Читать книгу Diese heiß ersehnten Jahre - Liebesroman - Marie Louise Fischer - Страница 15

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Schon vor dem Abschluß in der Kosmetikschule hatte Martina begonnen, sich nach einer Stellung umzusehen. Bevor sie selber ein Institut eröffnen konnte, mußte sie mindestens ein Jahr als Praktikantin arbeiten. Es war wichtig für sie, an einem Institut unterzukommen, das nicht nur einen guten Namen hatte, sondern ihr, der Anfängerin, auch Gelegenheit bot, möglichst viele verschiedene Behandlungen durchzuführen. Das Kosmetikinstitut Heerdegen, auf der stillen Seite der Königsallee gelegen, war ein Betrieb, in dem sie gern gearbeitet hätte. Dort hatte sie sich auch schon vorgestellt und war wohlwollend in Betracht gezogen worden. Aber erst jetzt, da sie ihr Diplom in der Tasche hatte, konnte sie sich mit Nachdruck um eine Anstellung bemühen.

Guten Mutes fuhr sie am Montag in der Frühe nach Düsseldorf. Über die nahe Zukunft brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Als Praktikantin unterzukommen war, das wußte sie, kein Problem. Erst später, als ausgebildete Fachkraft mit entsprechenden Gehaltsansprüchen, würde es schwieriger werden; auch deshalb war sie fest entschlossen, sich so bald wie möglich selbständig zu machen.

Das Kosmetikinstitut Heerdegen erstreckte sich über alle Stockwerke eines schmalen alten Hauses aus der Gründerzeit, das vormals eine Privatvilla gewesen war und mit seiner eindrucksvollen Sandsteinfassade immer noch so gewirkt hätte, wenn nicht die Schilder des Instituts in den Fenstern gestanden hätten. Innen war es umgebaut worden, nur die schöne geschwungene Treppe in der Eingangshalle hatte man stehen lassen; sie gab dem Institut eine besondere Atmosphäre. In dieser Halle konnten die Kunden warten, lesen und sich – vor oder auch nach der Behandlung – eine Erfrischung gönnen: Tee, Kaffee und viele Arten von nichtalkoholischen Getränken.

Bei ihrem ersten Besuch hatte Martina diese Halle betreten, war aber von der jungen Dame in der Anmeldung belehrt worden, daß sie, wie die Angestellten des Hauses, den Lieferanteneingang zu benutzen hatte. Dieser zweite Eingang, ein Überbleibsel aus der »guten alten Zeit«, lag einige Stufen unterhalb der Straße und führte in das Souterrain, in dem die Küche, die Büros und auch die Aufenthalts- und Garderobenräume für das Personal untergebracht waren.

Auf Martinas Klingeln öffnete sich die schmale Tür mit dem vergitterten Fenster. Sie betrat einen langen, künstlich beleuchteten Gang, der bis zur Hinterseite des Hauses führte. Im Gegensatz zur Eleganz der oberen Räume gab es hier nur ein paar schäbig gewordene Korbsessel.

Martina meldete sich an und machte sich auf langes Warten gefaßt, aber schon wenige Minuten später wurde sie hereingerufen. Eine Sekretärin führte sie durch das Vorzimmer in das Chefbüro, einen hübschen, quadratischen Raum, der Licht aus einem hochliegenden, vergitterten Fenster erhielt. Das Zimmer war zweckmäßig und sehr einfach eingerichtet. Es war augenscheinlich, daß die Chefin hier niemals Kundinnen zu empfangen pflegte. Frau Heerdegen saß hinter ihrem großen Schreibtisch und blickte Martina mit leicht zusammengekniffenen Augen prüfend an. »Frau Martina Stadelmann . . . «

»Ja, das bin ich.« Martina unterstellte nicht, daß Frau Heerdegen sich an sie erinnerte, sondern nahm eher an, daß die Sekretärin ihr den Namen genannt hatte.

