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Donnerstag, Ende August 2007, Café mit acht Müttern und acht Kinderwagen, die um einen Tisch voller Stilleinlagen geparkt sind

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Mein Blick schweift über die Runde der Frauen aus meinem Geburtsvorbereitungskurs. Wir flüstern, als wären wir Komplizinnen bei einem Verbrechen oder Geschworene, die eine schreckliche Wahrheit erfahren haben und nun damit leben müssen. Wir erzählen unsere Geschichten. Die Geburt war eine Schlacht und die Zeit danach ein wildes Durcheinander. Diejenigen von uns, die am meisten betastet und untersucht wurden und deren Geburten am schwierigsten waren, fühlen sich ein wenig wie Relikte, fast so, als wären wir als Person gar nicht mehr vorhanden.

Es tut gut zu hören, dass ich nicht die Einzige bin, die auf dem falschen Fuß erwischt wurde. Obwohl ich mich nicht ganz wohl fühle bei dem Gedanken, für die obligatorische Untersuchung sechs Wochen nach der Geburt wieder an den Ort des Geschehens zurückzukehren, höre ich von allen Seiten, dass wir alle Anfängerinnen sind und die Geburt nun endgültig vorbei. Es ist Zeit, unsere Babys zu genießen.

Ich blicke auf meinen Sohn. Er sieht recht glücklich aus, auch wenn er seine Socken einfach nicht anbehält, egal wie viele ältere Damen mich an der Bushaltestelle tadeln. Die anderen meinen es natürlich gut – wir kennen einander kaum, aber sie sagen mir, ich werde das mit Bravour bestehen. Nur noch diese Untersuchung und dann kann es wieder vorwärts gehen.

Ich hole tief Luft. Vielleicht ist heute der Anfang vom Ende dieses ganzen medizinischen Wahnsinns und ich kann weiter auf der Woge des Selbstvertrauens reiten, das die frischgebackenen Mütter mir vermittelt haben. Außerdem habe ich mir den Tag in weiser Voraussicht – und weil ich am Rande des Wahnsinns stehe, auch wenn ich verzweifelt versuche, es mir nicht anmerken zu lassen – mit Aktivitäten vollgepackt, damit ich nicht ins Grübeln komme. Ich ignoriere den Ratschlag unserer Kursleiterin, dass EINE Sache am Tag mehr als genug ist und wir uns in den ersten Wochen darauf konzentrieren sollten, wieder zu Kräften zu kommen. Schon bevor das „Fear of missing out“-Phänomen in den sozialen Medien auftaucht, leide ich eindeutig an FoMO – der Angst etwas zu verpassen.

Der heutige Plan sieht vor:

1. Frischgebackene junge Mütter zum Kaffee treffen – ERLEDIGT

2. Meinen Intimbereich vom Expertenteam absegnen lassen – IN PLANUNG

3. Kinovorstellung für Mütter mit Babys besuchen – WARUM NICHT? Und …

4. Mit meinem Vater auf die Isle of Wight fahren. WAS. FÜR. EINE. SCHEISSIDEE.

Innerhalb der nächsten Stunde ist Punkt 2 auf der Liste in Arbeit.

Ich sitze in dem nüchtern eingerichteten Behandlungszimmer und versuche, nicht auf die vergitterten Fenster zu schauen, während eine geschäftig wirkende Ärztin ihre Liste durchgeht und ich ihr erzähle, was heilt und wo ich Schmerzen habe. Sie wirft einen kurzen Blick in meine Vagina und zeigt sich angetan von den sauber ausgeführten Nähten.

An diesem Punkt breche ich dann doch zusammen und weine leise vor mich hin, während ich von den vergangenen Wochen erzähle, die mich hierhin gebracht haben, in den Raum für die komplizierten Fälle, anstatt zu meiner freundlichen Ärztin, die ich normalerweise aufsuche. Ich höre erst auf zu heulen, als wir über meine Psyche sprechen und ich beruhige uns beide mit den furchtbar klingenden (aber wahren) Worten: „Nein, natürlich möchte ich meinem Kind nichts antun. Mein Sohn ist wunderbar und er kann ja auch gar nichts dafür.“

Ich habe bereits zugegeben, dass ich ein wenig Angst davor habe, depressiv zu werden. Die Ärztin widmet mir noch ein wenig mehr von ihrer Zeit, auch wenn sie bestimmt wie alle anderen gedanklich schon beim morgigen Feiertag ist.

