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Und dann kam der Sommer

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Inzwischen landeten Menschen auf dem Mond, schafften es, sich über zehntausende Kilometer per Funk zu unterhalten, aber sein Zuhause war immer noch ohne Telefon. Und deshalb musste er auf halbem Weg zu Udo wieder umdrehen. Er hatte seinen Wohnungsschlüssel auf dem Flurtisch vergessen. Ein kurzer Anruf hätte alles klären können. Schlüssel unter die Fußmatte und fertig.

Abgehetzt erreichte er sein Ziel. Er hatte sich verspätet. Udos Gartenparty war bereits in vollem Gange. Von weitem hörte er Musik, die aus dem Garten des Einfamilienhauses herüberwehte. Ein Plattenweg führte ihn entlang der Hauswand zur Terrasse der Meyers. Carl öffnete zwei weitere Knöpfe seines bunt gestreiften Oberhemdes. Schweißgebadet war er. Und gespannt, wer alles gekommen war.

Nach diesem heißen Tag hatte es sich nicht merklich abgekühlt, selbst am Abend herrschten immer noch Temperaturen wie in einem Backofen.

Er warf einen letzten Kontrollblick auf die Beinausschnitte seiner Bluejeans. Die Schuhspitzen waren nicht mehr zu sehen, so war es in Ordnung. Er hatte die Stoßkanten der Hosenbeine in Heimarbeit abgeschnitten, den Jeansstoff ausgefranst wie bei einem Perserteppich.

Eine ganze Woche hatte es gedauert, bis ihn sein alter Herr mit der neuen Kreation erwischt hatte. Mann, hatte der vielleicht getobt!

Klar, eine original Levis kostete fast einen ganzen Wochenlohn. Alternativen gab es nicht. Äußerstenfalls, und nur im Notfall, eine Wrangler. Doch das war eher eine Glaubensfrage zwischen der Levis- und der Wrangler-Fraktion. Carl hatte immer das Gefühl, in einer Wrangler wie eine eingepresste Wurst auszusehen und hielt seiner Levis die Treue.

Er zupfte seinen Hemdkragen gerade und dehnte seine Nackenmuskeln nach rechts und nach links. Vorbereitungen, als empfange er in wenigen Sekunden einen wichtigen Filmpreis oder so was. Dann folgte er entschlossen dem zunehmend stärker werdenden Geräuschpegel.

Eine Kette aus bunten Lampions baumelte unter der Pergola aus Lärchenholz. Lichtreflexe hüpften über den Terrassenboden aus unregelmäßigen Bruchsteinen. Udo hatte seine Stereoanlage draußen aufgebaut. Carl stellte seine Schallplatten zu den übrigen unter den Gartentisch. Niemand beachtete ihn, als hätte er sich mit einer Tarnkappe unsichtbar gemacht.

Überall hatten sich Grüppchen gebildet, waren Mädchen und Jungs in Gesprächen verwickelt. Auf dem Plattenteller drehte sich eine Platte von den Doors. Die Anlage, bis zum Anschlag aufgedreht, spielte nicht rund. Eine einzige Brumm- und Kratzorgie. Carl regelte Lautstärke und Bassfundament einen kleinen Tick zurück. Der Ton wurde klarer und differenzierter. Keiner hats gemerkt.

Sogar Whisky war gekommen. Inmitten einer Traube aus weiblichen Verehrerinnen entdeckte Carl ihn und wunderte sich über die Anziehungskraft, die der verdammte Casanova auf die Mädchen der Parallelklasse ausübte. Die Szenerie wirkte, als habe er seinen kompletten Hofstaat um sich versammelt. Dabei sah er mit der Prinz-Eisenherz-Frisur und seinem Fu-Manchu-Bärtchen eher aus wie ein Minnesänger, dem seine Laute abhandengekommen war.

Die bläulichen Flammen des kleinen Campingkochers züngelten sternförmig und unermüdlich gegen die Unterseite eines viel zu großen Emaille-Topfes. Carl musste schmunzeln. Diese ausrangierten Monstertöpfe wurden früher zum Einkochen von Obst und Gemüse benötigt und hatten in modernen Zeiten wie diesen endgültig ausgedient. Wer kochte noch auf Kohleöfen?

Carl hob den Deckel ab, sah massenhaft Würstchen darin herumdümpeln. Einige waren bereits aufgeplatzt. Er verspürte noch keinen Hunger.

