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Tartu, Estland

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Estland, die nördlichste der drei baltischen Republiken, hat eine immerhin 334 km lange Grenze zu Russland, die sich zum größeren Teil im Wasser befindet, insbesondere verläuft sie mitten durch den 3555 km2 großen Peipus-See.

Tartu

Die Technologiefreundlichkeit Estlands ist ja weithin bekannt, und so ist es auch nur folgerichtig, dass ich die Betrachtung der Skulptur des sich unter einem Regenschirm vor dem Rathaus küssenden Studentenpaares auch ohne örtliche SIM-Karte per Skype mit Astrid - der daheimweilenden besten Ehefrau von allen - teilen kann. Freies, superschnelles WLAN, hier in Estland eine Selbstverständlichkeit.

Die Universität und das Studentenleben prägen das Stadtbild Tartus mit unzähligen Cafés und Kneipen. Typisch ist auch das Nebeneinander eines noch in der Zarenzeit errichteten prächtigen Universitätsgebäudes und - in unmittelbarer Nachbarschaft - eines hochmodernen Biowissenschaftstempels, des OMICUM, in dem das nationale Genomforschungszentrum mit der dazugehörigen Biobank untergebracht ist.

Professor Andres Metspalu, der Direktor des OMICUM, führt mich zuerst einmal in den Keller, in dem die Kühltanks stehen, in denen DNA-Proben von 52000 Esten (5% der Bevölkerung) lagern.

„Wir haben jetzt schon die komplette Erbinformation von 2500 Personen ermittelt, diese genetischen Daten werden nunmehr mit den elektronischen Krankenakten verknüpft und wir erhalten wichtige Informationen über die genetischen Faktoren, die Krankheiten verursachen. Unsere Forschung führt darüber hinaus auch zu Erkenntnissen, die die Wirksamkeit von Medikamenten betreffen.“

Andres ist mit seinen 66 Jahren immer noch durch und durch Wissenschaftler, der vom technologischem Fortschritt fasziniert und von dessen Nutzen für die Menschheit überzeugt ist. Nun, wie gesagt, die Esten sind ein sehr technologiefreundliches Volk. Und so hat Andres auch im Garten seines Hauses, in dem wir das Gespräch fortführen, eine große Skulptur der DNA-Doppelhelix stehen, die eine Künstlerin in seinem Auftrag geschaffen hat.

Zweifelsohne ist Andres ein Mensch, für den Grenzen jeder Art schon immer nur dazu da waren, um überwunden zu werden. Sei es als Student auf Reisen mit der Bahn von Tartu nach Alma Ata (heute Almaty) im hintersten Kasachstan und Wanderungen im Ferganatal oder auch im Kaukasus, sei es später als junger Wissenschaftler, als es ihm 1981 gelang, eines der sehr seltenen und höchst begehrten Auslandsstipendien zu erhalten.

„Es gab nur ein Stipendium für Esten pro Jahr. Meines für die Columbia-Universität in New York und die Yale-Universität in New Haven hat erst im dritten Anlauf geklappt, ich war ja zunächst nicht in der Partei. Nach zwei Ablehnungen war klar, dass ich in die Partei eintreten musste, um meine wissenschaftliche Karriere nicht frühzeitig enden zu lassen und als Heizer arbeiten zu müssen. Nach dem Eintritt hat es dann auch sofort geklappt. Als ich nach Tartu zurück kam, bekam ich gleich ein eigenes Labor mit sehr guter Ausstattung und 100000 Dollar (60000 Goldrubel), sehr viel Geld damals. Ich bekam dann eine Einladung nach Heidelberg, aber man wollte mich nicht gehen lassen. Mir wurde zu verstehen gegeben, dass man mit mir sehr unzufrieden war. Ich hatte zwar wissenschaftlich in Amerika etwas erreicht, politisch aber hatte ich mich dort nicht genug eingebracht, hatte ja immer keine Zeit, zu irgendwelchen Parteitreffen in die Botschaft zu fahren. Zum Glück kam dann im April 1985 ja Gorbatschow an die Macht, dann durfte ich doch nach Heidelberg fahren.“

