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Im Fantasio

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Ein schwerer Vorhang aus Loden gab den Weg in einen katakombenähnlichen Gang frei. Dichtes Menschengedränge, rauchgeschwängerte Luft, ein lauter Schwall Orgelmusik und eine Überdosis Patchouli schnürten Carl die Kehle zu. Er fühlte sich erdrückt. Schleieraugen, fettige Haare, Rauschebärte, rote Kussmäuler und torkelnde Gestalten huschten beängstigend nah durch sein Blickfeld. Wer sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, saß zusammengekauert auf dem Fußboden. Unter den Schuhsohlen das Gefühl von zertretenem Glas und klebrigem Allerlei, in der Nase der süßlich beißende Geruch von Verwesung.

Unsicher auf den Beinen, hielt sich Carl dicht hinter seinen Kameraden. Körperkontakt halten, den Anschluss nicht verlieren, sein einziger Gedanke.

Sie stießen in eine gewölbeähnliche Halle vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte er den Überblick längst verloren, sein Peilsender die Funktion eingestellt, funkte nur noch S.O.S. Ein einziges Labyrinth, vollgestopft mit Menschen und Dreck, das Fantasio, ein in sich geschlossener Mikrokosmos. Du öffnest diese Stahltür und befindest dich in einer anderen Welt, mit ihren eigenen Regeln und Gesetzen.

Die Chance, in diesem Getrissel auf Buddy zu treffen, schätzte Carl nicht sehr hoch ein. Er musste innerlich schmunzeln. Jetzt dachte er schon dieses verdammte Wort, das Horst ständig benutzte. Getrissel. War es seine Eigenkreation oder gab es das Wort tatsächlich? Er wusste es nicht.

Stroboskoplicht. Carl blinzelte mit den Augen, hielt sich die Hand schützend darüber. Personen und Inneneinrichtung waren durch die Lichtreflexe und den an die Wände projizierten Spezialeffekte nur schemenhaft zu erkennen. Raumschiff an Erde. Raumschiff an Erde. Erbitte um Landeerlaubnis! Carl verlor erneut die Orientierung, heftete seinen Blick auf einen bestimmten Punkt des Raumes und war augenblicklich fasziniert. Farbbläschen an der Wand, die aussahen, als betrachte man Meeresquallen durch ein Mikroskop. Die verschiedenfarbigen Flüssigkeiten waren ständig in Bewegung, veränderten laufend ihre Formen, ja, es schien beinahe, als passten sie sich dem Rhythmus der Musik von Livin’ Blues an, in perfektem Einklang, ein übernatürlicher Groove.

Eine Hand legte sich auf Carls Schulter. Der sofort einsetzende Adrenalinschub ließ ihn blitzartig herumschnellen. Er blickte in Buddys bübisch grinsendes Gesicht. Seine Anspannung verflog, die innere Verteidigungsbereitschaft baute ab.

Buddy war schon 19, strotzte vor Kraft. Seine Falsettstimme ging in dem Getöse fast unter, wirkte dennoch ungemein beruhigend. „Hi, Leute, pünktlich wie die Maurer. Na, wie gefällt euch der Schuppen?“

Carl fing an, die Atmosphäre zu genießen. Die laute Musik, das flirrende Licht, die bedrückende Enge. Er nickte anerkennend, klatschte Buddys Hand ab. „Intergalaktisch.“

Gonzo grinste schlitzohrig. „Ey, Charly, guck mal auf deinen Druckanzeiger. Hier ist genauso wenig Sauerstoff wie in einem Tiefseeaquarium.“

Udo nickte beipflichtend. „Die hydroponische Anlage muss kaputt sein. Und die Lichtverteiler funktionieren auch nicht.“

Als alle anfingen zu lachen, verstand Buddy nur Bahnhof. Und dann fiel Carl etwas auf. Stand da etwa ein Klavier in der Ecke, ganz hinten, am anderen Ende der Tanzfläche? Ja, doch, ein Klavier, jetzt sah er es deutlich.

Die Musik wechselte, das dahintreibende Winds of Change von Eric Burdon & The Animals beruhigte das aufgeheizte Publikum. Irgendetwas schien sich hinter dem Piano zu bewegen. Carl stieß Gonzo an, deutete mit dem Zeigefinger in die Richtung. Die rhythmischen Lichtblitze ließen jeweils nur für eine hundertstel Sekunde erahnen, was da hinten vor sich ging. Zwei ineinander liegende Beinpaare erzählten Bände.

Buddy schüttelte Zigaretten aus seiner Schachtel und bot sie gönnerhaft an.

„’ne echte Aktive“, sagte Gonzo anerkennend und beschnupperte genüsslich sein Geschenk.

„Habt ihr die Kohle?“, fragte Buddy, sah sich immer wieder nach allen Seiten um.

