Читать книгу Empfehlungen für die weitere Entwicklung der Wissenschaftlichen Informationsversorgung des Landes NRW - Manfred Thaller - Страница 20
2.4. Strategische Empfehlungen für einzelne Bereiche 2.4.1. NRW 2025: Eine integrierte Informationslandschaft
ОглавлениеBibliotheken haben sich, als Einrichtungen, die einen ortsfesten Bestand an Büchern verwaltet haben, in den letzten 200 Jahren als spezielle Zweige anderer Organisationen entwickelt. Deshalb verstehen sich etwa Hochschulbibliotheken, Öffentliche Bibliotheken und Schulbibliotheken als grundsätzlich unterschiedliche Einrichtungen, die nicht nur eine unterschiedliche Art des Umgangs mit ihren Benutzern haben, sondern auch auf völlig unterschiedliche Infrastrukturen angewiesen sind.
Verlassen ein Benutzer einen Kontext und betreten einen anderen, ändert sich das bibliothekarische Umfeld völlig. Verlässt eine Schülerin das Gymnasium und betritt sie die Hochschule, so findet sie eine völlig veränderte Informationslandschaft vor, in der vieles neu zu lernen ist.
Das bedeutet für die Bibliotheken bereits jetzt einen erheblichen Nachteil im Umgang mit ihren Benutzern: Dieselbe Schülerin, die in ihren Leistungskursen Informationen im Internet – außerhalb des Angebots der Schulbibliothek – gesucht hat, kann die dabei erlernten Techniken ohne jede Veränderung an die Hochschule übertragen.
Und wechselt die Absolventin anschließend in den Beruf, so sind die bibliotheksbezogenen Kenntnisse für den Wissenserwerb nach dem Modell des Lifelong Learning in vielen Fällen obsolet; während die Geläufigkeit des Umgang mit dem Internet weiterhin nützlich bleibt.
Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren noch verschärfen. Dadurch dass die von der öffentlichen Hand bereitgestellten Informationsressourcen, deren Wert durch die impliziten und expliziten Qualitätskontrollen institutionalisierter Beschaffungsprozesse erheblich ist, nicht so intensiv genutzt werden, wie dies wünschenswert wäre, empfehlen wir beim weiteren Betrieb der bibliothekarischen Landschaft ein Umdenken, das die einzelnen Bibliotheken – auch über die Branchen hinweg – als lokale Schnittstellen und Beratungszentren im Umgang mit einem integrierten Informationsangebot versteht.
Digitale Information sollte, wann immer möglich, landesweit einheitlich bereitgestellt werden, wobei es letztlich unerheblich ist, ob sie dem Studenten einer Hochschule, der Schülerin eines Gymnasiums oder dem sich beruflich weiterbildenden Teilnehmer einer entsprechenden Kursveranstaltung zu Gute kommt.
Wir empfehlen daher, im Rahmen der weiteren Entwicklung eindeutiger Identifikationsmerkmale, einen landesweiten Zugang zu den digital bereitgestellten Informationsressourcen auf der Basis einer einheitlichen Kennung zu organisieren. Dies bedeutet, dass wir, den landesweiten Zugang zu den Informationen, die in bibliothekarischen Informationssystemen bereitgestellt werden, empfehlen, so zu organisieren, dass sie in Gänze über eine „NRW ID“ bereitgestellt werden.
Wir identifizieren derzeit zwei Basistechnologien, die dies wahrscheinlich machen:
a) Auf neueren Notebooks / Laptops werden, außerhalb der untersten Preisklassen, biometrische Identifikationsverfahren mittlerweile mehr und mehr als Standard angeboten. Eine Identifikationsmöglichkeit per Fingerabdruck ist derzeit bereits fast selbstverständlich. Da gleichzeitig im Rahmen des Vordringens der Voice over IP Telefonie auch Webcams mehr und mehr zur Standardausstattung gehören, wäre es verwunderlich, wenn die grundlegende Möglichkeit zu Retina-Scans nicht während des Planungszeitraums starke Verbreitung finden würde.
