Читать книгу In und um Russland herum - Manfred Stuhrmann-Spangenberg - Страница 16
Weißrussland
ОглавлениеMit einer Fläche von 207595 km2 ist Weißrussland der größte Binnenstaat, der vollständig in Europa liegt (danke, Wikipedia). Die Landesgrenze zu Russland hat eine Länge von 959 km.
Minsk
Der Kontrast zur Republik Užupis könnte wohl kaum größer sein. Minsk, schon nach weniger als drei Stunden mit dem Zug aus Vilnius erreicht, empfängt den Rucksackreisenden (die Koffer- oder Trolleyreisenden natürlich auch) mit imperialem Gehabe. Unendlich lange, breite Straßen, riesige Bauten, von stalinistisch bis höchstmodern, auch Aljaksandr Lukaschenka, der bereits seit 1994 recht autoritär regiert, liebt eine eher protzige Bauweise (nicht kleckern, sondern klotzen heißt die Devise). Alles ist außerdem sehr sauber, das gefiele mit Sicherheit auch dem Grenzschützer aus Kybartai. Erinnert mich an Singapur, nur die Strafen für weggeworfene Papiertaschentücher werden hier wohl weniger hoch sein.
Strafen gibt es in Minsk allerdings dann, wenn man irgendetwas gegen Lukaschenka sagt.
Sascha, 45-jähriger Jurist, macht eine eindeutige Geste, zwei gekreuzte Finger, und wiederholt noch einmal das dazu passende Wort „Тюрьма“, also Gefängnis. „Wenn man brav und artig ist“ (etwas freie Übersetzung meinerseits), „dann lässt er einen aber in Ruhe. Na, wir wissen ja selber, dass wir in der letzten Diktatur Europas leben.“ Saschas gute Freundin Vera, etwa gleich alte Web-Designerin, hält auch nicht viel von Lukaschenka: „Der liebt Sport. Hast Du gesehen, wie viele hochmoderne Sportanlagen, Hallen, Stadien es hier gibt? Dafür wird sehr viel Geld ausgegeben, für Kultur bleibt da nicht mehr so viel übrig.“
Alle, mit denen ich in den drei Tagen hier spreche, erzählen mir fast wörtlich das Gleiche wie Sascha: „Niemand von meinen Freunden wählt Lukaschenka. Und am Ende hat er wieder über 80 Prozent der Wählerstimmen. Erklär mir mal, wie das ohne Wahlbetrug gehen soll?“
Überhaupt hält Sascha nichts von Politik, weder der russischen, noch der westlichen. „Warum beschwert sich der Westen darüber, dass die Krim wieder russisch ist? Das war sie vorher doch auch, bis Chruschtschow, natürlich ein Ukrainer, die Krim der Ukraine geschenkt hat. Er konnte ja nicht ahnen, dass die Sowjetunion irgendwann mal nicht mehr existiert. Und das Referendum war doch ganz eindeutig, die Krimbewohner wollten wieder zu Russland gehören.
Wir grenzen an beide Länder, Russland und die Ukraine, schon deshalb wäre es wichtig, dass der Konflikt beigelegt und die Sanktionen des Westens aufgehoben werden. Die Handelsbeschränkungen treffen unser Land nämlich auch. Wir sind dazwischen, nicht Ukrainer, nicht Russen, aber menschlich sind wir uns doch alle sehr ähnlich. Wir trinken alle ganz gerne Wodka“, und da ist sie wieder, diese Geste, das Fingerschnippen am Hals, mit der trinkfreudige Russen (und auch Weißrussen, wie ich jetzt sehe) zum gemeinsamen Alkoholkonsum auffordern (und mit der weniger alkoholfreudige Russinnen den harmlosen Ausländer davor warnen, dem betrunkenen Passanten zu nahe zu kommen).
