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Kybartai, Litauen
ОглавлениеNach Spaziergängen durch und Übernachtungen in Klaipeda (dem nunmehr wieder sehr schmucken ehemaligen Memel) und Kaunas (der sehenswerten, laut Reiseführer wohl litauischsten aller litauischen Städte) zieht es mich für einen kurzen Besuch wieder an die litauisch-russische Grenze, nach Kybartai. Der dortige Bahnhof ist mein Ziel. Es gibt hier nicht viel zu sehen, eher gar nichts. Das Bahnhofsgebäude ist klein, nun ja, der Größe Kybartais angemessen. Aber ich stehe vor den kümmerlichen Resten eines im wahrsten Sinne des Wortes großen Bahnhofes. Früher war hier der Bahnhof Wirballen, auf Russisch Werschbolowo, der russische Grenzbahnhof zu Preußen an der Bahnstrecke St. Petersburg – Berlin. Selbst der Zar und seine Familie mussten hier aussteigen, wenn sie per Bahn nach Berlin reisten, da hier die russische Breitspur endete und man auf mitteleuropäischer Normalspur weiterreiste.
Entsprechend prächtig war das Bahnhofsgebäude damals ausgestattet, was im Jahre 1903 auch Zabel zu schätzen wusste, als er hier von Preußen nach Russland einreiste: „Mein Einführungsbrief von der russischen Botschaft in Berlin sorgte dafür, daß ich an der Grenze in Wirballen nicht als Letzter, wie es nach der alphabetischen Reihe der Namen sonst geschehen wäre, sondern als Erster abgefertigt wurde und im Wartesaal mich ruhig an dem dampfenden, trefflich zubereiteten Tee, an einer Kohlsuppe und einem Haselhuhn zur Weiterreise stärken konnte.“
Ich entdecke im jetzigen Bahnhofsgebäude leider keine Gaststädte mehr, als alleinige kulinarische Möglichkeit bietet sich ein Getränkeautomat an. Neben dem einzigen Fahrkartenschalter hängt der Fahrplan, es gibt genau eine innerlitauische Zugverbindung: Kybartai-Kaunas. Aber hier halten täglich der G29 (Moskau-Kaliningrad) und der G30 (Kaliningrad-Moskau). Diese Art der Nummerierung betrifft alle russischen Routen: von West nach Ost gelten gerade Ziffern, von Ost nach West ungerade. Daneben gibt es noch nicht-tägliche Verbindungen von Kaliningrad nach St. Petersburg, Adler und Tscheljabinsk, alle diese Züge queren hier die EU-Außengrenze.
Auf dem Bahnsteig des Bahnhofs Kybartai steht gerade der Zug von St. Petersburg nach Kaliningrad, das macht mich neugierig. Kaum habe ich die Tür vom Bahnhofsgebäude zum Bahnsteig hinter mir geschlossen, da habe ich auch schon die Aufmerksamkeit der litauischen Grenzbeamten geweckt. Der mit den meisten Streifen auf der Schulter spricht mich auf Litauisch an, wobei ich das Wort „Passport“ aus der offensichtlichen Aufforderung heraushöre.
Ich gebe durch Schulterzucken und Kopfschütteln glaubwürdig zu verstehen, dass mir die Sprache des ernst und wichtig dreinblickenden Fragenden absolut unverständlich ist (die Taktik des Dummstellens hat sich schon häufiger in misslichen Situationen mit Vertretern der Staatsgewalt bewährt). Hier ist der Falsche an mich geraten. Auf Deutsch werde ich jetzt gefragt, ob ich Deutsch spräche, worauf mir nur ein wahrheitsgemäßes „Ja“ übrig bleibt.
Ein Blick in meinen scheinbar unverdächtigen Pass und meine freundlichen Worte der Erklärung meiner Anwesenheit („das war hier doch mal der berühmte Bahnhof Wirballen, oder?“) lassen die wichtige Miene des hohen Grenzbeamten schon etwas weniger dienstlich erscheinen. Jetzt hat der Mann endlich mal wieder die Gelegenheit, sein Deutsch zu trainieren. Die Lage wird schließlich locker und entspannt.
„Natürlich, in Deutschland war ich schon häufiger, schöne Städte, Berlin, Hamburg, Duisburg (Entschuldigung, liebe Duisburger, aber Duisburg, eine schöne Stadt?), noch mehr, alles sehr ordentlich und sauber.“ Äh, Berlin, Hamburg, Duisburg, saubere Städte? Wo war der Mann denn wirklich? „Da hinten ist schon die Grenze, hier fertigen wir die Züge ab. Sie können gerne einsteigen, Sie haben ja ein Visum für Russland.“
Nein danke, mein Bett steht heute in Vilnius, noch fast vier Stunden mit dem Bus dorthin. Ob ich denn mal ein Bild vom russischen Zug machen dürfe, was für eine dumme Frage meinerseits, hier am Grenzbahnhof. „Nein, hier ist fotografieren streng verboten“, sagt der hohe Beamte und nickt mir verschwörerisch zu. „Wenn ich mal kurz weg bin, dann sehe ich ja nichts“, mit diesen Worten verschwindet er für zwei Minuten im Bahnhofsgebäude und kommt dann lachend wieder raus. Er muss mir ja noch von seiner Reise nach Indien erzählen, kürzlich hat da ein amerikanischer Freund von ihm geheiratet.
„Einmal und nie wieder, viel zu schmutzig und chaotisch dort.“ Jetzt verstehe ich das Lob für die Sauberkeit der deutschen Städte! Immer wieder herrlich, so ein Kulturaustausch. Ich werde immer mutiger und frage ihn, ob es hier nicht etwas langweilig sei bei den paar Zügen, die zu kontrollieren sind.
„Bald kommt die Rente“, lautet seine salomonische Antwort. Dann will er noch mehr reisen, nach Europa natürlich. Auch nach Russland? Verständnisloser als er kann man kaum gucken, als ich diese Frage stelle. Beim freundlichen Abschied nehme ich mir vor, den nächsten grimmig dreinblickenden Grenzbeamten, der mir begegnet, zu fragen, ob er Duisburg kenne. Wenn ja, dann werde ich Duisburgs Schönheit und Sauberkeit loben, und das Eis ist gebrochen.
Das einst so prächtige russische Bahnhofsgebäude haben übrigens kurz vor Kriegsende sowjetische Soldaten aus Versehen gesprengt, eigentlich war vorgesehen, den direkt jenseits der Grenze, also in Preußen, gelegenen Bahnhof Eydtkunen zu sprengen. Was für eine skurrile Geschichte. Auf der Seite der Grenze, auf der zu Zabels Zeiten Russland war (also im Osten), ist jetzt Litauen. Und auf der anderen Seite der Grenze, wo damals Preußen war, ist jetzt die russische Exklave Kaliningrad!