b) Unabhängig davon wird mit den neuen Personalausweisen21 de facto eine standardmäßig vorhandene Grundlage für die personenbezogene digitale Signatur geschaffen. Dies scheint uns deshalb so wichtig, weil nach Meinung zahlreicher Gesprächspartner der geringe Erfolg bei der bisherigen Durchsetzung konsequenter digitaler Signaturen hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass jede Firma oder andere organisatorische Einheit den gesamten Aufwand dafür selbst hätte treiben müssen. Liegt die elektronische Identität einmal vor, ist der Anreiz sie sich als Sicherungsmechanismus zu Nutze zu machen, wesentlich größer. Wir gehen also prinzipiell davon aus, dass im Jahre 2025 jeder potentielle Nutzer der Informationsversorgung im Lande NRW eine – oder mehrere – eindeutige elektronische Identitäten hat.
Dies bringt Probleme für den Datenschutz mit sich. Zunächst sei aber darauf hingewiesen, dass technisch nichts dagegen spricht, mehrere voneinander abgeschottete Identitäten auf denselben Identifikationsmechanismus aufzubauen. Grundsätzlich gibt es keinen Grund, warum sich eine Person in der Universität nicht auf Basis desselben Fingerabdrucks wie beim Arzt identifizieren sollte, ohne dass die beiden Systeme, die sich desselben Identifikationsmechanismus bedienen, voneinander Kenntnis haben. Ganz allgemein gehen wir aber von der Vermutung aus, dass sich das Verständnis des Datenschutzes, je mehr die offensichtlichen Vorteile der Vernetzung, etwa bei der Nutzung von netzbasierten Einkaufsmöglichkeiten ohne Kenntnis dutzender verschiedener Passwörter und Sicherungsmechanismen, erkennbar werden, ändern wird:
Derzeit konzentriert sich die Datenschutzgesetzgebung im Wesentlichen darauf, im Interesse des Schutzes der Bürger vor einem außer Kontrolle geratenden Staat, Behörden den effektiven Umgang mit personenbezogenen Daten zu erschweren. Kommerzieller – oder generell nicht erfolgreich verhinderter – Datenmissbrauch ist schwerer fassbar, eine abschreckende Strafverfolgung wird zumindest nicht publik. Wir gehen davon aus, dass diese Situation sich nach einigen absehbaren Skandalen, durch die die Interessen größerer Teile der Öffentlichkeit individuell spürbar geschädigt werden, ändert.
Daraus ergibt sich die Vorstellung eines sich lebenszyklisch ändernden Zugangs zur öffentlich finanzierten Information nach einem einheitlichen Zugangsmodell: Der Schüler einer öffentlichen Schule bedient sich des landesweiten Informationsportals, um die für den Unterricht notwendigen Ressourcen zu erhalten; durch seine Einschreibung in eine Hochschule werden zusätzliche Ressourcen für ihn sichtbar; durch seinen Studienabschluss verschwinden einige davon wieder, andere bleiben jedoch auf Lebenszeit erhalten und andere werden sichtbar, sobald er gebührenpflichtige Weiterbildungsveranstaltungen belegt.
Wir erkennen dabei an, dass es einen Bereich innerhalb des Bibliothekswesens gibt, dessen weitere Entwicklung uns nach der Überprüfung unserer ursprünglichen Thesen im internationalen Kontext weniger klar zu sein scheint. Ursprünglich gingen wir von einer Konvergenz der wissenschaftlichen und der öffentlichen Bibliotheken aus. Wir stellten jedoch bereits bei den Gesprächen mit öffentlichen Bibliotheken innerhalb von NRW fest, dass die Intensität der Zusammenarbeit mit Schulbibliotheken einer-, mit wissenschaftlichen Bibliotheken andererseits wesentlich stärker variierte, als nahezu alle anderen von uns beobachteten Aspekte des Bibliothekswesens.