»Bitte, setzen Sie sich.«

Bevor Martina dieser Aufforderung nachkam, zog sie ihr Diplom aus der Kollegtasche und legte es Frau Heerdegen vor. Sie fühlte sich in ihrem Etuikleid aus grün-braunem Glencheckstoff und dem dazugehörigen dreiviertellangen Mantel mit dreiviertellangen Ärmeln und breiten Aufschlägen sehr sicher. Ihren rechten Handschuh hatte sie ausgezogen und hielt ihn in der linken Hand.

Frau Heerdegen betrachtete das Diplom. Sie mochte Mitte Vierzig sein, eine Frau mit sehr gepflegtem, aber teigig wirkendem Gesicht. »Sehr schön. Sie haben es also geschafft. Wann können Sie bei uns anfangen?«

»Nach Ostern, Frau Heerdegen. Ich muß mich erst nach einer Wohnung in Düsseldorf umsehen.«

»Sie sind nicht von hier?«

»Nein, aus Dinslaken.«

»Das ist ja nicht allzu weit.«

»Ich bin täglich zur Schule gefahren. Aber jetzt möchte ich doch hier wohnen, und es wird nicht einfach sein, eine passende Wohnung zu finden. Der Umzug . . . « Martina hielt es nicht für zweckmäßig, von ihren Kindern und ihrer Scheidung zu sprechen.

»Na schön. Nach Ostern also.« Frau Heerdegen reichte ihr das Diplom zurück. »Zu den üblichen Bedingungen. Dreihundert Mark brutto.«

»Einverstanden.«

»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn wir Sie Martina nennen.«

»Nein, gar nicht.«

»Ich sehe Sie dann am 2. Mai. Vergessen Sie nicht, sich eine Lohnsteuerkarte zu besorgen.«

Martina fühlte sich entlassen und stand auf.

»Sie sind nicht mehr jung«, erklärte Frau Heerdegen überraschend.

Was selten geschah – Martina schoß das Blut ins Gesicht. »Ich bin siebenundzwanzig.«

»Das meine ich ja. Es bleibt Ihnen wenig Zeit.«

»Aber wieso denn? Das verstehe ich nicht!«

»Eine Kosmetikerin kann nur Erfolg haben, solange sie selber jung und attraktiv wirkt. Alle Kenntnisse und alle erworbenen Fähigkeiten nutzen ihr nichts mehr, wenn sie nicht ihr eigenes Aushängeschild sein kann. Sehen Sie mich an. Ich bin fünfundvierzig und gehöre schon zum alten Eisen.«

»Das muß aber doch nicht sein!«

»Ja, bleiben Sie nur dabei. So werden Sie auch Ihre Kundinnen überzeugen können. Sie werden noch früh genug lernen, daß man mit allen kosmetischen Tricks das Altern doch nicht verhindern kann.«

»Warum sagen Sie mir das?«

»Damit Sie mit Ihrem Pfunde wuchern.«

Jetzt konnte Martina wieder lächeln. »Danke, Frau Heerdegen. Genau das habe ich vor.«.

Als Martina nach Hause kam, fand sie einen Brief des Landgerichts auf dem Garderobentisch. Da sie bei der Lektüre weder gestört noch beobachtet werden wollte, verzog sie sich damit ins Bad und schloß die Tür hinter sich ab. Auf dem Rand der Wanne sitzend, noch im Mantel, riß sie den blauen Umschlag auf, entnahm ihm eine Kopie und las:

Nichtöffentl. Sitzung der 2. Zivilkammer des Landgerichts R 70/60 Dinslaken, den 15. 3. 1960
Anwesend:LGRat Wohnsdorf In Sachen Martina Stadelmann geh. Schmitz, in Dinslaken, Neustr. 11 aKlägerin,
als Einzelrichter Justizang. Schuler Proz.-Bev.: RA. Dr. Günther gegen
als U.d.G. Helmut Stadelmann, Oberpostinspektor, Dinslaken, Neustr. 11 a Beklagten – Proz.-Bev.: RA. Dr. Brocksieper

erschienen bei Aufruf

1 für die Klägerin RA. Dr. Günther

2 für den Beklagten RA. Dr. Brocksieper.

