Читать книгу Zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts - Marco Mansdörfer - Страница 13
b) Die „Straftaten gegen die Wirtschaft“ im Alternativ-Entwurf zum Wirtschaftsstrafrecht 1977
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Wie das Wirtschaftsstrafrecht in unserer marktwirtschaftlich geprägten Ordnung systematisiert werden könnte, kann man dem 1977 vorgelegten Alternativ-Entwurf zum Wirtschaftsstrafrecht – und neuerdings den Überlegungen zu einem europäisierten Wirtschaftsstrafrecht[16] – entnehmen[17]: In einem gesonderten Abschnitt „Straftaten gegen die Wirtschaft“ werden in sieben Titeln Straftaten gegen den Wettbewerb und die Verbraucher, gegen Wirtschaftsbetriebe, gegen den Zahlungsverkehr und die Kreditwirtschaft, Börsenstraftaten, Konkursstraftaten, sowie Straftaten gegen die kaufmännische Rechnungslegung und gegen die öffentliche Finanzwirtschaft normiert[18]. Um vollständig zu sein, müsste dieser Katalog freilich um einige Sondermaterien erweitert werden. So fehlt etwa der strafrechtliche Schutz gewerblicher Schutzrechte. Man kann sich auch fragen, ob zu den Straftaten gegen die Verbraucher nicht auch das Produkt-, Arzneimittel- und Lebensmittelstrafrecht gehören[19]. Zuletzt könnte man erwägen, neben den Delikten zum Schutz der staatlichen Wirtschaftsförderung auch die Tatbestände des Außenwirtschafts- und Kriegswaffenkontrollrecht als Delikte zum Schutz der staatlichen Wirtschaftsregulierung einzubeziehen[20].
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Mit einer solchen Systematik wäre in der Tat einiges erreicht: Die wesentlichen Straftatbestände des Wirtschaftsstrafrechts wären in einem Block im Strafgesetzbuch zusammengefasst, stünden neben den Tatbeständen des klassischen Kernstrafrechts und würden die Reaktion auf eine öffentliche Meinung dokumentieren, die die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als eine zunehmend bedeutende Staatsaufgabe betrachtet[21]. Der Gewinn einer solchen Zusammenfassung der Tatbestände war für den Gesetzgeber immerhin Anlass genug, die Straftaten gegen die Umwelt in einen einheitlichen 29. Abschnitt in das Strafgesetzbuch einzustellen[22].
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Die Verfasser des Alternativ-Entwurfs Wirtschaftsstrafrecht weisen in der Vorbemerkung zur Erläuterung des Entwurfs darauf hin, die Tatbestandstechnik sei geprägt von ihrem Verständnis des Wirtschaftsdelikts und der Wirtschaftsstraftat[23]. Das Wirtschaftsdelikt werde dadurch gekennzeichnet, dass es „nicht (nur) gegen Individualinteressen, sondern gegen sozial-überindividuelle Belange des Wirtschaftsgeschehens“ verstoße und/oder „Instrumente des heutigen Wirtschaftslebens“ missbraucht würden[24]. Beispielhaft wird ein „kollektives Vertrauen“ zum Rechtsgut der Bilanzdelikte[25], die „Sicherung der Darbietungsehrlichkeit oder Warenehrlichkeit“ zum Schutzgut vieler Tatbestände des Lebensmittelstrafrechts[26] oder das „Interesse an einer sachgerechten staatlichen Wirtschaftsförderung“ zum Rechtsgut des Subventionsbetrugs[27] gekürt. Bei Otto wird – unter Berufung auf Luhmann[28] – zum Charakteristikum der Wirtschaftsdelikte später allgemein „das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung insgesamt oder in einzelne ihrer Institute“ im Sinne eines fiktiven, abstrakten „Systemvertrauens“[29].
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Der Nutzen oder Schaden einer solch großzügigen Annahme überindividueller, kollektiver oder gar vergeistigter Rechtsgüter soll an dieser Stelle nicht vertieft werden. Dazu nur so viel: Wenn wirklich in erster Linie sozial-überindividuelle Belange geschützt werden sollen, fehlt es bis heute an einer grundlegenden und fächerübergreifenden Diskussion der strafrechtlichen Schutzbedürftigkeit dieser Belange[30]. In wirtschaftsstrafrechtlichem Zusammenhang fehlt insbesondere eine Diskussion über die selbstregulierenden Kräfte des Marktes, über die Möglichkeit der Senkung von Transaktionskosten durch den normbestätigenden Einsatz von Strafrecht im weitesten Sinne und über die Art und Qualität sozial-überindividueller Schäden. Möglicherweise würde die entsprechende Diskussion zeigen, dass sozial-überindividuelle Belange gegenüber vereinzelten Angriffen sehr viel resistenter sind, als bislang angenommen. Vielleicht würde sich ergeben, dass sozial-individuelle Belange massenpsychologisch weitgehend durch kollektive Übereinkünfte – etwa dem Konsens einer Gesellschaft über ihre Wirtschaftsordnung und über Verantwortung der Wirtschaftsführer für die Arbeitnehmer und Angestellten in einem Unternehmen – getragen sind. Es könnte sich darüber hinaus zeigen, dass die sozial-individuellen Belange mikroökonomisch vor allem durch bestimmte elementare Voraussetzungen individuellen Wirtschaftens – etwa dem Schutz vor unbilligem Zwang und Ausbeutung – getragen sind. Vielleicht würde eine solche Diskussion auch nachweisen, dass die wesentlichen kollektiven Interessen insgesamt so robust in der Gesellschaft etabliert sind, dass sie gar nicht des Schutzes durch ein riesiges Netz von Strafnormen bedürfen.
