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II. Folgen der vorgestellten Definitionsversuche und eine erste Kritik
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Aus den gerade beschriebenen Versuchen, das Wirtschaftsstrafrecht zu systematisieren, wurde deutlich, dass nahezu jeder Tatbestand des klassischen Kernstrafrechts auch im Kontext wirtschaftlichen Handelns begangen werden kann. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn aus gesetzlichen oder wissenschaftlichen Definitionen des Wirtschaftsstrafrechts kein vom herkömmlichen Strafrecht klar abgrenzbarer Inhalt extrahiert werden kann[54]. Beschrieben wird stets nur ein Torso des Wirtschaftsstrafrechts oder ein Wirtschaftsstrafrecht im engeren Sinne, das gegen ein Wirtschaftsstrafrecht im weiteren Sinne abgegrenzt werden muss[55].
Dies zeigen die Ausführungen von Lindemann, der das Wirtschaftsstrafrecht auf Delikte beschränken will, die die Volkswirtschaft betreffen. Den Kern des Wirtschaftsstrafrechts würde nach dieser Vorstellung heute entsprechend der vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftstheorie das Wettbewerbsstrafrecht bilden[56]. Typischerweise mit dem Wirtschaftsstrafrecht in Verbindung gebrachte Delikte (z. B. die §§ 263, 266 StGB) würden dagegen begrifflich ausgeschlossen sein. Entsprechendes gilt für die Ansätze von Tiedemann und Otto, soweit sie das Wirtschaftsstrafrecht auf Tatbestände zum Schutz der Wirtschaftsordnung beschränken wollen. Ähnliche Einwände müssen sich auch die Verfasser des Alternativentwurfs zum Wirtschaftsstrafrecht gefallen lassen, wenn sie das Rechtsgebiet auf Delikte beschränken wollen, die sozial-überindividuelle Belange des Wirtschaftsgeschehens schützen. Wichtige Bereiche des Produktstrafrechts, das explizit an Individualrechtsgüter anknüpft, wären damit aus dem Blick verloren[57]. Das Arbeitsschutzstrafrecht, der strafrechtliche Vermögensschutz und der strafrechtliche Umweltschutz würden ebenfalls aus dem Wirtschaftsstrafrecht herausfallen[58].
Ein weiterer elementarer Kritikpunkt betrifft den im Umgang mit der Vielfalt ökonomischer Sachverhalte und ihrem Einwirken in weite Bereiche des täglichen Lebens grundsätzlich beschrittenen Weg. Theoretisch bestehen zwei Pole, innerhalb derer sich diese dogmatischen Ansätze bewegen können:
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Den einen Pol bildet ein Rechtsdenken, das die Wirtschaft holistisch als organisches und überindividuelles Gebilde begreift, bestimmte Zusammenhänge (etwa die Wirtschaftslenkung, die Volkswirtschaft, den Wirtschaftsbetrieb, die Darbietungsehrlichkeit oder den Zahlungsverkehr) schützen will und das wirtschaftliche Geschehen von kollektiven Akteuren dominiert sieht[59]. Ein solches Verständnis legen die meisten der bisher in der Rechtswissenschaft erarbeiteten Definitionsversuche des Wirtschaftsstrafrechts nahe[60]. Dieser Herangehensweise ist freilich nur eine Dogmatik angemessen, die organisch überindividuelle Strukturen sinnvoll verarbeiten und hinreichend präzise steuern kann. Im Strafrecht wurde eine solche Dogmatik bislang jedenfalls noch nicht konsequent ausgearbeitet. Da es aus volkswirtschaftlich-überindividueller Perspektive irrelevant ist, ob sich ein Vermögensobjekt in der Hand der einen oder der anderen Person befindet und ob es auf legale oder kriminelle Weise erlangt wurde[61], hätte ein echt überindividueller Ansatz etwa dort nahezu unüberwindbare Schwierigkeiten, wo individuelle Wirtschaftsressourcen garantiert werden müssen. Wirtschaftsstrafrecht würde danach möglicherweise in erheblichem Umfang zu einem Institutionenschutzrecht mutieren; die Freiheit des Individuums würde hinter diesen Institutionenschutz zurücktreten. Exemplarisch kann diese Entwicklung an der Diskussion um die Möglichkeit einer Untreue des Geschäftsführers einer Einmann-GmbH gegenüber der GmbH aufgezeigt werden. Der Untreuetatbestand wird dort von überindividualistischen Auffassungen zu einer Garantie von Redlichkeit im Rechts- und Wirtschaftsverkehr umgestaltet[62]. Ob vor dem Hintergrund unserer individualistisch ausgerichteten verfassungsrechtlichen Ordnung ein überindividualistisches Wirtschaftsstrafrecht überhaupt konsequent entwickelt werden kann, erscheint freilich eher zweifelhaft.
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Den Gegenpol zu dieser Strömung bildet ein Verständnis von Wirtschaft, das seinen Ausgangspunkt bei den Handlungsbedingungen des wirtschaftenden Individuums nimmt. Eine strafrechtliche Steuerung konzentriert sich hier auf die Gewährleistung dieser individuellen Handlungsbedingungen. Für das Wirtschaftsstrafrecht wurde dieser Ansatz bisher freilich noch nicht in seinen grundlegenden Zusammenhängen entwickelt. Das kann erstaunen, denn rechtsdogmatisch hat solch ein Ansatz bei den individuellen Handlungsbedingungen einen gewichtigen und in der bisherigen Diskussion nicht hinreichend gewürdigten Vorteil: Indem das Wirtschaftsstrafrecht konsequent auf das Verhältnis miteinander agierender Personen zurückgeführt wird, wird eine Prämisse aufgenommen, die für die Entwicklung der allgemeinen Strafrechtsdogmatik bislang immer implizit mitgedacht wurde. Die klassischen Tötungs- und Körperverletzungsdelikte sind als Reaktion auf Sachverhalte entwickelt worden, in denen ein Individuum ein anderes verletzt. Rechtsfiguren der Einwilligung stellen darauf ab, ob die objektiv verletzte Person auf den ihr grundsätzlich zustehenden Achtungsanspruch verzichtet hat. Im Strafprozess richtet sich die Beteiligung des Opfers – im deutschen Recht z. B. gemäß den §§ 406d ff. StGB[63] – danach, ob es durch die Tat unmittelbar in seinen Rechten verletzt ist[64]. Wenn die für die Güter einzelner Personen geschaffenen Risiken statt dessen durch die abstrakte Verletzung überindividueller Zusammenhänge ersetzt werden, besteht die Gefahr, dass wichtige individuelle Faktoren, die heute bereits für die Konstitution der Straftat relevant sind, verstärkt in den Bereich der nur eingeschränkt überprüfbaren richterlichen Strafzumessung abgedrängt werden[65]. Wenn dagegen methodisch konsequent an der Verletzung individueller Güter und Interessen festgehalten wird, verliert das beschriebene Problem der sachgerechten Eingrenzung des Wirtschaftsstrafrechts insgesamt an Bedeutung.
Teil 1 Grundlagen zur Theorie des Wirtschaftsstrafrechts › B › III. Eigener Ansatz: Entwicklung eines Wirtschaftsstrafrechts auf der Grundlage eines methodologischen Individualismus