Die Parteien schließen folgende

Vereinbarung:

1 Für den Fall, daß die Ehe aus Alleinversckulden des Beklagten geschieden werden sollte, zahlt der Beklagte an die Klägerin eine einmalige Abfindung von 36 000,– DM, und zwar am 1. 5. 1960. Der Beklagte übernimmt die Kosten der Vereinbarung.

Martina stieß einen tiefen Seufzer der Befriedigung aus, studierte den Passus dann noch einmal, bevor sie weiterging.

1 Für den Unterhalt der beiden Kinder Claudia Stadelmann, geb. am 10. 7. 1951, und Stefan Stadelmann, geb. am 15. 6. 1952, die bei der Mutter bleiben sollen, zahlt der Beklagte monatlich je 200,– DM.

Na, immerhin, dachte Martina.

Für die Dauer von drei Jahren ist der Beklagte nicht berechtigt, gem. § 323 ZPO eine Abänderung zu begehren.

Der Beklagte übernimmt die Kosten der Vereinbarung. Der Proz.-Bev. der Klägerin erklärt, daß er sich in seinem Vortrag lediglich darauf beschränke, daß der Beklagte ehewidrige Beziehungen zu Fräulein Dinkler in Dinslaken unterhält. Die Sache wird an die Kammer abgegeben. Termin vor der Kammer wird anberaumt auf den 30. 3. 1960, 11 Uhr.

gez. Wohnsdorf

gez. Schuler

Martina ließ das Blatt sinken. Das war der Sieg. Sie hatte es geschafft. Langsam erhob sie sich, streckte sich und blickte lange in den Spiegel. Ihr Gesicht mit den schmalen, jetzt vor Erregung leicht geröteten Wangen unter dem hochgetürmten Haar war attraktiv. Die verschiedenfarbenen Augen, über die sie sich lange geärgert und mit denen sie sich inzwischen abgefunden hatte, gaben ihm etwas Geheimnisvolles. Die Haut war glatt und makellos, ohne vergrößerte Poren, Unreinheiten oder Fältchen.

Nein, Frau Heerdegen konnte ihr nicht bange machen. Sie hatte mindestens noch gute zehn Jahre vor sich. Und dann?

Unsinnig, jetzt schon darüber nachzudenken.

Den Nachmittag verbrachte Martina mit den Kindern. Sie prüfte ihr Schulwissen, erkundigte sich, wie wohl die Zeugnisse ausfallen würden, und regte sie an, von ihren Erlebnissen und Problemen zu erzählen.

Über die Scheidung sprach sie nicht. Sie hatte es vorgehabt, brachte es dann aber doch nicht über die Lippen. Die Kinder stellten keinerlei Fragen, und ihr schien der Zeitpunkt nicht gekommen.

Einmal sagte sie beiläufig: »Wenn wir dann erst in Düsseldorf wohnen . . . «

Claudia parierte sofort: »Ich komme nicht mit nach Düsseldorf!«

Martina wollte sich nicht mit ihrer Tochter streiten und zog es vor, das Thema zu wechseln.

Helmut kam pünktlich, kurz nach sechs, nach Hause. Sein Gesicht war verschlossen wie meist in der letzten Zeit.

»Ich habe einen Brief vom Landgericht bekommen«, berichtete Martina.

»Ich auch. Die Post kam, kurz nachdem du fort warst.«

»Ach so.« Martina gab sich einen Ruck. »Ich möchte dir danken, Helmut. Für dein großzügiges Entgegenkommen.«

Sein Gesicht erhellte sich nicht. »So könnte man es auch nennen. Tatsächlich hast du mir kaum eine Wahl gelassen.«

»Ich danke dir trotzdem. Es war sehr anständig von dir.«

Er knurrte nur.

»Übrigens habe ich heute eine Stellung gefunden.«

»Gratuliere.« Sein Ton drückte völlige Interesselosigkeit aus.

»Gehst du zum Termin?« Aufgekratzt durch die Ereignisse des Tages, hätte Martina gern ein Gespräch in Gang gebracht.

»Wozu?«

»Auch wieder wahr. Doktor Günther meint, es sei nicht nötig.« Allein durch seine verschlossene Miene brachte Helmut es fertig, Martina und die Kinder zum Schweigen zu bringen. Es gab Hackbraten mit Spinat, ein Gericht, das er liebte; heute aß er, als wenn es Häcksel wäre.