Die Mädchen trugen verlockend kurze Röcke, darüber Gürtel aus Skai, so breit wie Autoreifen. Sie waren zwischen 16 und 18. Obgleich hautenge Jeans-Hosen ihren besonderen Reiz besaßen, gefielen Carl diese neuen Miniröcke um Längen besser. Doch merke dir eins: nur angucken, nicht anfassen!

Udo hatte seinen Goldfischteich zum Getränkekühler umfunktioniert. Unzählige Bierflaschen-Etiketten hatten sich abgelöst und schwammen wie ein bunter Teppich auf der Wasseroberfläche. Es waren alle möglichen Biersorten darunter: Hansa, Ritter, Kronen, das volle Sortiment.

Carl angelte wahllos eine Flasche heraus. Seine Tarnkappe würde er noch eine Weile aufbehalten. Unauffällig schlenderte er durch den Garten und verharrte, weil Whiskys Stimme lauter wurde. Für eine Weile lauschte er andachtsvoll.

Um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, fuchtelte Whisky mit den Händen in der Luft herum wie ein Prediger oder so. „Versuche dich zu nähern, aber komme nicht zu nah. Versuche durchzukommen, aber nicht vor die Hunde zu gehen. Jetzt bist du unberührbar. Nur ich kann dich noch berühren. Du bist unsichtbar. Du hast zu viele Geheimnisse. Eines Tages wirst du alles finden, was du je gesucht hast.“

Whisky verneigte sich mit einer galanten Armbewegung und die Mädchen applaudierten lachend.

„Oh Whisky. Das war... das war ... Puh...“, begeisterte sich Angelika. „Hab noch richtig Gänsehaut. Von wem ist das?“

„Das hat Bob Dylan gesagt. Na ja, so ähnlich jedenfalls.“ Whisky wirkte ein wenig verlegen, und ganz ehrlich, soviel Poesie hätte Carl dem alten Haudegen gar nicht zugetraut. Whisky schien etwas hinzufügen zu wollen.

„Und was machst du so beruflich, wenn ich fragen darf?“, kam Sylvia ihm zuvor.

Die Frage traf ihn unvorbereitet. „ Mm! Ist noch nicht ganz raus. Also mit der Uni, das ist ... das hat sich... “

„Klaro Student. Hätte ich gleich drauf kommen können“, hatte Sylvia die Erleuchtung.

„Yeah. Ganz genau. Du hast es drauf. Du hast es echt drauf, Mann.“ Whisky zwirbelte mit den Fingern an seinem Fu-Man-Chu-Bart und grinste.

„Mm“, machte Sylvia. „Und was ist dein Fach?“

Whisky stutzte, faltete unbewusst die Hände, blickte zum Himmel und betete, dass die Fragestunde bald ein Ende hatte.

Sylvia strahlte und konnte sich kaum zurückhalten. „Wow! Du willst Pfarrer werden? Oder Priester?“

„Wo nimmst du’s nur her? Na ja, so was in der Richtung, jedenfalls“, gab er Sylvia recht, denn genau das wollte sie von ihm hören.

Sylvia ließ nicht locker. „Echt wahr jetzt ... ohne Flachs?“

„Mann, frag mich was Besseres, mein Hase! Heiß ist mir, und ’n neues Bier könnt ich dringend gebrauchen.“

Carl hätte seine Tarnung am liebsten aufgegeben und laut losgebrüllt. War das interessant. Und das Gespräch wurde noch spannender. Gisela fragte nämlich kichernd: „Warum nennen dich alle Whisky?“

Carl hätte sich beinahe an seinem Bier verschluckt und bekam plötzlich Teleskopohren.

Whisky nahm einen ordentlichen Schluck aus der Flasche, die ihm Sylvia überlassen hatte, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. „Gefällt dir Whisky etwa nicht?“

„Klaro. Doch.“

„Na, siehst du. Dann ist ja alles roger!“

„Dann sag mir wenigstens deinen Vornamen?“, prockelte Ulrike weiter.

Bevor er antworten konnte, hielt sich Whisky dezent die Hand vor seinem Mund und stieß die überschüssigen Gase der Kohlensäure aus. Und plötzlich kippte seine Stimmung, wirkte er nachdenklich. „Und jetzt entschuldigt mich bitte, meine Damen!“, sagte er, verbeugte sich und entfernte sich aus der Frauenrunde.