„Sie hatten keine einfache Geburt, Luce“, sagt sie mitfühlend. „Ich glaube, dass das niemand so leicht wegsteckt.“

Irgendwie läuft dieses Gespräch zu glatt. Obwohl ich ihr nichts erzähle von den Wellen der Traurigkeit, den Flashbacks und den Albträumen, und obwohl wir die Möglichkeit einer Wochenbettdepression ausschließen, habe ich das Gefühl, sie versteht mich nicht richtig. Niemand versteht mich: Es fühlt sich da unten wirklich sehr, sehr anders an als zuvor. Sie beginnt mir zu erzählen, dass es eine Weile dauern kann, bis sich wieder alles normal anfühlt und verheilt ist und dass ich Beckenbodenübungen machen soll.

„Ich versuche es ja …“, setze ich an.

„Ich weiß, es ist nicht leicht, aber Sie werden sehen, dass es hilft“, fährt sie fort und schaut auf meine überquellende Akte. „Am besten suchen Sie sich etwas aus, das sie regelmäßig tun, wie beispielsweise morgens die Waschmaschine befüllen oder Abwaschen oder Zähneputzen, und machen dabei Ihre Übungen.“

Ich sage nichts. Schließe meine Augen. Spüre, wie meine Wangen beginnen zu glühen.

Es ist etwas an diesem Moment der Stille. Vielleicht weckt er Erinnerungen an den Kreißsaal an jenem Morgen. Vielleicht ist es auch der Blick auf das erhöhte Arbeitspensum, das die Mutterschaft mit sich bringt. Mittlerweile ist ermüdende Hausarbeit so alltäglich wie es zuvor, keine Ahnung, Masturbieren oder eine neue Folge von Inspector Barnaby waren. Vielleicht ist es das leichte Zittern im Atem meines Sohnes, wenn er im Schlaf seufzt, weil er meinen Duft wahrnimmt – diese pummeligen Kinderfäustchen, das Gesicht so selig wie ein schlafender Papst – oder es sind die Milchflecken, die sich auf meinem Top bilden. Oder der Sonnenstrahl, der in mein Auge und auf meine Akte fällt. Vielleicht bemerke ich auch erst jetzt, dass ich eher entnervt bin als müde. Jedenfalls fällt mir plötzlich auf, wie verrückt ich mich verhalte. Ja, ich möchte diesen Ort nie wieder sehen. Aber es muss auch endlich jemand die ganze Wahrheit hören. Ich KANN mir nicht länger eine Litanei von Standardratschlägen anhören, die sich so anfühlen, als wären sie für jemand anderes gedacht.

„Darum geht es nicht. Ich mache die Übungen jeden Tag. Aber, also es ist so … Selbst wenn ich sie mache, kann ich nichts spüren. Also nicht so richtig. Beim Zusammendrücken fühlt es sich so an, als wäre da – gar nichts.“

Sie legt den Kopf schräg und den Stift hin. Und versucht ihre Frustration darüber zu verbergen, dass ihre Patientin ihr, gerade als sie die Untersuchung eigentlich abschließen will, noch mit so etwas kommt. Vor allem eine Patientin, deren Nähte sie sich schon angeschaut hat.

„Beschreiben Sie das einmal genauer“, sagt sie. „Wie anders fühlt es sich an?“

„Als wäre es kaputt. Als könnte ich gar nichts steuern. Manchmal bemerke ich gar nicht, dass ich pinkle. Es läuft einfach los und ich bemerke es erst, wenn es schon zu spät ist. Ich weiß auch nicht, ich habe einfach das Gefühl, dass ich sehr oft in die Hose mache. Aber vielleicht bin ich nur übermüdet. Das ist ganz normal, oder?“

„Mist“, denke ich, während ich mich reden höre. Gleichzeitig wird mir klar, dass ich vielleicht eine dieser Frauen bin, über die in meiner Kindheit hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde. Die geflüsterten Bemerkungen über Tante X oder Frau Soundso, die nicht für Kinderohren gedacht waren. Die mitfühlenden Blicke für die still vor sich hin leidenden Frauen, die ein Baby bekamen und danach „nie wieder die alten“ waren. Panik steigt in mir auf, aber mein Mund scheint auf einmal das nächste Organ zu sein, dessen Überlaufen ich nicht verhindern kann. Ich blicke in eine Zimmerecke, als es aus mir herausplatzt:

„Ich kann den Urin einfach nicht halten. Wenn ich lache oder die Treppe hochsteige. Manchmal geht es einfach los, wenn ich stille oder das Baby halte. Ich kann nichts dagegen tun. Und nichts ist mehr an seinem richtigen Platz.“