Martina ließ sich ihre gute Laune nicht nehmen. Es war ihr gelungen, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben, und sie war stolz auf sich.

Die Wohnungsfrage zu lösen erwies sieh als schwierig. Zwar wurde an allen Ecken und Enden von Düsseldorf gebaut, aber die Nachfrage nach Wohnungen war entschieden größer als das Angebot. Es war üblich geworden, schon dann zu vermieten, wenn gerade erst das Fundament des neuen Gebäudes betoniert war, ja, manchmal sogar noch früher, wenn das Vorhaben erst auf dem Papier stand.

Martina aber brauchte ihre Wohnung sofort. Nach Ostern begann das neue Schuljahr, der beste Termin also, die Kinder umzuschulen. Aber keine der beziehbaren Wohnungen entsprach ihren Ansprüchen. Sie durfte nicht teuer sein, denn sie würden, jedenfalls im ersten Jahr, sparsam leben müssen. Und sie mußte aus drei Räumen bestehen und verkehrsgünstig liegen.

So gewissenhaft Martina auch die Inserate der Tageszeitungen, nicht nur am Wochenende, studierte, so unermüdlich sie straßauf und straßab lief – sie fand nichts, was ihren Vorstellungen entsprochen hätte.

Schon faßte sie die Möglichkeit ins Auge, in Dinslaken zu bleiben und noch ein weiteres Jahr täglich hin und her zu fahren. Sich selber hätte sie das zugemutet, nicht aber Claudia und Stefan. Außerdem hatte sie mit Helmut ausgemacht, daß er, der in Dinslaken blieb, die Wohnung behalten sollte.

Ausgerechnet am 1. April erhielt Martina die Scheidungsurkunde. Diesmal schmeckte der Sieg bitter. Sie wußte immer noch nicht, wo sie wohnen sollte.

»Wann wirst du räumen?« fragte Helmut.

Martina wagte nicht, ihn zu bitten, sie noch wohnen zu lassen. Das wäre ihr, nachdem sie sich in jedem Punkt gegen ihn durchgesetzt hatte, unfair erschienen. »So bald wie möglich«, sagte sie nur.

»Wann ist ›bald‹?«

»Hast du es denn so eilig, mich loszuwerden?«

»Ehrlich gestanden, ja.«

»Du kannst es wohl nicht abwarten, bis du wieder verheiratet bist?«

»Ich und wieder heiraten? Den Teufel werde ich tun.«

»Kennt Susi deine Einstellung?«

»Das ist nicht dein Problem.«

»Du hast recht«, gab Martina zu.

»Also, wann ziehst du aus?«

Martina konnte und wollte sich nicht festlegen lassen. »Du weißt, daß ich Tag für Tag auf Wohnungssuche bin. Ich bleibe bestimmt nicht eine Minute länger als nötig.«

»Ich mache dir einen Vorschlag zur Güte«, sagte er. »Ich werde solange zu meiner Mutter ziehen.«

»Das ist wirklich hochanständig von dir!«

»Ich tue es in meinem eigenen Interesse. Es besteht ja jetzt wirklich kein Grund mehr, mir von dir auf den Nerven herumtrampeln zu lassen.«

»Daß du so zarte Nerven hast, habe ich nie geahnt.«

»Ich ziehe also aus. Aber spätestens am nächsten Ersten will ich die Wohnung für mich haben.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Martina half ihm beim Kofferpacken.

Als er sich von den Kindern verabschiedete, wurde er plötzlich weich.

»Mach’s gut, mein Junge!« Er fuhr Stefan mit ungewohnter Zärtlichkeit durch das weiche braune Haar.

Claudia klammerte sich mit aller Kraft an ihn. »Wo willst du hin, Vati?«

»Ich muß fort, mein Liebling.« Seine Stimme klang rauh, als müsse er mit den Tränen kämpfen. »Aber wir sehen uns bald wieder . . . Am Samstag bei den Großeltern, ja?« Rasch wandte er sich ab und verließ die Wohnung, ein großer Mann, die Schultern gebeugt durch die Last der Koffer.

