Читать книгу In und um Russland herum - Manfred Stuhrmann-Spangenberg - Страница 20
Narva, Estland
Оглавление„Sorry, my mistake!“ Juri, mein Gastgeber in Narva, kommt mit diesen Worten der Begrüßung auf mich zugerannt. Na ja, kleiner Fehler nur, Juri hat mein Anreisedatum schlicht verschlafen. Aber jetzt ist er ja da und öffnet mir die Tür zu seinem (jetzt vorübergehend meinem) Appartement. „Ich muss noch schnell die Wäsche einsammeln, die hier trocknet. Die Wohnungen in Narva haben keine Balkons, da nutze ich diese Gästewohnung hier als Wäschetrockner.“
Ich übernachte lieber in Wohnungen als in Hotels, dafür nehme ich auch ruhig in Kauf, dass der Gastgeber mich etwas warten lässt. Schließlich kommt man bei der Schlüsselübergabe gleich mal in Kontakt mit den Einheimischen, und Juri lässt sich gerne auf ein Schwätzchen ein. So erfahre ich, dass Juris Tochter in Deutschland lebt, aber „Deutsch kann ich leider nicht. Mit meinem Schwiegersohn spreche ich Englisch, so kommen wir auch klar.“
Juris Tochter ist nicht der einzige junge Mensch mit guter Ausbildung, der sein Glück im westlichen Ausland sucht. Narvas Bevölkerung schrumpft, hier an der EU-Ostgrenze im Nordosten Estlands bleiben fast nur die Alten und die weniger Mutigen zurück. „Klar, früher, ohne die Grenze, da war vieles leichter. Rüber über die Brücke nach Iwanogorod, und ganz schnell war man in Leningrad. Heute muss man erst einmal durch die lästige Grenzkontrolle.“
Narva liegt tatsächlich näher an St.Petersburg als an Tallinn, und da die Russen mehr als 90% der Einwohner Narvas ausmachen, gibt es naturgemäß eine nicht nur geografische Nähe zu Russland. Kaum einer der hier lebenden Russen spricht Estnisch, aber Juri hält es dennoch mit Estland und der EU: „In Europa geht es uns besser, ich habe zum Beispiel mehrere Wohnungen, die bringen gutes Geld ein. Wer will, der kann in Europa was schaffen. Nicht alle Russen laufen hier mit der Wodkaflasche rum.“
Das kann ich bestätigen. Volkssport Nr. 1 scheint hier Angeln zu sein. Am Narva-Fluss sitzen ganze Hundertschaften von Anglern, übrigens an beiden Ufern. Überhaupt, was für ein Anblick: Die Hermannsfeste, eine im frühen Mittelalter von den Dänen am westlichen Ufer der Narva errichtete Burganlage, benannt nach dem langen Hermann (nein, das war kein besonders großer Däne, sondern so heißt der hohe Nordwestturm), und am östlichen Ufer die nicht weniger beeindruckende Festung Iwanogorod!
Ich sitze am Ufer zwischen einigen Anglern und schaue rüber nach Russland. Irgendetwas fehlt. Genau, warum sitzen da in den Türmen und auf den Zinnen der Festung Iwanogorod keine finster blickenden Soldaten mit schussbereiten Kalaschnikows? Stattdessen sehe und höre ich am Fuße der Festung nur drei Mädels, die zur Musik (russische Popmusik) ihres Ghettoblasters herum hopsen und posieren, noch ein Foto und noch ein Foto und noch ein Foto… Also wenn diese Russinnen jetzt bei uns einfielen, dann müsste man ihnen, soviel ist sicher, dringend dieses Folterwerkzeug wegnehmen, mit dem sie wahrscheinlich auch schon alle Fische verscheucht haben, den Mienen der Angler nach zu urteilen.