Читать книгу In und um Russland herum - Manfred Stuhrmann-Spangenberg - Страница 13
Nida, Litauen
ОглавлениеDer nördliche und östliche Teil der russischen Exklave Kaliningrad grenzt an Litauen, wobei ein nicht geringer Teil der 227 km langen Landesgrenze inmitten der Memel liegt.
Nida
In Nida (Nidden) bin ich mit Kazimieras Mizgiris verabredet, dessen erste große Leidenschaft man mit einem kurzen Spaziergang von Nidas Bushaltestelle schnell erreichen kann: Sanddünen. Kazimieras ist Fotograf und liebt Sanddünen so sehr, dass er am liebsten alle Sanddünen dieser Welt fotografieren möchte. Seit Jahren schon verbringen er und seine Frau die Winter in Ägypten (wo es wohl auch ein bisschen Sand geben soll), jetzt träumt er von einer Reise nach Namibia, da gäbe es besonders schöne Dünen. Wo es allerdings die allerschönsten Dünen gibt, nun, da lässt Kazimieras keinen Zweifel aufkommen: natürlich hier, auf der Kurischen Nehrung.
Seit es ihn 1969 hierher verschlagen hat, zuerst nach Juodkrante, also Schwarzort, und dann 1973 nach Nida, bestimmen die Dünen einen Teil seines Lebens. „Ich bin ja nicht der berühmteste Dünenfotograf der Welt, aber ich habe schon viele Medaillen, wie bei der Olympiade, bei internationalen Ausstellungen gewonnen.“ Zu Sowjetzeiten, als Angestellter eines Fotokombinats („es gab ja nicht die Möglichkeit, selbstständig zu arbeiten“), lebte er davon, Touristen aus allen Teilen der Sowjetunion in den Dünen, vor einem Fischer- oder dem Thomas Mann Haus zu fotografieren. „Nachts habe ich dann mit meinem Kollegen im Labor die Fotos entwickelt, das war eine gute Arbeit, morgens bekamen dann die Touristen die Fotos. Es gab damals nur wenig Übernachtungsmöglichkeiten, keine großen Hotels.“
Viel wichtiger als die Fotos mit Touristen war es ihm aber, die Dünen künstlerisch darzustellen.
„Die größte Veränderung nach der Unabhängigkeit Litauens war die gewonnene Freiheit, jetzt konnte man eigene Initiative(n) zeigen, seine Ideen und Wünsche verwirklichen. Ich konnte ein Museum eröffnen und ein Künstlerhaus bauen, Künstler unterstützen, Bücher publizieren. Das fing damit schon in der Wendezeit an. Gerhard Rautenberg, ein Verleger aus Leer, machte damals in Schwarzort Urlaub, sah meine im Hotel Ąžuolynas ausgestellten Bilder und hat sofort angeboten, ein Buch damit herauszugeben. Litauen war noch nicht frei und er hat meine Negative hinaus geschmuggelt.
Als das Buch dann gedruckt war, wurde ich nach Hamburg eingeladen, wo das Buch vorgestellt wurde. Für das Visum musste ich bis nach Moskau fahren. Ich habe dann illegal meine Bilder nach Hamburg gebracht und sie dort gerahmt. Da gab es dann neben der Buchvorstellung noch eine Fotoausstellung!“
Allerdings gab es zu Sowjetzeiten keine Grenze auf der Kurischen Nehrung. „Das war ein großer Vorteil, ich konnte frei durch alle Dünen der Kurischen Nehrung laufen und fotografieren, morgens nach Pillkoppen laufen und abends zurückkommen. Jetzt muss ich an der russischen Grenze umkehren. Oder ich muss ein Visum besorgen, mit dem Auto nach drüben fahren, dort parken und dann zurück zur Düne nahe der Grenze laufen. Nur dann kann ich diese Düne so fotografieren, wie ich mir das vorstelle. Für den Künstler ist dieser Zaun sehr kompliziert.“
Kazimieras ist allerdings nicht nur Fotograf und Künstler, er ist weit über die Grenzen seines Landes hinaus auch als der litauische Bernsteinpapst bekannt. Er betreibt mit mehreren Mitarbeiterinnen ein sehr schönes Bernsteinmuseum in Nida, demnächst will er umziehen in ein größeres Gebäude, die ehemalige deutsche Jugendherberge. Alle seine Exponate haben ihre eigene Geschichte, sei es ein besonders seltener Fund aus Mexiko oder seien es die beeindruckenden Stücke mit Einschlüssen oder die mit alten Werkzeugen kopierten Stücke des weltberühmten Schatzes aus Schwarzort, einer steinzeitlichen Bernstein-Amulett-Sammlung.