»Das verzeih’ ich dir nie, Mutti!« rief Claudia aufgebracht.

»Jetzt hör mich mal an . . . «

»Du hast Vati aus dem Haus getrieben!«

»Aber ich habe doch gar nicht . . . «

»Doch hast du! Meinst du, ich bin blind und taub? Du warst gemein zu Vati . . . oh, so gemein!« Sie rannte ins Kinderzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Martina sah ihren kleinen Sohn an. »Bist du auch böse auf mich?«

»Nö. Er hat ja doch nie mit mir gespielt.«

Martina nahm den Jungen in die Arme. »Wir beide müssen jetzt ganz fest zusammenhalten, hörst du?«

»Klar, Mutti«, versicherte er, aber er befreite sich rasch, denn er mochte keine Zärtlichkeiten.

Die Wohnungsfrage löste sich dann durch einen glücklichen Zufall. Martina telefonierte eines Abends mit Irene Klose und erzählte ihr von ihren Sorgen. Dabei hatte sie den Eindruck, daß Irene nur mit halbem Ohr hinhörte, denn sie stand im Banne eigener Erlebnisse; sie war ebenfalls im Kosmetikinstitut Heerdegen angenommen worden und hatte die Stellung bereits angetreten. Natürlich interessierte sich Martina für ihren Bericht über die ersten aufregenden Tage, aber sie legte den Hörer doch mit einem Gefühl der Enttäuschung auf.

Es schien ihr jetzt, als habe sie falsch geplant. Sie hätte sich gleich im Januar, im Moment, da sie die Scheidung einleitete, nach einer Wohnung in Düsseldorf umsehen müssen.

Martina sah nur noch eine einzige Möglichkeit, aus der Notlage herauszukommen: wie seinerzeit ihre eigene Mutter nach dem Tod ihres Mannes zur Großmutter nach Essen zu ziehen. Die Wohnung der alten Dame war groß genug, sie alle aufzunehmen, und wahrscheinlich würde sie sogar froh sein, Gesellschaft zu haben. Aber – und darüber machte Martina sich keine Illusionen – die Großmutter würde darauf bestehen, daß Martina zu Hause blieb, sich um ihre Kinder und darüber hinaus um den ganzen Haushalt kümmerte. Von einer beruflichen und persönlichen Entfaltung konnte dann keine Rede mehr sein. Das war schlimm, und dennoch sah Martina keine Alternative, sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte. Sie klammerte sich an den Gedanken, daß es ja nur vorübergehend wäre, aber sie war realistisch genug, sich nichts vorzumachen. Aus Erfahrung wußte sie, daß die Lösung von der Großmutter mindestens so schwierig sein würde wie die aus ihrer Ehe. Die alte Dame konnte, wenn es um ihre Bequemlichkeit und ihren Eigennutz ging, sehr trickreich sein.

Unterschlupf bei der Großmutter zu suchen – das kam einer Niederlage gleich, und Helmut würde sich ins Fäustchen lachen.

Unruhig ging Martina hin und her. Sie drehte die Radiomusik lauter, um ihre Einsamkeit zu übertönen. Die Kinder schliefen schon. Sie fühlte sich sehr allein.

»Cindy, oh, Cindy, dein Herz wird einsam sein . . . « sang Margot Eskens, » . . . der Mann, den du geliebt, ließ dich allein . . . « Martina hatte diesen Schlager, als er vor zwei Jahren aufkam, sehr gern gemocht; er war ihr tagelang nicht aus dem Kopf gegangen. Aber jetzt wollte sie ihn plötzlich nicht mehr hören. Sie stellte das Radio ab. In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Martina meldete sich.