Gonzo kramte in seinen Taschen und drückte Buddy einen Haufen verknüllter Geldscheine in die Hand.

Buddy ließ das Papiergeld, ohne es eines Blickes zu würdigen, in die Tasche seiner Kampfjacke verschwinden. „Wie viel ist es?“

„Dreißig Mäuse“, sagte Gonzo mit todernster Mine. „War doch so abgesprochen, oder?“

„Bin in einer viertel Stunde zurück, ihr wartet besser hier.“ Buddy hatte es eilig und sah, dass Carl gerne mitgehen würde. „Ist noch was?“

„Nee. Ist schon gut, Buddy. Alles lässig.“ Carl verfolgte Buddy mit seinen Augen, sah wie er einige Treppenstufen erklomm und eine zweite Ebene betrat. Buddy drängte sich vorbei an dem langen Tresen aus dunklem Holz. Gut ein Dutzend Männer lehnten daran, beobachteten aus erhöhter Position das Geschehen wie Aufseher im Zoo. Um die 30 Jahre alt mochten sie im Schnitt sein, schätzte Carl, und verwegen sahen sie aus. Klar, Rocker! Das waren Rocker, keine Halbstarken. Sie waren angetrunken, soffen Bier aus Flaschen. Und das war auffallend, weil sonst niemand etwas trank. Kein Eintritt! Kein Umsatz! Was war hier los?

Udo interessierten die Details, kontrollierte die Tragfähigkeit der Bühnenkonstruktion, beäugte die Bretterbude, die darauf aufgebaut war. Er kam ins Gespräch, redete mit Leuten, die sich auskannten und erfuhr, dass dieser Kasten den Musikern als Backstage-Bereich diente, in dem sie sich nach den Auftritten zurückziehen konnten. Bei ausverkauften Konzerten kletterten hin und wieder Zuschauer oben drauf. Die Kabine hielt. „Solide Arbeit“, befand Udo und wandte sich wieder seinen Begleitern zu. „Hallo ihr Saubermänner, nun habt auch ihr Dreck am Stecken, wenn ich mich nicht irre. Ha, Ha, Ha! Wie fühlt sich das an? Na?“ Er kicherte in sich hinein. „Dreck am Stecken.“ Udo stupste Carl in die Seite. „Das Schönste am Hunger ist, dass er einen Appetit macht.“

Das war für Carl jetzt zu hoch. „Wie?“

„Nietzsche, das ist von Nietzsche“, klärte Udo seinen Freund auf.

Carl nickte zustimmend, so als sei er im Bilde.

Gonzo befummelte das Atomgegnerzeichen auf dem Ärmel von Carls Parka. „Hey, das ist stark. Alter, einfach irre.“

Sie setzten sich auf den Rand der Bühne, vertrieben sich die Zeit mit Zigarettenrauchen. Carl genoss das Slide-Gitarren-Intro von Johnny Winter, während das gemächliche Treiben der Club-Besucher wie ein Film im Zeitlupentempo vor seinen Augen ablief. Diese Platte von Johnny Winter, die musste er haben, unter allen Umständen. I love everybody. Total abgefahren.

Buddy kehrte vor Ablauf der Zeit zurück, hatte sein typisches Alles-paletti-Grinsen aufgesetzt, so wie er es immer machte, das Lächeln eines Siegers, und in diesem Fall schwang ein wenig die Vorfreude mit. „Alles klar Jungs, lasst uns von hier verschwinden“, sagte er und kniff Gonzo ein Auge zu.

„Rücksturz zur Erde“, warf Udo ein und gab Carl einen Klaps auf die Schulter.

„Whisky?“, fragte Gonzo.

Buddy nickte, führte seine Kumpel durch den Irrgarten in Richtung Ausgang. Neue Besucher pressten sich ihnen entgegen, ein nicht enden wollender Strom von jungen Menschen. In dem langen Gang war es viel zu eng, unweigerlich kam es zum Stau. Etwa fünf Meter von Carl entfernt begrüßte Buddy ein Mädchen, der übliche Small Talk.

„Hi, Buddy, wollt ihr etwa schon gehen?“, fragte sie.

„Hi, Elfi, ja leider. Müssen noch woanders hin“, gab er zurück.

Es wurde gedrückt und Buddy weiter Richtung Ausgang getragen. Und dann standen sie sich gegenüber, Kopf an Kopf. Carl spürte ihren warmen Atem, von dem eine gewisse Frische ausging. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Einen Atemzug lang sahen sie sich wie elektrisiert an, und das genügte, um ihn aus der Umlaufbahn zu schleudern. Er erhielt einen kleinen Schubs von hinten, das brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Haltsuchend klammerte er sich an sie, sein Gesicht vergrub sich in ihren blonden Haaren, seine Hände berührten zufällig ihren Busen, und ihr Kichern brachte ihn um den Verstand, beförderte ihn in den interstellaren Raum.

