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Der erste Joint hinterlässt einen faden Beigeschmack

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War Whisky ein echter Hippie? Natürlich. Oh, ja. In Carls Augen war er das. Mit Haut und Haaren. Whisky brachte alle Voraussetzungen mit, die einen wahren Hippie auszeichneten, in seiner Erscheinung unkonventionell, lehnte die Lebensweise der Gesellschaft ab. Stattdessen setzte er auf immaterielle Werte wie Frieden, Glück, Liebe und Toleranz. Ganz nebenbei verkörperte er das Ruhrgebiet mehr als alle miteinander. Den Kohlenpott-Slang beherrschte er bis zur Perfektion. Wenn er sie zum Beispiel mit seiner unverkennbaren Reibeisenstimme aufforderte: „Dann lass uns mal einen verkasematucken!“, so hieß das nichts anderes, als die mit billigem Korn gefüllten Wassergläser in die Hand zu nehmen und den Inhalt in einem Zug hinunterzustürzen.

Whisky hatte sich in einem zum Abbruch freigegebenen Gebäude häuslich niedergelassen. Eine Genehmigung besaß er nicht. Miete zahlte er ebenfalls nicht. Es war nur eine alte Baracke, heruntergekommenes Fachwerk, nichts Historisches oder so. Durch die Fenster zog es wie Hechtsuppe, bei Sturm konnte es einem die Kerzen auf dem Couchtisch ausblasen. Der alte Kohleofen vom Klüngelkerl war ein wahrer Glücksgriff für Whisky. Der reinste Allesbrenner, altes Bauholz, eine Kiepe voll Eierkohlen oder ein Bündel Briketts ließen sich überall leicht auftreiben. Und was das für eine mollige Wärme erzeugte ...

Irgendwann würden die Behörden den Laden dichtmachen. Solange dies nicht geschah, hatten sie eine wichtige zentrale Anlaufstelle und Whisky eine Bleibe mit einem festen Dach über dem Kopf.

Whisky lebte von Stütze, und das ganz gut, für Bier, Tabak und Schallplatten langte es. Wie er das allerdings mit seinem VW-Bus deichselte, blieb sein Geheimnis. Was hatten sie nicht alles damit erlebt. Zum Baden an die Möhnetalsperre waren sie gefahren, zum Altbiertrinken nach Düsseldorf, zum Angeln an die Ruhr oder sie gondelten ziellos in der Gegend herum.

Carl war vernarrt in diesen Wagen. Hinten war der komplett mit Schaumgummimatratzen ausgelegt, und die Neugierigen wurden durch blickdichte Vorhänge mit Blümchenmuster ausgesperrt. Die mit dem Autoradio verbundenen Lautsprecherboxen im Heck verrichteten problemlos ihre Arbeit und vermittelten das Gefühl einer bis dahin nicht gekannten Freiheit – Musikvergnügen ohne Lautstärkebegrenzung. Auf den Seitentüren prangten riesige Atomgegner-Zeichen, aufgemalt mit schwarzer Farbe. Aus den kreisrunden Symbolen liefen die überschüssigen Farbreste senkrecht nach unten, und niemand hatte es für nötig befunden, sie rechtzeitig abzuwischen. Jetzt hafteten sie auf dem schlüpferblauen Lack des Wagens wie ein Kunstwerk von Picasso oder so.

Es kam ihnen manchmal vor wie eine Karussellfahrt, wie eine Achterbahnfahrt oder wie in einer Kirmesraupe, wenn sie hinten im Bus auf den Matratzen Platz genommen hatten. Durch die Zentrifugalkräfte kollerten sie hin und her wie die Metallkügelchen in einem dieser handflächengroßen Irrgartenspielchen, während Whisky vorne ordentlich aufs Gas drückte, mit Schmackes durch die Kurven driftete und an irgendeinem stillen Plätzchen mitten im Schwerter Wald stoppte. Warum machte Whisky das alles, fragte sich Carl. Er war erwachsen und mindestens zehn Jahre älter.