„Legen Sie sich noch einmal auf die Liege“, sagt sie, weniger salopp, als ich es mir wünschen würde, aber dafür mitfühlend. „Es wird Ihnen nicht gefallen, aber …“

„Oh Gott!“, denke ich. Panik ergreift mich. Sie wird mir sagen, dass meine Scheide zu groß oder zu eimerartig ist, um ihre Hand hineinzustecken, oder dass meine arme kleine Vagina aussieht wie eine zusammengefaltete Salamischeibe, weil sie irgendetwas falsch zusammengenäht haben, oder dass da ein Abszess ist, den ich zu schlampig war zu bemerken, oder noch mehr blutige Plazenta – und ich muss womöglich wieder auf die Entbindungsstation. Oder, schlimmer noch, dass ich schon wieder schwanger bin oder die ganze Zeit noch ein weiteres Baby in mir steckte.

Die Wahrheit ist noch viel schlimmer.

„Husten Sie bitte einmal“, sagt sie. „Ein kräftiger Huster.“

Ich zucke innerlich zusammen. Bis zu diesem Moment war eigentlich nichts peinlich, sondern eher ungewohnt. Ich bin von all diesen medizinischen Vorfällen so traumatisiert und der Erfahrung, wie ein Stück Fleisch auf Liegen und Betten bearbeitet zu werden, dass ich vergessen habe, wie es ist, ein Mensch zu sein, ein soziales Wesen, das ganz normale Dinge vor anderen Menschen tut. Mir wird klar, dass ich beschützt werden will. Ich kann jetzt nicht husten – der Urin wird aus mir herausschießen wie aus einem Springbrunnen und meine Nähte werden schmerzen und meine Innereien sich so anfühlen, als würde alles aus mir herausfallen, nur mit einer Pfütze Pipi als Belohnung anstatt eines wunderbaren Babys. Außerdem wird die ganze Bescherung an mir hinablaufen und sich am Rücken sammeln und mein T-Shirt versauen. Zum Kino muss ich den Bus nehmen, und ich habe keine Ersatzklamotten dabei.

„Ich weiß, dass Sie wissen, was jetzt passiert, aber halten Sie sich bitte nicht zurück“, sagt sie mit Nachdruck.

Ich huste vorsichtig und es tröpfelt aus mir heraus.

„Das können Sie besser“, ermuntert sie mich.

Nachdem sie sich alles gründlich angeschaut hat, ich von den Tröpfchen zum Schwall gelangt bin und sie mich (sehr vorsichtig) abgetastet hat, lehnt sie sich zurück, zieht die Handschuhe aus und wäscht sich die Hände.

„Sie haben einen Prolaps“, sagt sie seufzend und wendet mir mitfühlend den Rücken zu. Ich habe das Gefühl, sie irgendwie enttäuscht zu haben, obwohl ich im Rückblick glaube, dass sie wusste, dass es einfach nur ein Schuss ins Blaue war. Und dann geht es los. Anatomische und diagnostische Begriffe schwirren durch den Raum. Die Rede ist von „schwer“ und „Belastungsinkontinenz“, „Harndrang“ und „Blasenentleerung“. Ich werde gefragt, wie viele Einlagen ich am Tag verbrauche und ob ich nachts ohne auskomme. Trotz der Lawine an Worten höre ich ein Maß an Mitgefühl heraus, das mich erschaudern lässt.

„Es fühlt sich so an, als würde etwas aus mir herausfallen“, werfe ich ein.

Sie erklärt mir, was ein Vorfall (oder eben Prolaps, um den medizinischen Begriff zu benutzen) ist. Meine Gebärmutter drückt auf die Wand der Scheide, sodass eine Ausbeulung entsteht. Sie erklärt es genau und klar und unter Verwendung medizinischer Begriffe.

Ich denke nur: „MEINE VERDAMMTE GEBÄRMUTTER FÄLLT AUS MIR HERAUS.“

„Was führt sonst noch dazu, dass Urin abgeht?“, fragt sie mich, während ich unbeholfen von der Liege klettere und einen weiteren Schwall Urin verliere.