»Ich bin’s nur noch mal, Martina«, sagte Irene Klose. »Du, ich hab’ dich doch vorhin richtig verstanden? Du suchst eine Wohnung in Düsseldorf?«

»Ja, und wie!«

»Da wüßt’ ich was. Zwar nicht berauschend elegant, aber brauchbar. Drei Zimmer, Küche und Bad.«

»Wo?«

»Hier in Benrath. In der Börchemerstraße. Die geht von der Schloßallee ab, und von dort fährt der Achter direkt in die Stadt.«

»Ist das nicht eine ziemlich teure Gegend?«

»Die Gegend schon, aber die Wohnung nicht. Es ist eigentlich keine Wohnung, sondern mehr ein Häuschen.«

»Das klingt ja phantastisch.«

»Stell’s dir nicht zu feudal vor!« warnte Irene. »Es gehört einem Ehepaar Gardener. Die haben es sich selber aus Trümmersteinen ganz hinten in ihrem Garten erbaut, als ihr richtiges Haus ausgebombt war. Jetzt wohnen sie wieder vorne, und zwei junge Leute, Studenten, haben sich das kleine Haus renoviert. Die sind aber inzwischen mit ihrem Studium fertig und haben als Assistenzärzte Zimmer in ihren Krankenhäusern. Sie wollen das Häuschen loswerden.«

»Das dürfte ihnen doch nicht schwerfallen.«

»Bis jetzt – jedenfalls bis vor ein paar Tagen – hat es noch nicht geklappt.«

»Also hat die Sache einen Haken«, schloß Martina.

»Stimmt. Sie verlangen fünf Mille verlorenen Baukostenzuschuß. Sie sagen, so viel hätten sie in das Häuschen inklusive ihrer Arbeit gesteckt. Das mag sogar stimmen, bloß – es ist eben doch nur ein Provisorium. Ewig kann es da auch nicht stehenbleiben.«

»Irene«, bat Martina, »würdest du mir einen ganz großen Gefallen tun? Würdest du diese Gardeners anrufen . . . «

» . . . ob das Häuschen noch zu haben ist?« fiel Irene ihr ins Wort. »Mach’ ich sofort.«

»Halt, leg noch nicht auf! Frag sie auch, ob sie tatsächlich planen, das Häuschen abzureißen . . . und wenn, wann.«

»Dieses Jahr bestimmt noch nicht, denn sonst würden sie es ja nicht nochmals vermieten.«

»Frag trotzdem. Ich warte auf deinen Anruf.«

»Du würdest das Geld also zahlen?«

»Das wäre mir die Sache wert.«

Es dauerte eine gute Stunde, bis Irene zurückrief – eine Stunde des Bangens für Martina, in der sie sich aber doch schon wieder neuen Zukunftsträumen hingab.

»Ja?« fragte sie atemlos.

»Es steht günstig!« rief Irene. »Erst mal: das Häuschen ist noch nicht vermietet. Zweitens: die Gardeners möchten es zwar gerne niederreißen, können es sich aber vorläufig noch nicht erlauben. Sie brauchen die Miete.«

»Wie hoch ist die?«

»Zweihundertundfünfzig monatlich.«

Martina rechnete.

»Das ginge.«

»Heizung ist natürlich nicht drin. Nur Öfen.«

»Wasser und Elektrizität?«

»Ja. Aber weder Keller noch Speicher. Die Wäsche kannst du rückwärts im Garten aufhängen.«

»Du, Irene, ich komme gleich morgen raus und sehe mir die Sache an.«

»Leider werde ich nicht da sein, ich muß ja zu Heerdegen. An deiner Stelle würde ich selber mit Gardeners einen Termin ausmachen. Ich gebe dir die Nummer. Die können dann auch die jungen Ärzte, oder wenigstens einen von beiden, herbeilocken.«

»Du ahnst nicht, wie dankbar ich dir bin, Irene!«

»Unsinn. Es hätte mir schon viel eher einfallen sollen. Ich freue mich doch auch, wenn du in meine Nähe ziehst.«

Es war inzwischen zehn Uhr vorbei, und Martina scheute sich, die ihr unbekannten Gardeners jetzt noch anzurufen. Aber die in Aussicht stehende Wohnung war für sie so wichtig und die Angst, sie könnte ihr entgehen, so groß, daß sie ihre Hemmungen überwand.

Frau Gardener, die an den Apparat kam, zeigte sich nicht überrascht, aber auch nicht interessiert. Sie gab sich betont gleichgültig, so daß Martina, obwohl sie kaum über Menschenkenntnis verfügte, den Eindruck gewann, ihr liege sogar sehr viel an der Vermietung des Häuschens.

