Читать книгу Ich bin nicht ganz dicht - Luce Brett - Страница 27
Oktober 2007, Abend, Wohnzimmer voller Windeln und Arztbriefe, vor dem Laptop sitzend mit einer Flasche Wein
ОглавлениеEine besondere Clique von Müttern mit Geburtsverletzungen nimmt mich unter ihre Fittiche. Sie werden so etwas wie Ersatzschwestern für mich. Alle haben ihre eigene Geschichte und jubeln mir zu, als ich zugebe, dass mein bestes Stück Physiotherapie braucht.
Es gibt natürlich eine stillschweigende Hierarchie, was schreckliche Geburtserlebnisse angeht. Ich bin Teil des Teams, aber zum Glück kein Star. Mein Riss ist ein Riss zweiten Grades, ich und mein Sohn leben und ich habe keinen künstlichen Darmausgang. Dennoch verstehen diese Frauen, warum ich manchmal nicht das Gefühl habe, Glück gehabt zu haben. Wir reden nicht dauernd über unsere kaputte Vagina, aber wenn das Thema aufkommt, ziehen wir eifrig Vergleiche.
Heute Abend geht es um das Thema Nähte. Ein Klassiker. „Da kann ich mitreden“, denke ich. Mein Beitrag sieht in etwa so aus:
„Alle, die meine Narben und Nähte sehen, finden sie wunderschön (Einleitung). Die Hebammen, die zu mir nach Hause kamen, erwähnten die Kollegin, die mich genäht hat, namentlich und lobten ihre Arbeit, und zwar noch bevor sie meine Akten sahen … (Spannungsaufbau) … Ich beginne mich wirklich zu fragen, ob sie vielleicht ihren Namen eingestickt hat.“ (Pointe!)
Mein Beitrag bekommt jede Menge „Ich-bepisse-mich-vor-Lachen“-Kommentare und Emojis. Eine der Mütter fragt, wie es jetzt da unten aussieht, und ich antworte, dass ich mich nicht traue nachzusehen.
Ich sage, dass es meiner Schätzung nach wohl dem völlig zerzausten Bart von Herrn Zwick ähnelt, den der Schriftsteller Roald Dahl erfunden hat. Ich bin froh, dass der Chat anonym ist.
„Sitzt der kleine Mann noch in seinem Boot?“, fragt sie (und meint damit, ob es meiner Klitoris gut geht). Ganz schön offenherzig.
Ich johle vor Lachen, und mit einem Glas Wein intus, das ich mir leisten kann, weil mein Mann zu Hause ist, denke ich: „Verdammt nochmal, ich schaffe das“. Ich werde mir das Ganze anschauen, die Schwellung ist jetzt abgeklungen. Dabei stelle ich fest, dass einige Rüschen und Falten hinzugekommen sind, aber ja, er sitzt noch im Boot!
„Gerade so eben!“, antworte ich. Wir füllen den Bildschirm mit vor Lachen weinenden Smileys.
Das Lachen und Nachschauen haben allerdings einen Nerv getroffen. Wir mögen das anatomische Tabu gebrochen haben, doch niemand spricht über die seelischen Nöte.
„Ich fühle mich ziemlich beschissen und es hat mich ganz schön emotional getroffen“, gestehe ich. Keine Antwort. Hier herrschen Freundlichkeit und Güte, aber meine trüben Gedanken bleiben ohne Echo. Selbst hier, mitten in der intimsten Nabelschau, darf die Verzweiflung nur bedingt ans Licht kommen.
Am Ende antwortet mir die Boot-Frau und sagt, dass sie es nicht schafft, darüber zu reden, wie sie sich fühlt. Das ist das Problem, wenn zwei Tabus sich ein Bett teilen.