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1. Betrachtung des Wirtschaftsstrafrechts aus methodisch individualistischer Perspektive – Definition und Überlegungen zu Möglichkeiten einer strafrechtsimmanenten Konkretisierung des Ansatzes
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Von einem individualistischen Ausgangspunkt lässt sich das Wirtschaftsstrafrecht in einem ersten Zugriff wie folgt definieren: Wirtschaftsstrafrecht ist dasjenige Strafrecht, das die Handlungsbedingungen des Einzelnen zur Verfolgung seiner individuellen Erwerbsinteressen in der Gesellschaft vor Eingriffen Dritter durch Sanktionen sichern und dadurch individuelles Wirtschaften erleichtern soll.
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Der erste Schritt auf dem Weg zu einem solchen Wirtschaftsstrafrecht muss also damit beginnen, die „Handlungsbedingungen des Einzelnen zur Verfolgung seiner individuellen Erwerbsinteressen in der Gesellschaft“ näher zu konkretisieren. Allerdings verspricht es wenig Erfolg, diesen Konkretisierungsversuch rein „strafrechtsintern“ betreiben zu wollen:
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Das Wirtschaftsstrafrecht selbst wird in der bisherigen Spezialdiskussion als eigenständige Materie bislang eher holistisch diskutiert, sodass für die Konkretisierung der Gegenposition dort kaum Ansätze erwartet werden dürfen.
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Sucht man innerhalb der allgemeinen – nicht speziell auf das Wirtschaftsstrafrecht konzentrierten – strafrechtsdogmatischen Diskussion nach solchen oder so ähnlichen Ansätzen, stößt man etwa bei Hassemer/Neumann auf die Idee eines auf der Vorstellung von einem Gesellschaftsvertrag gründenden normativen Individualismus[66]. Getragen sind diese Ansätze freilich von dem kriminalpolitischen Programm eines restriktiv gefassten Kernstrafrechts. Diesem kriminalpolitischen Programm muss sich der Versuch, das Wirtschaftsstrafrecht vom analytischen Verständnis her individualistisch zu erfassen – also ein rein methodischer Individualismus –, nicht zwingend verpflichten. Im Gegenteil: Es wäre sogar theoretisch besonders begründungsbedürftig, weshalb sich der im Kern rein analytisch begründete methodische Individualismus auch kriminalpolitisch dem normativen Individualismus verpflichten sollte. Im Verlauf der Arbeit werden sich anhand der zu konkreten Einzelauffassungen vertretenen Meinungen daher auch durchaus erhebliche Unterschiede in den Ergebnissen zeigen. Umgekehrt legt es ein normativer Individualismus zwar nahe, sich methodisch auf eine individualistische Analyse der einschlägigen Sachverhalte zu verpflichten. Das Angebot entsprechender strafrechtlicher Analysen ist indessen bis dato äußerst begrenzt und beschränkt sich im Kern auf Verweise auf ein angebliches Kernstrafrecht, das in seinem Anwendungsbereich begrenzt bleiben soll[67].