Die beiden Frauen verabredeten sich für den nächsten Vormittag um elf. Martina war überpünktlich und hatte so Gelegenheit, die Börchemerstraße einige Male auf und ab zu gehen, weil sie nicht zu früh vorsprechen wollte.

Das wiederaufgebaute Haus war ein zweistöckiger Bau, gut proportioniert, aber noch unverputzt. Es kostete Martina Überwindung, das niedere Vorgartentor zu öffnen, an dem Haus vorbei und nach hinten in den Garten zu gehen. Aber sie sagte sich, sie habe schließlich guten Grund, sich das Häuschen vorher wenigstens von außen einmal anzusehen.

Es erwies sich als ein sehr bescheidener rechteckiger Bau mit flachem Dach, sichtlich ohne Architekt und Baumeister errichtet. Dennoch gefiel es Martina auf den ersten Blick. Gerade seine Schlichtheit tat es ihr an. Zudem lag es, umgeben von grünenden Büschen und Bäumen, am Ende eines großen, reichlich verwilderten Gartens.

Es war ein sonniger Frühlingstag, der Himmel über der Stadt am Rhein spannte sich blau, und Flieder, Jasmin und der junge Kastanienbaum hatten schon dicke Knospen.

Auf der Rückseite fand Martina den Platz mit den gespannten Wäscheleinen, von dem Irene gesprochen hatte, und dahinter kam, teilweise von Sträuchern verborgen, die Mauer zum Nebengrundstück zum Vorschein. Hier würden die Kinder spielen können, ohne die Gardeners zu stören.

Martinas Entschluß stand fest: sie wollte das kleine Haus haben. Entschlossen klingelte sie an der Tür des Haupthauses.

Es stellte sich heraus, daß sie mit ihrem Wunsch sozusagen offene Türen einrannte. Die beiden Ärzte – der eine, ein Dr. Scholz, traf kurz nach Martina ein – hatten für das Haus einen siebenjährigen Mietvertrag geschlossen, es aber nur zwei Jahre benutzt. Sie wollten aus dem Vertrag aussteigen, aber nicht ohne die fünftausend Mark kassiert zu haben, die sie hineingesteckt hatten. Die Gardeners waren nicht in der Lage, ihnen das Geld zu geben, und, da sie für den Wiederaufbau des Vorderhauses eine beachtliche Hypothek hatten aufnehmen müssen, auch auf die Mieteinnahmen angewiesen. Sie befürchteten, die Ärzte würden, seit sie das Haus nicht mehr bewohnten, nur noch unwillig und unregelmäßig zahlen.

Diese Zusammenhänge erfuhr Martina teils im Gespräch, teils auch reimte sie sie sich nur zusammen. Wäre sie erfahrener gewesen und hätte selber nicht so unter Druck gestanden, hätte sie den Baukostenzuschuß hinunterfeilschen können. So aber war sie nur zu froh, daß sie ohne weiteres in den Mietvertrag der beiden Ärzte einsteigen konnte. Klugerweise hatte sie eine Kopie der finanziellen Vereinbarung mit ihrem geschiedenen Mann eingesteckt und konnte so glaubhaft machen, daß sie die verlangte Summe Anfang des nächsten Monats würde zahlen können.

Nun aber wollte Martina das Häuschen erst einmal besichtigen. Dr. Scholz und Frau Gardener begleiteten sie durch den Garten zu ihrem neuen Heim. Die Hausherrin war eine ruhige, sehr nüchterne Frau Anfang Vierzig. Ihr Mann arbeitete im nahen Reisholz bei der Böhme-Chemie. Sie hatten erwachsene Kinder; eine verheiratete Tochter wohnte mit Mann und Baby bei ihnen. Diese Informationen nahm Martina nur am Rande auf; sie brannte darauf, ihre zukünftige Bleibe von innen zu sehen. Es war für sie ein großer Moment, als sie die weiß gestrichene Holztür aufschloß. Dr. Scholz folgte ihr dicht auf dem Fuß, knipste Licht an und stieß die Fensterläden auf.