Und dann erinnere ich mich an das Schlimmste. Irgendwo in der verschwommenen Welt der Vorbereitungskurse, Gespräche mit Freunden und vorsichtigen Fragen in Online-Foren habe ich den Eindruck gewonnen, man sollte vor der Sechs-Wochen-Untersuchung Sex haben, um herauszufinden, ob alles ohne Probleme funktioniert. In Wahrheit ist das kein so großartiger Tipp, vor allem deswegen, weil wir alle anders sind und die Ärztinnen und Ärzte schon wissen, was zu tun ist. Aber ich wollte einfach nur normal sein. Mein Mann ist von Natur aus ebenfalls fügsam. Beide haben wir in der Grundschule die Milch verteilt und wir halten uns an Regeln. Außerdem hatte der Quickie, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung ist, spaßig geklungen, als wir im Geburtsvorbereitungskurs Witze darüber gerissen hatten. Als wir noch dachten, dass wir für alle Eventualitäten vorgesorgt hätten.

Natürlich haben wir uns brav an die Empfehlung gehalten. Auf dem Treppenabsatz, im Halbdunkel, mit jeder Menge Kissen und überschaubarer Romantik. Unser Schlafzimmer war von unserem schlafenden Baby in Beschlag genommen. Soll ich ihr erzählen, dass es auch dabei passiert ist? Oder ist das selbst für eine Ärztin zu viel Information? Ich traue ihr schon zu, sich das anzuhören – schließlich redet sie tagtäglich über gedehnte und eingerissene Genitalien (was für ein Job!). Ich weiß nur nicht, ob ich das packe.


Ich nehme all meinen Mut zusammen und beschließe, mich nicht mehr zurückzuhalten und mich ganz zu zeigen. Unsere Augen treffen sich.

„Ich mache mir bei allem in die Hose, bei einfach allem“, höre ich mich sagen, und meine Stimme klingt blechern und trotzig zugleich.

Sie nickt, um anzudeuten, dass Mitgefühl angebracht ist, auch wenn sie es nicht geben kann. Wir haben beide keine Zeit dafür, dass ich noch einmal in Tränen ausbreche. Vielleicht höre ich dann nie wieder auf. Sie nimmt den Stift in die Hand und fängt an zu planen.

„Sie brauchen auf jeden Fall schnellstmöglich einen Termin bei den Physiotherapeutinnen hier“, sagt sie. „Ich stelle die Überweisung gleich aus.“

Ich starre sie fassungslos an. Ich kann nicht noch einmal hierherkommen. Auf gar keinen Fall. Das würde sich anfühlen wie Tod oder Folter. Ich werde in der Eingangshalle hyperventilierend zusammenbrechen.

„Man kann da heutzutage schon viel machen“, sagt sie. „Machen Sie sich keine Sorgen, wirklich.“ Wahrscheinlich denkt sie, ich würde mich schämen.

„Das ist es nicht. Ich …“

„Es gibt Kurse im Übungsraum …“

ES GIBT KURSE? IN EINER ART TURNHALLE? Wir pinkeln uns alle zusammen in die Hose? Wir sind die Übriggebliebenen von der Resterampe, die niemand in seiner Mannschaft haben will? Meine Panik erreicht einen neuen Höhepunkt. Ich bin inkontinent und ich muss zurück in die Turnhalle?

„… aber ich denke, in Ihrem Fall ist ein Einzeltraining wohl besser.“

Ist es das?

Mein Sohn quäkt. Ich sehe seine Zehen unter der gelben Decke herauslugen. Umwerfend. Zum Anknabbern. Meins.

Ich muss fast lächeln. Ich bin tapfer. Ich kann das alles für ihn durchstehen, für uns. Ich kann es zumindest versuchen.

„Die Kolleginnen hier sind wirklich kompetent.“

Ich schließe die Augen, doch ich kann ihren Blick durch meine geschlossenen Lider wahrnehmen. Sie versucht einzuschätzen, wie aufgelöst ich bin.

„Ich glaube, sie brauchen vielleicht auch eine Traumatherapie“, fügt sie hinzu und greift nach einem weiteren Überweisungsblatt.

Sie glaubt?

Dieser Tag, an dem mir klar wurde, dass mein Problem über seltene „Hoppla“-Momente hinausging, hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Ein Jahr später schrieb ich einer Freundin:

„Ich schätze mal, es wird ganz nett auf der Isle Of Wight, aber ich bin ein wenig nervös, weil – und ich weiß, dass das Unsinn ist –, wir genau das auch letztes Jahr gemacht haben, und der damalige Donnerstag war einer der schrecklichsten Tage meines Lebens.“

Wahrscheinlich ist das gar nicht so überraschend. Eine Diagnose wirft einen immer aus der Bahn, selbst wenn man schon länger geahnt hat, dass irgendetwas nicht stimmt.

Ich bin nicht ganz dicht

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