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Tallinn, Estland

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Tallinn, die alte Hansestadt Reval, mit seinem mittelalterlichen Stadtkern (selbstredend ein UNESCO-Weltkulturerbe) gilt völlig zu Recht als der Höhepunkt einer jeden Reise durch das Baltikum. Leider hat sich das herumgesprochen, so dass ich allen Reisenden, die sich nur sehr ungerne in engen Gassen zwischen unzähligen Reisegruppen aus aller Herren Länder hindurchzwängen möchten, dringend nahelege, entweder schon früh morgens, oder ab nachmittags den sehr empfehlenswerten Spaziergang durch die Altstadt und auf den Domberg zu unternehmen. Denn dann sind die Hunderte bis Tausende von Reisebussen, die die lieben Mit-Touristen aus was für Löchern auch immer nach Tallinn karren, entweder noch nicht da oder schon wieder weg. Und die paar tausend Reisenden, die hier in Tallinn übernachten, tragen letztendlich dann dazu bei, Tallinn zu einer quirligen, lebendigen kleinen Großstadt zu machen, die sich einen pudelwohl fühlen lässt.

In Tallinn lebt auch der Einstein Estlands, Professor Romi Mankin, Physiker, Mathematiker, Erforscher des Kosmos, Weiterentwickler der Relativitätstheorie und genau ein solches Exemplar, wie man sich einen liebenswürdigen, leicht zerstreuten Professor vorstellt.

Romi hat mich in das Foyer der Schule für Naturwissenschaften und Gesundheit der Universität Tallinn eingeladen, wo er inzwischen als Emeritus (also ein sich eigentlich in Pension befindlicher Professor) interdisziplinäre Forschungen auf den unterschiedlichsten Gebieten der Physik, Mathematik und nunmehr auch Neurobiologie betreibt. Alles hoch intellektuell und theoretisch, keine praktischen Experimente.

„Das Praktische ist meine Sache nicht“, erklärt er mir lachend, als er, kaum aus dem Fahrstuhl gestiegen, erst einmal falsch herum läuft und dann kopfschüttelnd die richtige Richtung zu seinem Büro einschlägt. „Ich habe auch kein Auto oder Smartphone, am Computer helfen mir die Jüngeren. Experimente im Labor habe ich zuletzt im Alter von 27 Jahren gemacht - nicht sehr erfolgreich, damals.“ Ansonsten ist der Mann ein Genie (freilich ein sehr bescheidenes: „Ich bin keinesfalls ein Genie!“) und hat schon mit 8 Jahren beschlossen, Einstein nachzueifern. Und das, obwohl sein Start ins Leben vor fast 70 Jahren sehr schwer war.

„Als ich zwei Jahre alt war, musste meine Familie vor den Sowjets fliehen. Mein Vater sollte nach Sibirien deportiert werden, er stand auf einer Liste von 10000 Esten, weil er im Krieg in der estnischen Armee gegen die Sowjets gekämpft hatte. In Kohtla-Järve bei Narva konnte er 1949 als Arbeiter im Ölschieferbergbau unterkommen. Dort wurden Arbeiter dringend gebraucht, weil die deutschen Kriegsgefangenen, die bis dahin dort Zwangsarbeit hatten leisten müssen, bis zum Ende jenes Jahres nach Hause entlassen wurden.“

Wie klein diese Welt ist, war doch mein eigener Vater einer dieser in Kohtla-Järve von Stalin als Kriegsbeute festgehaltenen Lagerinsassen. Ob sich unsere Väter damals über den Weg liefen?

Romi jedenfalls haben Astrid und ich im Sommer 1981 im Zug von Berlin nach Leningrad kennengelernt, und wir können beide kaum glauben, dass wir uns jetzt, nach 36 Jahren, tatsächlich wieder kräftig drücken. Na ja, ich bin schließlich wieder auf den Weg nach Sankt Petersburg/Leningrad, da will ich doch mit einer liebgewonnenen Tradition nicht brechen.

Romi war schon damals im Zug nicht besonders gut auf die Russen, genauer, auf die Kommunisten, zu sprechen. Heute sagt er: „Ich schätze, dass sich von den älteren Esten mindestens 80% nicht mit Russen unterhalten, die jüngeren Esten haben da weniger Berührungsängste. Estland ist im Osten russisch, da lebt kaum ein Este freiwillig. Die russischen Bewohner Estlands, die hierher nach Tallinn kommen und studieren oder arbeiten, können aber inzwischen gut Estnisch sprechen. Die russischen Studenten sind oft viel ehrgeiziger, fleißiger und intelligenter als die estnischen.“

Und was wäre, wenn die Russen Estland angriffen? „Du stellst aber komische Fragen. Ich bin doch ein alter Mann, was sollte sich denn dann für mich persönlich ändern? Für die Jüngeren wäre das natürlich eine Katastrophe. Aber ich habe keine Angst davor.“

Im Ausland war Romi schon seit 2009 nicht mehr, dem Todesjahr seiner Frau. „Ich habe hier in Estland doch alles, was soll ich denn noch im Ausland? Meine Doktoranden und jungen Wissenschaftler, die schicke ich aber alle für einige Zeit ins Ausland, die sollen ihren Horizont erweitern.“

Politik interessiert Romi nicht besonders, er löst lieber mathematische Probleme oder verbringt die Sommerferien in seiner Datsche (4,5 Hektar großes Grundstück mit Sommerhaus) - inklusive See - im Süden Estlands. „Da ist alles sehr einfach, ich lebe vor allem von Fisch, den ich selber angele. Einmal in der Woche hält in der Nähe ein Lebensmittelauto, da kaufe ich alles, was ich brauche. Ich hatte da auch schon Besuch von Professoren aus Deutschland. Der eine hatte eine Ehefrau, so ein Hippiemädchen. Die fand es bei mir sehr schön. Eine andere Professorengattin war aber wohl weniger zufrieden. Vielleicht war das Bett zu unbequem und alles etwas zu schmutzig, kein Fernseher, nicht einmal ein Telefon (für Romi gibt es nur Festnetztelefone, so mobile Sachen mag er nicht. Ich vermute, dass die Bedienung dieser neumodischen Dinger außerhalb seiner praktischen Fähigkeiten liegt). Diese Dame ist dann eher unzufrieden wieder abgereist. Wir sind aber immer noch sehr gute Freunde. Komm' doch im nächsten Sommer mal mit Astrid zu Besuch, euch wird es gefallen.“

Ja Romi, da bin ich mir sicher. Es muss ja nicht wieder 36 Jahre dauern, bis wir einander wiedersehen. Und dann geleitet Romi mich zum Abschied nach draußen, er will noch eine Pfeife rauchen. „Früher konnte man ja im Büro rauchen, aber das ist jetzt schon lange verboten. So eine Pfeife hilft doch beim Denken, bloß interessiert das niemanden.“ Noch ein ganz, ganz langer und kräftiger Händedruck, dann trennen sich unsere Wege. Mein Buch muss ein Erfolg werden, ich habe doch Romi ein Exemplar davon versprochen!

In und um Russland herum

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