr, als du dir erhofft hast. Du denkst, dass dies das Ende ist. Aber dieser Gedanke war erst der Anfang.
Ich denke oft an sie, die frischgebackene Mutter, gezeichnet von den Nachbeben der Geburt, in die Dunkelheit entschwebend. Es erfüllt mich mit Trauer, dass sie einfach nicht wusste, wie sie all dem Ausdruck verleihen sollte.
Ich möchte sie in den Arm nehmen und ihr übers Haar streichen, weil sie allen Grund hatte, sich zu fürchten. Denn es war erst der Anfang.