Carl fühlte sich auf eine ganz besondere Art und Weise zu ihm hingezogen. Von diesem Kerl ging nicht der geringste Funke von Gewalt aus, obwohl er nach seinem Äußeren mühelos als Komparse in einem Wikingerfilm hätte mitwirken können. Whisky behandelte seine jungen Freunde wie gleichberechtigte Erwachsene, und das war das Entscheidende. Niemand wusste seinen bürgerlichen Namen. Keiner fragte danach, es war nicht lebenswichtig. Sie spürten, dass es passte, und nur das zählte. Carl fragte sich allerdings, wie sein eigenes Leben in zehn Jahren aussehen möge. Er bewunderte diesen Typen. Echt. Doch hätte er im Ernst mit ihm tauschen wollen, sein Leben gegen das seinige? Eher nicht. War er am Ende gar ein Spießer?

„Habt euch hoffentlich nicht irgend so ein gestrecktes Zeugs andrehen lassen. Zeigt her den Stoff.“ Whisky rieb sich verschlafen die Augen, seine Stimme rau, als hätte er sich die Stimmbänder mit Sägemehl eingerieben.

„Der Stoff ist sauber, Whisky“, behauptete Buddy, zog ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnaufte sich kräftig die Nase. „Hab nur astreine Quellen.“

„Ja, ja. Werden wir gleich sehen.“ Whisky betrachtete das Päckchen und drehte das Piece vorsichtig aus dem Stanniolpapier. Er hielt eine Ecke des etwa fünf Zentimeter durchmessenden olivgrünen Bröckchens unter die Flamme seines Feuerzeugs, bis es leicht zu qualmen begann. Whisky schnupperte, anfangs etwas misstrauisch, doch flugs hellte sich sein Gesicht auf wie ein Sonnenaufgang über der Bucht von Saint-Tropez.

Alle warteten gebannt auf sein fachmännisches Urteil.

„Hmm ... Grüner Türke, scheint in Ordnung zu sein, Jungs. Dann lasst uns mal ’ne Kostprobe nehmen. Oder? “ Ohne zu fackeln begann Whisky mit den Vorbereitungen für den Bau eines Joints.

Carl wunderte sich über die unzähligen Gläser mit eingelegten Gurken, die sich in der Wohnung stapelten wie in einem unaufgeräumten Tante-Emma-Laden. Auf Fensterbänken, zwischen Büchern, auf Tischen und auf dem Fußboden. Udo und Gonzo hatten auf dem verschossenen Skaisofa Platz genommen, an der Wand darüber ein Che-Guevara-Poster, dass von einer einzigen Heftzwecke und einem Streifen Tesafilm gehalten wurde.

Zum unzähligsten Male kauten sie das Thema „Bed-in“ durch.

„Was sollte der ganze Mist“, ereiferte sich Gonzo, „da liegt der Kerl sieben Tage mit dieser japanischen Ische in einem holländischen Bett und demonstriert für den Frieden, und das Ganze wird in der Tagesschau gesendet. Und jetzt? Spricht noch irgendeine Sau darüber?“

Whisky nahm Buddy zur Seite. „Ich weiß jetzt schon, was als Nächstes kommt“, sagte er hinter vorgehaltener Hand.

Buddy grinste und nickte wissend, zog eine Grimasse und versuchte wie Gonzo zu klingen. „Wisst ihr was Lennon gesagt hat? Dies ist ein Werbespot für den Frieden.“

Und jetzt legte Gonzo seine Platte auf, fing bei null an. „Wisst ihr was Lennon gesagt hat? Dies ist ein Werbespot für den Frieden. Da lachen doch die Hühner. Hätte sie besser ordentlich flachlegen sollen.“

Whisky verdrehte gelangweilt die Augen, während er ein Stückchen Pappe aus einer leeren Zigarettenschachtel herausriss und daraus einen provisorischen Filter bastelte.