Die Zimmer waren in guter Verfassung. Tapeten, Bodenbelag und Anstrich waren in Ordnung, das gelb gekachelte Bad machte sogar einen fast luxuriösen Eindruck. Dennoch spürte man auf Schritt und Tritt, daß das Häuschen nicht für die Ewigkeit gebaut war. Martina hatte geradezu den Eindruck, daß die Wände bebten, als sie durch die Räume lief. Aber das störte sie nicht. Sie war von allem begeistert: von dem gebohnerten Holzbohlenboden und den phantasievollen Blümchentapeten. Auch daß einige Wände nicht recht-, sondern spitz- oder stumpfwinklig zueinander standen, entzückte sie.

Das Haus war nicht ganz leer. Im größten Raum, dem ehemaligen Wohnzimmer, das Martina im Geist gleich für sich selber beschlagnahmte, stand ein großes, selbstgezimmertes Regal, und in der Küche gab es ein altes, leuchtend rot gestrichenes Küchenbüfett, einen wackligen Tisch und drei Stühle.

»Im Preis inbegriffen«, erklärte Dr. Scholz mit großzügiger Geste. »Sie können das Zeug natürlich auch wegwerfen, wir haben es selber aus dem Sperrmüll gezogen.«

»Es wäre schade drum«, stellte Martina fest.

Da Dr. Scholz sah, wieviel Freude Martina an dem kleinen Haus hatte, raffte er sich zu einem weiteren Entgegenkommen auf. »Die Vorhänge und Gardinen haben wir abgenommen«, sagte er, »aber eigentlich können wir doch nichts damit anfangen. Wenn Sie sie haben wollen . . . «

»Oh, ja, gerne«, erklärte Martina, »sie werden mir bestimmt gefallen.« Sie lächelte ihn an. »Ich habe schon gemerkt, daß Sie und Ihr Freund einen ausgezeichneten Geschmack haben.«

Dr. Scholz blickte sich mit leichter Wehmut um. »Wir hatten es wirklich sehr hübsch hier.«

Martina fand ihn sympathisch. Sie hätte ihm gern gesagt, daß er sie – mit oder ohne Freund – gern besuchen dürfte. Aber sie traute sich nicht. Sie hatte Angst, er könnte es als aufdringlich auffassen. Angst auch, Frau Gardener könnte einen falschen Eindruck von ihr gewinnen.

Später sollte sie das bedauern, im Augenblick aber war sie ganz erfüllt von dem Glück, für sich und ihre Kinder eine Bleibe gefunden zu haben.

Sie gingen ins Haupthaus zurück. Der Mietvertrag wurde mit der Klausel geschlossen, daß er erst dann volle Gültigkeit haben würde, wenn Martina den Baukostenzuschuß hinterlegt hätte. Dr. Scholz war auch für seinen Kollegen zeichnungsberechtigt.

Martina rief gleich vom nächsten Postamt ihren geschiedenen Mann an.

»Gratuliere«, sagte er trocken.

»Das wäre doch ein Grund zum Feiern!«

»Aber nicht mit mir.«

»Warum bist du so unfreundlich?«

Auf diese Frage erhielt sie keine Antwort.

»Wir müssen die Möbel noch aufteilen«, erinnerte sie ihn.

»Teilen?« spottete er bitter. »Wie großzügig von dir! Ich dachte, ich bekäme das, was du nicht mehr brauchen kannst.«

»Du hältst mich wohl für sehr raffgierig?«

»Du bist die raffgierigste Person, die ich kenne.«

Friedfertig sagte sie: »Vielleicht stimmt das sogar. Ich lasse mir wirklich nicht gern die Butter vom Brot nehmen. Aber was die Möbel angeht, da hast du Glück. Ich kann nicht allzuviel in Düsseldorf verwenden.«

»Wieso nicht?«

»Die Wohnung ist ganz anders. Also schau mal vorbei. Möglichst bald, bitte. Ich möchte den Umzug so rasch wie möglich hinter mich bringen. Das ist doch auch in deinem Interesse.«

Diese heiß ersehnten Jahre - Liebesroman

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