„Nicht so stürmisch, du kleiner Draufgänger!“, sagte sie.

„Tschuldigung“, meinte er, „war nicht extra. Fühlt sich aber echt klasse an.“

Elfi fühlte sich geschmeichelt, und dieser junge Mann schien ihr zu gefallen. „Hey, du! Ganz schön frech bist du.“

Sie wurden in verschiedene Richtungen weitergeschoben wie auf automatischen Rollbändern.

„Bist du öfters hier?“, rief Carl gegen den Lärm an.

„Was? Ich versteh nichts.“

„Kommst du morgen wieder hier hin?“, versuchte es Carl erneut.

Elfi zuckte mit den Schultern, deutete an, ihn nicht verstanden zu haben. Sie verloren sich aus den Augen, Carl blickte noch einmal zurück, da war sie bereits in der Menge untergetaucht, verdeckt von unzähligen Köpfen. Und am liebsten wäre er auf der Stelle umgedreht, hätte gerne mit ihr geredet oder sich für den nächsten Tag verabredet, an einem anderen Ort, nicht in diesem Drallkasten. Doch an diesem Abend gab es kein Zurück für ihn, das sah er ein.

Es tat gut, wieder Frischluft einzuatmen. Carl trat als Letzter auf den Gehsteig. Gonzo blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zwei Prostituierten hinterher.

„Wer war das, Buddy?“, wollte Carl wissen, hatte seine Frage bis jetzt aufschieben müssen.

Buddy deutete auf die beiden Frauen, denen Gonzo immer noch hinterher sah. „Was die? Darauf fährst du ab? Echt jetzt?“

„Jetzt tu nicht so blöd. Du weißt genau, wen ich meine. Wer sie ist, will ich wissen.“

Buddy schaute zu Gonzo und Udo, die ein Schnick-Schnack-Schnuck-Spiel angefangen hatten. „Betriebsgeheimnis“, sagte er kurz und bündig.

Carl nickte kühl, fühlte sich verschaukelt. „Verarsch mich nicht. Hör auf mit diesem Scheiß. Sag mir einfach, wer sie ist! Verstanden, Buddy!“

„Schlag sie dir aus dem Kopf, Charly!“

Carl stieß Udo an. „Ey, sag mal! Wer war das Teil?“

„Was denn für ’n Teil?“, sagte Udo beiläufig, ganz auf sein Spielchen mit Gonzo konzentriert.

„Sie ist nicht deine Kragenweite, Charly“, winkte Buddy verächtlich ab.

Gonzo und Udo eröffneten eine neue Spielrunde. „Schnick. Schnack. Schnuck“, sagten sie zeitgleich.

Carl stand kurz davor, den Geduldsfaden zu verlieren. „Buddy!“, fauchte er.

„Brunnen“, hörte Carl Udos zarte Stimme.

„Schon gut. Schon gut“, gab Buddy nach. „Sie heißt Elfi. Aber vergiss sie schnell wieder! Lass deine Finger davon!“

„Deckel“, sagte Gonzo und hielt Udo die flache Handfläche über die zu einem angedeuteten Brunnen geformte Hand.

Carl forderte Buddy mit wilden Handbewegungen auf. „Und? Weiter? Wie heißt sie mit vollem Namen?“

„Papier, du Dussel! Das heißt Papier, Gonzo“, sagte Udo belehrend.

„Mein Gott, Charly, du kannst einen vielleicht löchern. Das ist Elfi und damit basta. Wenn du dich absolut lächerlich machen willst, lauf ihr doch hinterher. Ja, los, geh schon!“

„Du kannst mich mal“, murmelte Carl in sich hinein und wollte sich abwenden. Doch dann: „Und weißt du was?“

„Nee“, gab Buddy prompt zurück.

„Bring sie beim nächsten Mal mit. Verstehst du? Du wirst sie einfach mitbringen!“

„Mann, Mann. Du hast vielleicht Nerven. Kannst du abhaken, Charly!“, sagte Buddy und schüttelte grinsend den Kopf. „Du alter Draufgänger.“

Carl spürte, dass Buddy weitaus mehr über Elfi wusste, als er preisgegeben hatte. Details würde er aus ihm heute nicht herausbekommen.

Während sie sich von der Straßenbahn zurück in ihren Vorort schaukeln ließen, brachte allein der Gedanke an das kleine Tütchen in Buddys Jackentasche ein Gefühl in Carl hervor, als seien sie Schwerverbrecher oder so was Ähnliches. Die Jungs wirkten angespannt, redeten während der ganzen Fahrt kein einziges Wort. Erst beim Verlassen der Bahn löste sich bei Carl die innere Verkrampfung, die mit jedem Schritt in der kühlen Nachtluft etwas mehr nachließ. Er dachte jetzt nur noch an das blonde Wesen aus dem Fantasio, das er hoffentlich bald wiedersehen würde.

Fantasio

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