Die Mädchen tranken Früchtebowle. Sobald der Flüssigkeitspegel in der Schüssel gegen Null abzusinken drohte, goss Udos Schwester Manuela das verführerische Getränk mit Kellergeister und Cognac auf.

Ulrike, Sabine und Susanne hatten sich Würstchen aus dem Topf geangelt, die sie zwischen ihren Fingern hielten und damit rumwackelten, als bestünden sie aus Gummi. Sie kicherten albern, und es gehörte nicht allzu viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was der Grund ihrer Ausgelassenheit war.

Udos Mutter stolzierte während des ganzen Abends zwischen den Gästen herum wie ein Starlet. Hier ein kurzer Smalltalk, dort eine nett gemeinte Regieanweisung. Udo passte das nicht. Frau Meyer trug ein aufreizend enges Kleid mit Blümchenmuster, an einer Seite war es bis hinauf zum Oberschenkel aufgeschlitzt. Carl verglich ihre Figur mit den Kurven einer Rennyacht, und das war nicht übertrieben. Sie war ansehnlich geschminkt, mit dicken rot aufgemalten Lippen und so. Ihre blonden Haare hatte sie auf dem Hinterkopf hochgesteckt und mit einer goldenen Spange befestigt. Einen schlanken Hals hatte sie, wirkte fast ein wenig wie Brigitte Bardot, nur dass sie ein paar Jährchen älter war, aber das fiel bei schlechter Beleuchtung kaum ins Auge.

Im Vorbeigehen lächelte sie Carl an, blinzelte dezent mit den Augen. „Alles in Ordnung, Scharrlie?“

Carl zeigte sich von der besten Seite, schmunzelte zurück und dachte sich nichts dabei. „Toll, Frau Meyer. Echt toll hier“, lobte er die vorbildliche Organisation.

Er hätte sich seine Mutter in diesem Aufzug nicht vorstellen können, und vermutlich hätte er etwas dagegen einzuwenden gehabt.

„Der Engel mit dem Schlitz im Kleid“, bemerkte Gonzo hinter vorgehaltener Hand und rammte Carl seinen Ellenbogen in die Seite.

„Hört bloß endlich auf damit“, regte sich Udo auf, „sonst bildet sie sich noch was darauf ein.“

„Ist ’n ganz schöner Feger, deine Mama“, grinste Whisky und blickte lüstern auf den runden Hintern ihrer Gastgeberin. „Ich sollte vielleicht mal wieder etwas gegen den Juckreiz tun, wisst ihr?“

„Ich weiß, was du meinst“, pflichtete ihm Gonzo bei und griente wissend.

Udo sah rot. „Noch ein Ton, und die Party ist gelaufen!“

Whisky versuchte die Sache herunterzuspielen. „Alles klar, altes Astloch. Reg dich wieder ab! Piano. – Okay, ihr Jungspunde, dann lasst uns die Sache mal lässig abrunden und noch einen zu uns nehmen.“ Und während er dies sagte, hob er entschuldigend die Hände in die Luft, beugte sich zu Udo herüber und drückte ihm ein schmatzendes Küsschen auf die Wange.

Die Dunkelheit hatte sie übergangslos eingefangen, in jedem Winkel des Gartens brannten Gartenfackeln. Aus den Lautsprechern näselte Bob Dylan sein finsteres Desolation Row. Im Schein der bunten Lampions drehte Carl ihm den Hahn ab, weil das Stück nicht enden wollte. Velvet Underground hielt er für passender. Oh Wunder, auch diesmal kein Protest!

Sein Magen meldete sich mit einem beeindruckenden Knurren. Nur ein jämmerliches Würstchen hatten sie übrig gelassen. Aufgeplatzt und vollgesogen wie ein Schwamm, dümpelte es auf dem Grund des Kochtopfes.

Enttäuscht legte er den Deckel auf den Topf zurück und begnügte sich mit einer trockenen Scheibe Toastbrot. Hawai-Toast wäre jetzt nicht schlecht.

Er hörte ein Geräusch, drehte sich ruckartig um und stieß mit seinem Hintern gegen den Kochtopf, dessen Deckel scheppernd auf dem Terrassenboden landete. Gaby hatte sich hinter seinem Rücken angeschlichen, unterdrückte einen Lachanfall, allenfalls ein leises Glucksen verbarg sie hinter vorgehaltener Hand. Sie ging in die Knie und hob den Deckel zurück auf den Topf. Dabei ließ sie ihr Ziel nicht aus den Augen, verschlang Carl mit ihren Blicken, als sei er der Hauptgang eines Festmenüs.