Dieser Eindruck wurde international verstärkt: In allen von uns besuchten öffentlichen Bibliotheken des Auslandes betrachteten die öffentlichen Bibliotheken den Kontakt zum formalisierten Erziehungssystem eher als einen Nebenaspekt. Die Hilfe bei der Betreuung von Schulbibliotheken durch öffentliche Bibliotheken ist etwa bloß in Einzelfällen zu betrachten. Hier ergab sich eine weitere Abweichung von den Vorstellungen, mit denen diese Studie begonnen wurde. Wir gingen ursprünglich davon aus – Äußerungen von Vertretern der öffentlichen Bibliotheken in NRW aufgreifend, dass in den anderen von uns besuchten Ländern die finanzielle Situation der öffentlichen Bibliotheken besser sei, als in den sehr stark von kurzfristigen kommunalen Überlegungen abhängenden des Landes Nordrhein-Westfalen, da deren Finanzierung dort gesetzlich wesentlich besser verankert sei, als hierzulande. Das konnte von den Gesprächspartnern in den internationalen Bibliotheken keineswegs bestätigt werden; auch dort ist die Bibliotheksfinanzierung keineswegs eine gesetzlich so stark abgesicherte Verpflichtung der Kommunen, dass sie deshalb nicht als Einsparungsmöglichkeit wahrgenommen werden würde. Die größere Sicherheit und bessere Finanzierung dieser Bibliotheken geht nicht auf eine wesentlich bessere gesetzliche Verankerung der öffentlichen Bibliotheken zurück, sondern darauf, dass sie eine wesentlich breitere Verankerung in der Öffentlichkeit haben. Dieser breite gesellschaftliche Konsens über die Nützlichkeit Öffentlicher Bibliotheken, wie in Finnland und Teilen der US Öffentlichkeit, fehlt offenbar in NRW.
Allerdings fällt dabei auf, dass die in NRW wohl noch anhaltende Sicht der öffentlichen Bibliothek als eines Bestandteils des öffentlichen Bildungs- und Kulturwesens, in anderen Ländern wesentlich stärker durch die Sicht der Bibliothek als eines Bestandteiles des Systems sozialer Absicherung abgelöst wurde. Das ist mit die Ursache der sehr prononcierten Bereitstellung des Internetzugangs innerhalb öffentlicher Bibliotheken, die außerhalb NRWs zu beobachten ist: Der Benutzer einer amerikanischen öffentlichen Bibliothek benutzt den Internetzugang einer Bibliothek nicht, um seinen kulturellen Horizont zu erweitern, sondern um in einer Welt internetbasierter Stellen- und Wohnungsangebote zu überleben, obwohl er sich selbst den Zugang zum Medium nicht in ausreichender Weise leisten kann (Vgl. Kapitel 12.6.).
Dem entspricht auch, dass die Bereitstellung von Integrationshilfen und auch von bibliothekarischen Inhalten von Ausgangskulturen der Migranten, außerhalb von NRW eine sehr wesentliche Aufgabe der öffentlichen Bibliotheken ist. Die Bereitstellung von Literatur und Medien in Bengali bindet die erste und zweite Migrantengeneration an die öffentlichen Bibliotheken Londons; das dadurch hergestellte Basisvertrauen ermöglicht der zweiten Migrantengeneration dann auch, sich wesentlich stärker mit der Kultur des Landes zu beschäftigen, als dies durch andere Angebote zu erreichen wäre.
Hier ist ein Trend erkennbar, der unstreitig auch auf die öffentlichen Bibliotheken in NRW ausstrahlt, aber nicht annähernd so konsequent umgesetzt wird, wie dies in anderen Ländern stattfindet: Einerseits der Focus auf die Bibliothek als Civic Centre – vor allem bei unseren britischen und skandinavischen Gesprächspartnern hervorgehoben – und andererseits die Rolle der Bibliothek als allgemeineres Kulturzentrum, das über die klassische wissensvermittelnde Rolle hinausgeht, aber eben keine besonders engen Verbindungen zu den klassischen Ausbildungsstätten unterhält.
Wir gehen daher prinzipiell davon aus, dass die jetzigen Aufgaben der öffentlichen Bibliotheken sich in zwei unterschiedliche Richtungen entwickeln werden: Einerseits werden Teile davon in die Realisierung des landesweit einheitlichen, lebenszyklisch unterschiedlich umfangreichen Angebots an fachlicher Information eingehen, das wir am Anfang dieses Abschnittes beschrieben haben. Andererseits ist die Aufgabenteilung bei der Bereitstellung von Informationszugängen im Bereich der sozialen Absicherung und der Integrationspolitik u.E. nach in NRW derzeit noch völlig außerhalb ernsthafter und weithin wahrgenommener politischer Diskussion, so dass wir in diesem Fall von jeder Projektion oder Empfehlung absehen.