„Die Alte wickelt den guten John um den Finger, so wie sie ihn haben will“, sagte Udo jetzt. „Ich weiß gar nicht, was der an dieser Yoko Ono findet, ich meine, die sieht doch echt scheiße aus? Oder?“

„Es geht so“, meinte Carl. „Sieht nur 10 Jahre älter aus als der gute John.“

„Hat jemand Blättchen?“ fragte Whisky in die Runde. „Und könnt ihr bitte über etwas anderes reden?“ Er war genervt, offenbar ging es ihm nicht flink genug.

Udo kramte aus seiner Armeetasche ein Päckchen Zigarettenpapier und reichte es über den Tisch.

„Die benutzt ihn nur“, schaltete Buddy sich ein und strich sich mit den Fingerspitzen durch sein dichtes krauses Haar. „Der Frau geht es doch nur um die eigene Karriere. Wenn das man nicht der Anfang vom Ende ist.“

„Was meinst du damit?“, fragte Gonzo.

„Na ... das Ende für die Beatles.“

Whisky befeuchtete die Gummierung eines von zwei Blättchen mit seiner Zunge und klebte sie leicht diagonal aneinander, ein drittes setzte er quer dagegen. „Jetzt will ich euch was erzählen“, sagte er und legte den von Hand gerollten Filter in das überdimensionale Zigarettenpapier. „Die Beatles, die machen nie Schluss, die spielen noch zusammen, wenn sie im Altersheim sitzen, verlasst euch drauf.“

Kein Kommentar.

Whisky füllte die freie Papierfläche mit Tabak aus und erwärmte das Piece erneut mit dem Feuerzeug. Sobald es weich genug war, bröselte er etwas von der zähen Masse in das vorbereitete Tabakbett. Fingerfertig drehte Whisky eine, wie er es nannte, Tüte aus den Zutaten, am Ende des Filters dünn und nach oben hin immer breiter werdend. Das überstehende Papier am oberen Ende zwirbelte er zusammen und formte einen kleinen Papierdocht daraus. Fertig.

„Wer will?“ fragte Whisky und präsentierte den Joint als hätte er eine Miniaturbombe zusammengesetzt.

„Mach du selbst“, stammelte Gonzo, „hab so ’n Ding noch nie zwischen den Fingern gehabt.“

Nachdem Whisky die Spitze des Joints mit seinem Feuerzeug angebrannt hatte, klemmte er das Filterstück zwischen Zeige- und Mittelfinger, schloss die Hand zu einer Faust und nahm einen tiefen Zug durch die Öffnung zwischen Daumen und Zeigefinger. Er schloss seine Augen und spannte Kopf und Oberkörper leicht nach hinten. Auf diese Weise schluckte er den Rauch förmlich in sich hinein. Nach einer kleinen Ewigkeit stieß er den Qualm mit einem schnaubenden Geräusch durch die Nasenlöcher wieder heraus. Einen tiefen Zug später reichte er den Joint an Carl weiter.

Vor diesem Augenblick hatte sich Carl lange genug gefürchtet. Aussteigen ging nicht mehr. Und außerdem war er neugierig. Echt neugierig. Er machte alles richtig, genauso wie Whisky es vorgemacht hatte. Die erhoffte Wirkung indes blieb aus. Dafür bekam er einen Hustenanfall, und ihm wurde etwas übel, sonst nichts. Von Bewusstseinserweiterung und Trancezustand keine Spur.

Während der Joint in der Runde von einem zum anderen kreiste, achteten sie auf Whiskys Anweisungen.

„Verliert unterwegs bloß keine Asche! Die muss, solange es geht, dranbleiben. Die kostbaren Inhaltsstoffe sind da noch drin, müsst ihr wissen.“

Also wurde die rauchende Tüte nur ganz vorsichtig und mit äußerster Sorgfalt weitergereicht, wie eine Stange mit hochexplosivem Sprengstoff.