Gut, dass ich hier in Minsk völlig trocken geblieben bin, denn anderenfalls hätte unser abendlicher Ausflug mächtig schief gehen können. Veras Sohn (wie fast alle Frauen, die ich bisher getroffen habe, lebt Vera von ihrem Mann getrennt) hat uns und ein paar Freunde zu einem nicht nur illegalen, sondern - auf jeden Fall im alkoholisierten Zustand - lebensgefährlichen Abenteuer eingeladen: Eine ganz besondere Sightseeing-Tour über die Dächer von Minsk. Im wahrsten Sinne der bisherige Höhepunkt meiner Reise.
In einem Wohnhochhaus im Zentrum von Minsk fahren wir mit dem Fahrstuhl bis in den 13. Stock, dann geht es noch ein paar Stockwerke durch ein heruntergekommenes Treppenhaus, und wir sind auf dem ersten Dach. Von da aus geht es über mehrere Leitern hoch und runter über einige Dächer von Nachbarhäusern bis zum Turm, der über drei lange Feuerleitern erklettert wird.
Unsere Ausflugsgesellschaft ist heil ganz oben angekommen, ein atemberaubender Blick über die Dächer von Minsk. Inzwischen ist die Sonne untergegangen und die Beleuchtung der Gebäude lässt meine bisherige Skepsis gegenüber der Minsker Architektur verschwinden. Von hier aus sehen auch die Wolkenkratzer jetzt ganz nett aus und das Wohnungetüm hinter der Insel der Tränen wirkt durch das warme gelbe Licht von hier oben aus richtig einladend.
Von den durchaus ansehnlichen Seiten der weißrussischen Hauptstadt und insbesondere seiner wald- und seenreichen Umgebung kann ich mir noch ein ganz spezielles Bild machen, oder besser, viele Bilder ansehen. Vera nimmt mich mit in den Minsker Fotoclub von 1960. Schon zu Sowjetzeiten war dieser Fotoclub berühmt, es wurden viele Medaillen bei nationalen und internationalen Ausstellungen und Wettbewerben gewonnen. Und auch jetzt hat dieser Club von Freunden des Fotografierens und der Fotografie künstlerisch Herausragendes zu bieten, davon bin ich als Laie restlos überzeugt.
Seien es die Bilder von Menschen oder Landschaften aus Weißrussland, seien es die fotografischen Ergebnisse von Reisen nach Italien, Karelien oder auf die Krim: die Fotografien ziehen mich in ihren Bann. „Im Herbst werden wir eine Ausstellung in Hannover haben, Du bist herzlich eingeladen.“
Ach Vera, ich komme gerne, wenn ich dann schon wieder zu Hause bin. Aber noch denke ich nicht an die Heimkehr. Eher an die Auf- und Abstiege über museumsreife Feuerleitern, die unkonventionellen, rasend schnellen Autofahrten mit Vera am Steuer durch den Minsker Stadtverkehr und raus an das Minsker Meer, die kratzigen Liebesbezeugungen einer mannstollen Hauskatze, sowie den Ab- und Aufstieg über eine wacklige Holztreppe in Veras Obstkeller (unter einer Garage).
Schließlich besuchen Vera, Sascha und ich noch die 88-jährige Tante Veras im Krankenhaus. Veras Tante freut sich sehr über unseren Besuch und bittet mich, Frau Merkel ganz herzlich zu grüßen. Das schelmische Zwinkern dieser sehr schönen alten Dame hindert mich daran, sie im Gegenzug zu bitten, doch meinerseits Herrn Lukaschenka viele Grüße auszurichten. Na, vielleicht liest ja jemand mit Zugang zum weißrussischen Präsidenten diese Zeilen: Aljaksandr, nun lass mal gut sein, genieß mal Deine Rente, die wird sicherlich höher sein als die durchschnittliche Rente von etwa 150 Euro pro Monat, da ist es ohne eigene Datsche (Vom russischen Wort Datscha = Grundstück mit Garten- oder Wochenendhaus) ganz schön schwer, über die Runden zu kommen.