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Selbst wenn man ein anderes Ergebnis einer solchen Diskussion unterstellt, muss aber noch auf andere Schwächen des Ansatzes im Alternativ-Entwurf von 1977 hingewiesen werden: Die Systematisierung hält sich an vordergründigen Bezugspunkten wie etwa dem Wirtschaftsbetrieb, dem Wettbewerb, dem Verbraucher, dem Zahlungsverkehr oder dem Konkurs auf. Unter diese Topoi werden Straftaten der unterschiedlichsten Art gefasst. In der Folge werden unter dem zweiten Titel der „Straftaten gegen Wirtschaftsbetriebe“ ganz heterogene Sachverhalte wie Wirtschaftssabotage, der Verrat von Wirtschaftsgeheimnissen, die Verleumdung und die Verletzung von Firmenrechten sowie der Missbrauch gesellschaftsrechtlicher Befugnisse zusammengefasst. In der Begründung des Alternativentwurfs wird selbst eingeräumt, dass die unter diesem Titel aufgeführten Delikte sich nicht trennscharf von den im ersten Titel normierten „Straftaten gegen den Wettbewerb und die Verbraucher“ abgrenzen lassen[31]. Die Straftaten des zweiten Titels richteten sich zwar nur gegen einzelne Wirtschaftsbetriebe, hätten aber Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft oder könnten zumindest solche Auswirkungen haben und seien deshalb zu den Wirtschaftsdelikten zu rechnen[32]. Welche dogmatische Bedeutung das Erfordernis der Störung der Gesamtwirtschaft für die Auslegung des einzelnen Tatbestandes – etwa für die Wirtschaftssabotage in Abgrenzung zur Sachbeschädigung – haben soll, bleibt unklar.
Die faktisch orientierte Systematisierung liegt insgesamt quer zur traditionellen Systematik des Besonderen Teils. So finden sich beispielsweise Täuschungsdelikte in allen Titeln des Abschnitts, während Straftaten zum Schutz der Wettbewerbsordnung und des Vermögens unter einer einheitlichen Überschrift zusammengefasst sind. Von Vorschlägen zu einer Reform des Vermögensstrafrechts insgesamt wird abgesehen, zugleich werden wesentliche Aspekte der überkommenen Vermögensstraftatbestände in neuen Tatbeständen, wie etwa dem Missbrauch gesellschaftsrechtlicher Befugnisse, explizit geregelt[33]. Zentrale Tatbestände zur Ahndung rechtlich missbilligter Verhaltensweisen im Wirtschaftsverkehr – insbesondere die §§ 263, 266 StGB – bleiben auf diese Weise außer Betracht, obwohl es erklärtes Ziel der Verfasser des Alternativ-Entwurfs war, durch Sondertatbestände im Vorfeld des Betruges und der Untreue die Praktikabilität eines künftigen Wirtschaftsstrafrechts zu fördern und die Tatbestände des Betrugs und der Untreue von zweifelhaften Konstruktionen zu entlasten. Ob die Verfasser bei einer Umsetzung ihrer Vorschläge dieses Ziel erreicht hätten, bleibt Spekulation. Es muss aber bezweifelt werden, dass es für den Rechtsanwender einen hinreichenden Gewinn bringt, eine Vielzahl von Delikten aus dem Nebenstrafrecht auszugliedern, den gesetzessystematischen Zusammenhang mit den flankierenden Ordnungswidrigkeiten aufzulösen und ein eigenständiges Wirtschaftsstrafrecht im Vorfeld des klassischen Kernstrafrechts zu normieren[34]. Das Bemühen der Verfasser, die wesentlichen Wirtschaftsdelikte eigenständig zu fassen und die im Nebenstrafrecht übliche Verweisungstechnik zu vermeiden, hätte außerdem unabhängig von der systematischen Umgruppierung der Delikte verfolgt werden können.