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Übrig bliebe damit ein Befragen des traditionellen individualistischen Strafrechts auf seine Antworten auf wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte, aber damit lässt sich für ein theoretisches Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts wenig gewinnen. Es wäre zwar denkbar, Rechtsgüter, bei denen im Wesentlichen Einigkeit darüber besteht, dass sie individualistisch zu verstehen sind, auf ihre Funktion für die Verfolgung individueller Erwerbsinteressen zu untersuchen. Auch ein solcher Ansatz begegnet indessen kaum überwindbaren Unwägbarkeiten. Wie gering und unsicher der Ertrag sein würde, zeigt ein exemplarischer Blick auf (nur) zwei neuere Versuche, den Tatbestand des Betrugs in ein kohärentes System strafrechtlichen Vermögensschutzes einzufügen: die Kommentierung des Betrugs von Hoyer und die von Kindhäuser. Hoyer sieht den Betrug als einen im Besonderen Teil vertypten Spezialfall mittelbarer Täterschaft kraft überlegenen Wissens an, der allein das Vermögen des Geschädigten schützt[68]. Aus § 263 StGB wäre demnach für das Wirtschaftsstrafrecht vor allem das Gebot des Vermögensschutzes abzuleiten. Weitergehende Forderungen nach einem daneben stehenden Recht auf Wahrheit oder (für § 253 StGB) auf eine Willensbildung frei von nötigendem Zwang lehnt Hoyer ausdrücklich ab[69]. § 263 StGB wird von Hoyer weiter konsequent in eine Reihe mit den seiner Auffassung nach ebenfalls vorrangig bzw. ausschließlich dem Vermögens- bzw. Eigentumsschutz verpflichteten §§ 242, 253 StGB gestellt[70]. So zieht er etwa aus dem Schutz objektiv wertloser Gegenstände durch §§ 242, 249 StGB den Schluss, das Vermögen im Sinne von § 263 StGB müsse auch solche Positionen erfassen, die keinen objektiven wirtschaftlichen Wert haben, solange neben dem Opfer nur eine weitere Person diesen Positionen einen Geldwert zumisst[71]. § 263 StGB schützt danach also statisch einen Bestand an Vermögen, zu dem auch Gegenstände mit reinem Affektionswert zählen. Bei Kindhäuser wird der Betrugstatbestand bereits im Grundverständnis anders konzipiert. Kindhäuser sieht im Betrug einen dynamischeren Tatbestand zum Schutz des Vermögens und zur Dispositionsfreiheit des Opfers[72]. Die Dispositionsfreiheit versteht er als Freiheit, selbstverantwortlich über die eigenen Vermögensgegenstände verfügen zu können[73], wobei der Topos der Selbstverantwortlichkeit seinerseits konkretisierungsbedürftig ist. Die Dispositionsfreiheit selbst soll aber „zu den definierenden Merkmalen des von der Norm garantierten Vermögens“ gehören[74]. Den Vermögensbegriff versteht Kindhäuser funktional als Verfügungsmacht einer Person über die ihr rechtlich zugeordneten Güter im Sinne von Positionen, denen ein abstrakter Geldwert zugemessen werden kann[75]. Schon wenn man nur diese beiden Positionen einander gegenüberstellt, wird deutlich, wie groß die Unsicherheiten selbst bei Kernfragen elementarer Tatbestände des Besonderen Teils sind. Soll zur Bestimmung des Vermögens nun ein abstrakter, ein objektiv-wirtschaftlicher oder ein konkreter Maßstab dienen? Soll eine Position nach Ansicht des Rechtsverkehrs einen Geldwert haben oder nur aus der Sicht einer einzelnen Person einen Tauschwert? Sollen reine Affektionsinteressen geschützt werden oder nicht? Soll der Tatbestand neben dem Vermögen weitere Rechtsgüter schützen, oder sind etwa dem Begriff des Vermögens bestimmte Verfügungsvoraussetzungen implizit? Alle diese Fragen dürfen noch heute in weiten Bereichen als ungeklärt oder zumindest stark umstritten gelten. Der Versuch, ein Wirtschaftsstrafrecht auf einem solchen Fundament zu errichten, wäre der Versuch, auf Sand zu bauen. Und: Selbst wenn man alle Tatbestände des geltenden Strafrechts – oder zumindest des Kernstrafrechts des StGB – auf ihre Anwendung auf wirtschaftsstrafrechtliche Sachverhalte untersuchen würde, würde sich aus dieser Vorgehensweise nicht zwingend ein in sich geschlossenes System ergeben. Gewonnen wäre nur eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechts, die gegenüber diesem Recht nur wenig kritisches Potential aufdecken könnte. Zwar könnte die Leistungsfähigkeit des status quo dargelegt werden; unangemessene Sanktionsdifferenzen könnten aufgedeckt werden; die Fragmentarität des Strafrechts in einem Bereich könnte einer besonders umfassenden Pönalisierung in einem anderen Bereich gegenüber gestellt werden. All dies ist aber auch möglich, wenn es gelingt, den vorgeschlagenen individualistischen Ansatz auf andere Weise näher zu konkretisieren.