Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Manuel Ladiges - Страница 138

1. Verfahrensprinzipien

Оглавление

6

Trotz der Vielzahl der zwischen 1848 und 1869 erlassenen Verfahrensgesetze entstand ungeachtet aller Divergenzen in Einzelfragen ein gemeinsamer Grundtyp des reformierten deutschen Strafprozesses. Die Rechtseinheit auf dem Gebiet des Strafverfahrens überdauerte insofern den Wegfall des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses. Die Gesetzgeber rezipierten das aus dem linksrheinischen Deutschland vertraute, zudem kodifizierte und wissenschaftlich bearbeitete französisch-rheinische Prozessrecht. Nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde hingegen die Etablierung eines kontradiktorischen Prozessmodells nach englischem Vorbild. Es entstand, im Urteil der Zeitgenossen, ein Verfahren, das mit der „accusatorischen Form eine öffentlich mündliche Hauptverhandlung und die Einrichtung der Schwurgerichte (verband)“[18].

7

Als „akkusatorisch“ galt der reformierte Prozess, weil die Anklageerhebung durch ein besonderes Organ, die Staatsanwaltschaft, erfolgte. Die Pflicht des Richters, „alle seine Kräfte aufzubieten“, um die materielle Wahrheit unabhängig vom Parteivorbringen zu ermitteln, blieb unangetastet.[19] Der preußische Gesetzgebungsminister Friedrich Carl v. Savigny (1779–1861) beeilte sich festzustellen, dass die Reform das Wesen des Inquisitionsprozesses nicht berühren sollte.[20] Entsprechend akzentuierte das Schrifttum die Kontinuität zum gemeinrechtlichen Prozess und erblickte im Untersuchungsprinzip die fortgeltende Grundmaxime des Strafverfahrens.[21] Lediglich „Ausartungen“ seien beseitigt worden.[22] Ausnahmslos normierten die neuen Verfahrensgesetze die Prinzipien der Öffentlichkeit und Mündlichkeit. Die Gerichtstüren standen grundsätzlich allen Bürgern offen; den im Vormärz diskutierten Ausschluss von Frauen kannte allein die österreichische Strafprozessordnung (1853). In den Schwurgerichten hatten die Geschworenen in freier Beweiswürdigung über die ihnen vom Gerichtspräsidenten vorgelegten Fragen zu befinden. Die Befugnis des Berufsrichters, „nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der vor ihm erfolgten Verhandlung geschöpften Überzeugung zu entscheiden“[23], blieb auf Gerichte unterer und mittlerer Ordnung beschränkt. Die Verfahrensreform ließ das Vorverfahren weitgehend unberührt. Das neue öffentlich-mündliche Hauptverfahren wurde mit diesem verbunden „wie man einem alten Gebäude ein neues Stockwerk aufsetzt“[24]. Die preußische und bayerische Gesetzgebung erklärten insofern die grundsätzliche Fortgeltung der Criminalordnung von 1805 bzw. des Strafgesetzbuchs von 1813.[25] Die Untersuchungshandlungen erfolgten weiterhin „heimlich“, d.h. unter Ausschluss des Verdächtigen und der Öffentlichkeit. Auch wenn die neuen Verfahrensgesetze körperlichen Zwang, Drohungen und Versprechungen untersagten, zielte das richterliche Verhör weiterhin auf die Geständniserlangung ab. Wie im gemeinen Strafverfahren stand dem Verdächtigen kein Schweigerecht zu.[26] Der Richter hatte ihn zu Beginn des Verhörs zu ermahnen, „bestimmt, deutlich und der Wahrheit gemäß“ zu antworten.[27] Ein Recht auf formelle Verteidigung bestand während des Vorverfahrens nicht. Erst nach dessen Abschluss bzw. nach Erhebung der Anklage besaß der Beschuldigte die Möglichkeit, sich eines Verteidigers zu bedienen.[28]

Handbuch des Strafrechts

Подняться наверх