Udo verhielt sich professionell. Während er die Augen zusammenkniff und die Zähne aufeinander biss, inhalierte er so tief wie möglich. Dann lehnte er sich entspannt zurück und entließ den Rauch langsam aus der Nase.

Dagegen benahm sich Gonzo recht albern. Nach dem ersten Zug fing er an zu kichern und verdrehte die Augen, als wolle er in der nächsten Sekunde gen Himmel schweben.

Carl bezweifelte, dass der Stoff eine derartige Wirkung entfalten konnte, Gonzo spielte ihnen etwas vor, das war mehr als offensichtlich, und sie spielten sein Spielchen mit. Darum ging es letztendlich. Sie wollten sich irgendwie ausklinken, über den Wolken schweben, so richtig ausflippen, egal wie. Ein bisschen Schau ... Na wenn schon, war doch nichts dabei.

Buddy hatte einige Erfahrungen mit Drogen, prahlte ständig damit herum, was er alles so ausprobiert hatte. Er unterbrach sein Gespräch mitten im Satz für einen tiefen Zug aus der Tüte und redete sofort weiter. Den Rauch behielt er in der Lunge und schickte ihn mit jedem gesprochenen Wort stoßweise wie eine Dampflokomotive wieder hinaus. Gott, sah das vielleicht aus.

Der Joint zirkulierte. Sein beißender Geschmack hatte Carl durstig gemacht. Er öffnete eine Flasche Bier mit dem Feuerzeug und trank sie in zwei oder drei Zügen leer. Die Stimmen um ihn herum wurden gedämpfter, verflüchtigten sich in die Tiefe des Raumes, bis nur noch ein leises Murmeln zu hören war.

Musik dringt immer deutlicher an sein Ohr, wird lauter und lauter, es ist Street Fighting Man von den Rolling Stones. Er wiegt seinen Körper im Takt des Songs. Die Membranen in den Boxen wölben sich auf und ab, dem Platzen nahe. Licht. Blendendes Licht. Der Aschenbecher steht in hellem Flammenschein. Ein Knall. Scherben fliegen über den Tisch. Gurken kullern auf den Boden, und in dem Saft aus Essig schwimmt ein Tabaksbeutel wie ein gekentertes Schiff. Gekicher. Carl will sich eine Zigarette drehen und greift ins Leere, der Tabak ist weg, fortgespült. Im Schein der Flammen verschwimmt das Spiegelbild von Che Guevara in der Flüssigkeit. Che brennt, es lebe die Revolution. Von weit weg beängstigendes Geschrei. Er hört seinen Namen, und er will antworten, formt seine Lippen zu klanglosen Worten. Seine Stimme versagt. Die Musik wird leiser. Das Karussell hält an. Er blickt in grinsende Gesichter. Er hört Stimmen. Er hört Factory Girl von den Stones. Er hält etwas in der Hand.

„Hey, Charly, gehts wieder?“ Es war Buddy, der kräftig seinen Oberarm schüttelte.

Für den Zeitraum einer weiteren Umdrehung versuchte Carl, den Überblick zurückzugewinnen, strich seine schwarze Haarmähne aus dem Gesicht. Und plötzlich war alles wieder klar.

Sie saßen gemeinsam in Whiskys Wohnung und rauchten einen Joint. Zuerst blickte er in Whiskys grinsendes Gesicht und dann auf das Plattencover, dass er immer noch fest in der Hand hielt: Rolling Stones, Beggars Banquet. Und das Klo auf dem Klappcover erinnerte ihn an die Zustände im Fantasio. Dann grinste er wie ein Honigkuchenpferd oder so.

„Alles klar, Leute. Mit mir ist alles in Ordnung, hatte nur einen kleinen Durchhänger“, sagte er so ruhig wie möglich. „Hab alles unter Kontrolle. Wirklich. Mir war bloß ein bisschen schwindelig, sonst nichts. Aber der Stoff ist echt spitze, Leute.“

Fantasio

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