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Eine Begegnung in Sibirien: Auf zum Baikalsee
ОглавлениеIch sitze auf der Bank an der Plattform 9 des Irkutsker Busbahnhofes und warte auf den Kleinbus, der mich in 20 Minuten nach Listvianka zum Baikalsee bringen soll - da kommt er leicht schwankend auf mich zu: ein kleiner alter Mann mit zwei großen Plastiktüten. Unter dem Käppi hängen fettige Haare, die, wie der ganze Mann, wohl schon länger kein Waschwasser gesehen haben. Also genau die Sorte Gesprächspartner, auf die ich eher nicht gewartet habe.
„Fährt hier der Bus nach Listvianka?“ Was soll ich auf diese Frage denn antworten? Ich versuche es mit „wie bitte, ich spreche leider nur wenig Russisch.“ Und schon ist das Gespräch im Gange.
Als Nächstes kommt ein „do you speak English“, worauf mir nichts übrig bleibt, als diese Frage zu bejahen. Der Mann denkt ein wenig nach, schüttelt dann den Kopf und fährt auf Russisch fort: „Schade, ich habe alles vergessen. Früher konnte ich gut Englisch, das war auch wichtig.“ Mein fragender Blick ist Aufforderung genug. „Ich bin Maschinist und war viel auf Schiffen unterwegs.“
Ich erfahre, dass Vladimir, so heißt mein neuer Bekannter, in Wladiwostok an der Marineakademie gelernt hat und dann bei der Hochseefischereiflotte der UdSSR als Maschinist tätig war. Und während kaum einer meiner russischen Gesprächspartner überhaupt jemals im Ausland, bzw. in anderen Ländern gewesen ist als in ehemaligen Sowjetrepubliken oder in der Türkei, war der Seemann Vladimir zu Sowjetzeiten in Peru, Kuba, China, Japan, Korea, auf den Philippinen und in Australien.
Wie es der liebe Gott oder der Zufall will, sitzen wir im Kleinbus natürlich nebeneinander. Der strenge Geruch, den Vladimir abgibt, wird vom Fahrtwind nach hinten geweht, was durchaus mein Gefallen findet.
„Hast Du Durst?“ Vladimir holt eine Zweiliterflasche mit einer braunen Brühe aus einer der Plastiktüten, und beim Öffnen der Flasche wird mir schnell klar, dass in dieser kein Eistee ist. Dankend lehne ich ab, obwohl Vladimir noch mehrere Versuche unternimmt, mir das offensichtlich hochprozentige Gebräu anzubieten.
Natürlich sprechen wir beiden Freunde jetzt auch über unsere Familien und zeigen die üblichen Handy-Fotos. Vladimir ist stolz auf seine Enkeltochter und freut sich, dass die Frau seines einzigen Sohnes wieder schwanger ist. „Ich hätte ja gerne mehr Kinder gehabt, aber wenn man immer auf See ist, da geht die Ehe leider kaputt.“
Inzwischen ist Vladimir auf Betriebstemperatur, da fallen ihm auch einige englische und spanische Wörter (und Sätze) wieder ein, die ich im Sinne des Jugendschutzes hier aber lieber nicht wiedergebe. Der Mann war halt viel in Hafenkneipen unterwegs, da wird weniger Oxford-Englisch oder Salamanca-Spanisch gesprochen, und auch die Gesprächsthemen wären einer englischen Königin unbekannt (bei spanischen Königen bin ich mir da nicht so sicher).
Vladimir ist Burjate, gehört also der einheimischen Urbevölkerung an. „Leider spreche ich nur noch ein paar Wörter unserer Sprache, mein Sohn kann überhaupt nichts mehr. Unsere Sprache wird aussterben.“
Wir stellen noch fest, dass wir vor knapp 40 Jahren beide zur gleichen Zeit in Australien waren, aber als ich Vladimir mitteile, dass ich dort keine Hafenkneipen aufgesucht hätte, muss er lachen: „Damals war auch ich noch viel zu jung für so etwas!“ Und auf diese Weise erfahre ich, dass der alte Mann fast genau ein Jahr jünger ist als ich.
Die Fahrt vergeht leider viel zu schnell, denn die Straße nach Listvianka hat nichts mehr mit der Schlaglochpiste von vor 40 Jahren zu tun, auf der mein Kumpel Jockel und ich damals unterwegs waren. Am Ortseingang von Listvianka muss mein Freund aussteigen, denn von hier aus fährt die Fähre über die Angara nach Port Baikal. „Ich arbeite dort wieder als Maschinist, komm doch mal rüber!“, mit diesen Worten verabschiedet sich Vladimir von mir und drückt mit festem Druck meine Hand.