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dd) Normprägende und normkritische Funktion sowie Grenzen des ökonomischen Menschenbildes
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Das Bild des homo oeconomicus hat daher in der heutigen Ökonomie vor allem zwei Funktionen: eine eher normative normprägende und eine eher analytische normkritische[122].
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In ihrer normkritischen Funktion führt die zentrale Verhaltensannahme des Opportunismus weder zu seiner positiven Deskription noch gar zu einer positiven Handlungsempfehlung, sondern dient als analytischer Maßstab vorhandenen Rechts. Der kluge Normgeber und -anwender muss danach die Norm selbst auf den homo oeconomicus als Adressaten ausrichten und in einer Weise formulieren, dass der Normbefehl auch im Verhalten des homo oeconomicus wirksam wird. Dies gilt erst recht, wenn mit einer bestimmten Art von Normen (zum Beispiel mit Sanktionsnormen) deutlich wahrnehmbare Anreizverhältnisse gesetzt werden sollen, da hier das Modell des homo oeconomicus besonders tragfähige Analysen anbieten kann[123]. Die Opportunismusannahme als konsequente Fortführung der Eigennutzprämisse bildet hier einen zentralen Faktor in der Rezeption des ökonomischen Menschenbildes in rechtlichen Überlegungen. Auch wenn der Mensch dort komplexer bzw. zumindest in einem anderen Zusammenhang gesehen werden muss[124], bleibt die Eigennutzprämisse ein wesentlicher Faktor bei der Formulierung und Implementierung normativer Steuerungselemente. So muss sich der Normgeber bereits bei der Formulierung der Norm gewiss sein, dass der homo oeconomicus Lücken im Normtext stets ausnützen wird. Bereits bei der Normsetzung sollten Normen daher auf Missbrauchsmöglichkeiten überprüft werden. Jenseits der Ebene der Normsetzung sollte auf der Ebene des Normvollzugs gewährleistet werden, dass die Norm in der Praxis auch effektiv durchgesetzt werden. So kann etwa neben der Sanktionshöhe auch die Zuständigkeit bestimmter Behörden für die Durchsetzung der Norm einen ganz wesentlichen Faktor für praktische Wirksamkeit einer Norm sein.
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Wichtig ist freilich, die Grenzen des ökonomischen Verhaltensmodells klar zu erkennen[125]: Weder darf die Aussagekraft dieses Ansatzes überschätzt werden, noch dürfen die Anomalien mit aller Gewalt des Systems wegen systemkonform interpretiert werden, noch darf man der Illusion unterliegen, durch das Design geeigneter Restriktionen bzw. Sanktionen jedes beliebige Verhalten bewirken zu können[126]. Würden die verschiedenen Anomalien des Modells durch zusätzliche Annahmen und Verfeinerungen des homo oeconomicus eliminiert, drohte das Modell des homo oeconomicus seinen empirischen Gehalt (die Aussagekraft über den Normalfall und das regelmäßig Erwartbare) zu verlieren[127]. Der Aussagegehalt ist zudem äußerst abstrakt. Selbst wenn alle Individuen in ihren Interaktionen mit anderen vollständig ihr Eigeninteresse verfolgen könnten, entstünde nur eine Situation, in der niemand schlechter gestellt werden könnte als zuvor (sog. Pareto-Optimum). Wie eine solche (pareto-optimale) Situation konkret aussieht, ist nicht vorhersehbar, denn theoretisch bestehen unendlich viele solcher Situationen.
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Normprägend ist der homo oeconomicus, soweit er möglichste Rationalität und die Verfolgung des eigenen Gewinnstrebens zur normativ verbindlichen Zielvorgabe des „guten“ Ökonomen macht[128]. So wird aus wirtschaftstheoretisch-systemimmanenter Perspektive von einem Händler erwartet, dass er Waren möglichst billig einkauft, um sie dann möglichst teuer zu verkaufen. Aus rechtlicher Perspektive würde der angestellte Kaufmann, der diese Prämisse missachtet, seine arbeitsvertraglichen Pflichten in rechtlich bedeutsamer Weise verletzen, vielleicht sein Arbeitsverhältnis gefährden und Schadensersatzpflichten auslösen oder in extremen Fällen sogar wegen Untreue strafbar sein. In diesem Sinne wird etwa in der gesellschaftsrechtlichen Literatur diskutiert, ob der Vorstand einer Aktiengesellschaft nicht sogar von seiner Legalitätspflicht gegenüber dem Unternehmen suspendiert sein soll, wenn ein Rechtsbruch dem Unternehmen nützt[129]. Das Gewinnstreben als normative Vorgabe könnte danach also in bestimmten Fällen sogar entgegenstehende rechtliche Vorgaben verdrängen und hätte demnach normativ sogar eine herausgehobene Bedeutung.