„Viele Exponate unseres Bernsteinmuseums sind aus der Exklave Kaliningrad, dort habe ich Lebensmittel gegen Bernstein eingetauscht oder den Bernstein gekauft, im kleinen Grenzverkehr.“
Ich möchte wissen, ob denn auch jetzt noch viele Russen nach Nida kämen. „Es kommen viele Russen am Wochenende mit dem Auto, um Einkäufe zu machen, Lebensmittel im Supermarkt. Die kommen nicht in unser Museum, die haben zu Hause in Kaliningrad ja auch ein Bernstein-Museum. In dieser Woche hatten wir aber viele Individualtouristen aus Russland, zum Beispiel Moskau, weil dort gerade Ferien sind. Die lieben die baltischen Länder, viele waren schon mal da, vor 30, 40 Jahren. Die wollen schauen, was sich seit damals verändert hat. Damals waren sie vielleicht von den Dünen beeindruckt, sie lieben immer noch die Natur hier. Gestern waren welche aus Moskau hier, die klagen über ihre schlechte Luft und die Unordnung zu Hause, hier können sie sich wirklich erholen.“
Und andersherum, interessieren sich die Litauer für Russland? „Litauer interessieren sich im Allgemeinen wenig für Russland. Das Land ist uns ja bekannt, weil wir durch Russland reisen konnten. Ich interessiere mich da mehr für andere ehemalige Länder der UdSSR wie Georgien, Usbekistan. Was kann man in Russland schon Neues sehen? Dieselben Häuser wie früher, die jetzt fast kaputt sind? Die Russen machen in Kaliningrad nichts, sie interessieren sich nicht für die Stadt, für deren Geschichte. Fahren sie mal aufs Land, raus aus Kaliningrad. Da gibt es so viele alte Kirchen und die Russen warten nur darauf, dass die ganz zusammenfallen. Bloß nichts Altes reparieren, lieber was Neues bauen. Das ist deren Mentalität. Oh, wir haben den Krieg gewonnen, da ist ein schönes freies Haus, na, ist halt ein deutsches, nicht von uns.“
Schließlich kommen wir auf die Politik zu sprechen, auch hier ein eher unerfreuliches Thema. „Die Situation mit der Ukraine hat uns natürlich erschreckt. Wie kann man heutzutage einfach handeln, ohne Diplomatie, ohne zu fragen. Natürlich hat das Handeln der Russen in der Ukraine auch uns Angst gemacht. Man kann nicht prognostizieren, was sich Putin noch so überlegt. Für uns ist es einfacher, wir sind in der NATO, in der EU. Nicht umsonst hat unser Präsident, nachdem das in der Ukraine passiert ist, die NATO und Europa um Hilfe gebeten. Die Russen könnten sonst ganz schnell mit Panzern zu uns kommen, in nur 10 Minuten. Durch den Schutz der NATO können wir uns sicherer fühlen, da können die Russen nicht einfach kommen. Russland macht in der ganzen Welt Stress. Deutschland ist groß, aber die baltischen Staaten sind klein. Die Menschen verstehen sich doch, wir lieben die Russen, aber nicht deren Politik!“
Als ich einwerfe, dass ich das fast genauso in Russland höre, wo man mir sagt, dass man die Polen und die Litauer liebe, dass das Problem die amerikanische Politik sei, da antwortet Kazimieras mit aller Schärfe: „Warum Amerika? Wo ist Amerika auf der Krim, in der Ukraine? Da ist Amerika nicht. In Moldawien, in Georgien? Die Russen nehmen sich immer einen Teil und wollen Unruhe schaffen. Was hat das denn mit Amerika zu tun? Die Russen nehmen das nur als Ausrede. Nach dem Motto: Wir sind doch nicht schuld, es sind die Amerikaner. Es gab doch nach dem Ende der UdSSR überall neue Grenzen. Und jetzt hat Russland auf einmal entschieden, wieder zu den alten Grenzen zurückzukehren. Putin will ja noch länger in der Politik bleiben und er erweckt so den Eindruck, dass er immer handlungsfähig ist und Russland keinen anderen Präsidenten haben kann. Das russische Volk soll also immer größer und reicher werden, bravo Putin, bravo Putin! Er ist ein sehr cleverer Politiker. Unter Jelzin und Medwedjew war für uns alles besser mit Russland, ein Mensch macht jetzt alles kaputt! Sie kennen doch die Geschichte, Hitler, Mussolini, Lenin, Stalin – ein einzelner Mensch kann viel kaputtmachen. Das Volk ist nicht schuld, es ist nur ein Spielzeug.“
Das ist eindeutig und hat gesessen. „Genug geredet, kommen Sie, gehen wir etwas essen“, dieser Aufforderung kann ich nicht widerstehen. Selbstverständlich habe ich nicht die geringste Chance, meine vorzüglichen Kartoffelpuffer mit Heringsbeilage selber zu bezahlen, stattdessen lädt mich Kazimieras noch schnell zu sich nach Hause ein und präsentiert einen Traum von einem Haus, architektonisch, künstlerisch, alles sehr, sehr aufregend und einladend, hier könnte ich es noch länger aushalten. Doch nach einem Abschiedstrunk packt mir Kazimieras noch einen selbst getrockneten Fisch ein und bringt mich (ich leicht beschwipst, er völlig nüchtern) gerade rechtzeitig zum Busbahnhof.
Mein neuer WhatsApp–Freund drückt mir noch einmal kräftig die Hand, und weiter geht es, bye bye Nida. Meinen ursprünglichen Plan, mal wieder auf die Dünen bei Nida zu klettern und/oder das Thomas Mann Haus zu besuchen, hat Kazimieras´ Gastfreundschaft völlig über den Haufen geworfen.