Er versuchte zu lächeln, wollte etwas sagen und brachte doch nichts zustande.

„Hi Charly, ganz nett hier. Oder?“, begann sie das Gespräch.

„Ga... Gaby?“ gab er zurück, und während er seinen Gaumen mit der Zunge von festgepappten Toastresten befreite, nickte sie eifrig. Carl spülte mit Bier nach. „Und wie läufts so?“, fragte er.

Es war eher einer dieser zaghaften Anbändelungsversuche, bei denen der Stoff für die Fortsetzung viel zu rasch auszugehen droht, und deswegen drehten sie sich dankbar um, als Udo seiner Schwester zurief, sie möge mehr Bier in den Teich legen und kaltes Wasser nachlaufen lassen.

„Sollten wir öfters machen“, sagte Gaby und trank einen Schluck von ihrer Bowle, deren Mischung inzwischen aus purem Kellergeister zu bestehen schien. Sie zog eine Grimasse wie nach dem Biss in eine unreife Zitrone.

„Ja, sicher, wieso eigentlich nicht. Hundert pro“, meinte Carl. Darauf folgte eine endlose Pause. Die Außentemperatur schien in schwindelerregende Höhen geklettert zu sein. Carls Oberhemd klebte auf dem Körper wie ein nasser Duschvorhang. Er fühlte sich wie in einer finnischen Sauna.

Gaby fächerte sich mit der Hand frische Luft zu. „Puh, ist ganz schön heiß, nicht?“

An ihrer Bluse hatte sich klammheimlich ein Knopf gelöst, vielleicht hatte sie auch etwas nachgeholfen, aber das war jetzt nicht wichtig. Irgendwie war er nicht mehr bei der Sache. Sie hob ihr Glas an den Mund. Der Ausschnitt ihrer roten Bluse, die ihren Busen umspannte wie eine zweite Haut, öffnete sich für einen kurzen, prickelnden Augenblick. Carl wirkte wie paralysiert, was er zu sehen bekam war einmalig, und er begann zu erahnen, was ihm bisher entgangen war.

Gaby sah Carl fragend an. „Hast du irgendetwas?“

„Doch, doch, ist nichts. Äh ...“ Carl überlegte kurz, mit seitlich an die Stirn tippendem Zeigefinger. Dann: „Hier ist gleich Zapfenstreich. Können wir uns mal treffen?“

Es war ihm einfach so rausgerutscht. Er biss sich auf die Unterlippe. Was hatte ihn geritten? Dummerweise hatte er dieses Thema angerissen, und natürlich musste er etwaige Konsequenzen tragen, die derart plumpe Angebote automatisch nach sich ziehen können, und im Grunde genommen rechnete er damit, dass sie nein sagte. Und klar wurde ihm das ganze Ausmaß seines Verlegenheitsgetues erst, als sie sagte, das sei kein Problem, warum eigentlich nicht, wie es mit morgen wäre, und sie einigten sich auf den nächsten Nachmittag.

Er kam schneller zu seiner ersten Verabredung, als ihm lieb war. Konnte er sich denn gar nicht richtig freuen? Ja und nein. Ja, weil er Gaby toll fand. Nein, weil er Bammel hatte. Versagungsängste? Die ganze Geschichte wieder abblasen? Nein. Geh locker an die Sache ran, Charly! Sei wie du bist, natürlich und ungezwungen; und warte ab, wie sich die Dinge entwickeln. Ja, so würde er es machen. Seine anfängliche Ratlosigkeit verwandelte sich in Zuversicht.

Es war viel zu spät geworden. Nach elf. Seine Ausgangszeit hatte er längst überschritten. Sie halfen bei den gröbsten Aufräumarbeiten. Für Carl wurde es allerhöchste Eisenbahn.

Sein Kopf voll von Gaby, rannte er den ganzen langen Weg zurück in einem durch. Mechanisch setzte er ein Bein vor das andere, Seitenstechen und Atemnot ignorierend, denn dafür blieb ihm keine Zeit. Er bog um die letzte Häuserecke und sah zu den Fenstern des Vier-Familien-Hauses hinauf. In der Wohnung brannte kein Licht, seine Eltern lagen schon im Bett. Er atmete erleichtert auf. Keine unangenehmen Fragen, keine erfundenen Geschichten, die seine Verspätung rechtfertigten. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Platten bei Udo vergessen hatte.

Fantasio

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