Weitere Arbeitsaufenthalte in West-Berlin, Hamburg und Houston folgten, und dann kam schon die Revolution. „Ich war auch auf Demonstrationen, Anfang 1988 war das noch sehr unsicher und gefährlich. Später, als alles schon so gut wie gelaufen war, war die lange Menschenkette von Vilnius bis Tallinn. An der konnte ich aber nicht teilnehmen, da saß ich gerade im Flugzeug von New York nach Moskau. Hier gab es eine große sowjetische Militärbasis, deren Kommandant war Dudajew, der Tschetschene, der später gegen Russland Krieg geführt hat. Als der Putsch gegen Gorbatschow in Moskau war, sorgte Dudajew dafür, dass die Truppen hier bei uns in den Kasernen blieben. Das hätte auch anders ausgehen können.“

Im unabhängigen Estland startete Andres dann so richtig durch, Forschung, Auszeichnungen, Patente, viele Auslandsaufenthalte („Lyon, eine wunderbare Stadt mit der besten Biobank und exzellenten Forschern“) und Kooperationen und schließlich, mit persönlicher Unterstützung des damaligen jungen neuen Premierministers Mart Laar – und auch mit Startgeldern aus den USA – die Gründung der estnischen Biobank. „Ich reiste rum und hielt viele Vorträge, um für meine Ideen Geld einzutreiben. Da gab es dann einen Investor, den Gründer von Hotmail, der hatte estnische Wurzeln. Mit dessen Geld konnten wir starten.

Später kamen auch Gelder aus Europa dazu. Ich hasse allerdings die Bürokratie, die damit verbunden ist. Man muss einen genauen Plan erstellen und den dann Punkt für Punkt abarbeiten. Keine Chance flexibel zu sein. In der Sowjetunion gab es auch Pläne. Da schrieb man auf, was man im letzten Jahr gemacht hatte und nannte das den Plan für das nächste Jahr. Man hatte dann wieder ein Jahr lang Ruhe und konnte frei forschen. Man konnte auch mit den Chefs in Moskau feilschen, da fanden sich Wege mit irgendeiner Maria Ivanova zu sprechen. Wenn ich heute 5 Minuten zu spät in Brüssel bin, kann ich wieder ein Jahr warten, bis ich einen neuen Antrag stellen kann.“

Mit russischen Kollegen hat Andres gut zusammengearbeitet, in den letzten Jahren aber immer weniger. Allerdings haben sich die Verhältnisse gegenüber früher umgekehrt. Während er noch in den 70er Jahren mit wichtigen Blut- oder Gewebeproben nach Moskau fuhr, um sie dort zu bearbeiten, kommen die Russen heute zu ihm nach Tartu.

„Die Wissenschaft in Russland liegt am Boden. Die jungen Wissenschaftler, die etwas erreichen wollen, gehen alle in die USA. Putin steckt das Geld lieber in andere Projekte. Oder Medwedjew, der lässt für seinen Lamborghini einen Aufzug zum Palast bauen!“

Die aktuellen politischen Entwicklungen machen Andres keine Angst. „Warum sollte ich Angst haben, schau doch in die Geschichte zurück. Die Russen kamen achtmal hierher, doch jetzt sehe ich keinen einzigen guten Grund für die Russen, hierher zu kommen. Natürlich ist es aber unvorhersehbar, was die Russen planen. Es hatte auch niemand damit gerechnet, dass sie in der Ukraine einmarschieren und es zum Krieg zwischen den beiden slawischen Ländern kommt. Wenn sie wirklich die Baltenrepubliken zurückhaben wollen, dann würden sie zuletzt zu uns kommen. Aber das wird nicht passieren, wir haben starke NATO-Verbände hier und solange deren Flugzeuge hier fliegen, werden sich die Russen das zweimal überlegen. Und die Russen brauchen sich keine Sorgen zu machen, die NATO wird Russland niemals angreifen. Sie werden niemals den Narva-Fluss überqueren, das haben schon die alten Ritter nicht geschafft. Hast Du die Festungen am Narva-Fluss gesehen? Die Burg auf der anderen Seite? Da beginnt Asien!“

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