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Ein bester Freund ist ein Geschenk des Himmels

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Regen, Regen, Regen. Monoton gurgelte das Wasser aus den Dachrinnen durch die Abfallrohre. Ohne Unterbrechung. Meine Güte, konnte denn niemand diesen gottverdammten Regen abstellen? So ein trüber Nachmittag war die reinste Qual, zumal Carl seine Platten in- und auswendig kannte. Er musste raus, auch wenn es draußen weiter wie aus Kübeln schüttete.

Was er dringend brauchte: einen Leidensgenossen zum Reden. Warum konnte er sie nicht aus ihren Löchern hervorlocken? Mit Rauchzeichen oder Buschtrommeln. Wer besaß schon ein Telefon? Udos Mutter, aber sonst …

„Hallo Scharrlie, Udo ist nicht zu Hause, der besucht seinen Opa“, erfuhr er an der Haustür seines Kumpels. Und dann fragte er sich, warum Udo das nicht bereits morgens in der Schule sagen konnte. Natürlich wollte Udo seinen Opa anzapfen, ganz klar. Carl musste schmunzeln. Warum nur hatte ihn Frau Meyer so seltsam angesehen? Und dies vertraute Charly … Alle Erwachsenen nannten ihn Carl, so wie es in seinem Ausweis stand.

Die arme Frau. Als Udos Vater vor zwei Jahren bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam, hatte sie einen Nervenzusammenbruch gekriegt, war völlig am Ende. Udo hat in dieser Zeit oft die Schule geschwänzt. Frau Meyer hatte ihr Leben wieder in den Griff bekommen, arbeitete seit kurzem halbe Tage in der Miederwarenabteilung bei Hertie, kümmerte sich um Udos jüngere Schwester Manuela und schmiss nebenher den ganzen Haushalt; bis auf den Garten des schicken Einfamilienhauses, dessen Pflege Udo übernehmen musste.

Allmächtiger, wie sie ihn angeglotzt hatte, und mit welcher Betonung sie seinen Namen ausgesprochen hatte? Scharrlie.

Er warf einen bewundernden Blick auf ihren Alfa Romeo, als sich der Himmel einen Spalt breit öffnete und die Sonne für die Festbeleuchtung sorgte. Roter Autolack, perlende Regentropfen und das tiefstehende Gegenlicht, eine perfekte Inszenierung, dem Zufall entsprungen.

Die feuchte Siedlungsbegrünung glitzerte samtig in der Sonne, in der Ferne ein alles überspannender gigantischer Regenbogen. Und wieder schlug das Wetter Kapriolen, Carl musste sich beeilen, neue Regenwolken verdunkelten den Himmel.

Bei Horst hatte er an diesem Tag mehr Glück. Frau Nadolny öffnete die Tür, und der Duft von gebratenen Kartoffeln erinnerte ihn daran, dass er seit dem frühen Morgen nichts wieder gegessen hatte.

Carl begrüßte Horsts Vater, mit dem er gerne über die alten Fußballzeiten und so Sachen quatschte. Oft genug hatte der alte Herr seine Fotoalben hervorgekramt und stolz die vergilbten Schwarz-Weiß-Fotografien aus der Zeit gezeigt, als er die Liga bei Westfalia gerockt hatte.

Während Udo, Gonzo und Carl auf so eine verfluchte Realschule gingen, besuchte Horst verdammt noch mal das Gymnasium. Bildungstechnisch trennten sie ganze Welten. Klamottentechnisch waren sie auf demselben Level, und was die anderen Dinge des Lebens betraf, sowieso.

In Horsts Zimmer bogen sich die Regale unter der Last von mehreren hundert Büchern. Carl zog wahllos eines heraus und drehte es in seiner Hand. A.S. Neill, Summerhill – Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung.

„Antiautorität. Wie das klingt.“, sagte Carl nachdenklich. „Ist so ’ne Art Modewort, oder? Antiautorität in der Ehe, in der Schule, in der Familie, auf der Arbeit, Antiautorität allerorten.

„Das Buch kannst du von mir aus mitnehmen“, meinte Horst. „Alle Welt redet darüber, jeder hat es, niemand hat es zu Ende gelesen.“

„Nein, danke“, sagte Carl und starrte in die türkisblaue Skalenbeleuchtung des Marantz-Receivers, um den er Horst beneidete. Das obligatorische Poster von Che Guevara fehlte in Horsts Zimmer ebenso wenig wie der kackende Frank Zappa, der vom Donnerbalken auf sie herabblickte.

Die Musik von Otis Redding passte sich der Weltuntergangsstimmung an. Der peitschende Regen, der mit unvermittelter Wucht gegen die Fensterscheiben prasselte, verstärkte das Meeresrauschen bei Sittin‘on the dock of the bay um ein Vielfaches. Man hätte glauben mögen, die wilde See brach sich direkt vor Horsts Haustür.

Erst sprachen sie über Drogen. Später über Mädchen.

Sie erinnerten sich an diese Fete im Jugendheim, bei der Carl sich bis auf die Knochen blamiert hatte. Es waren die allerbesten Voraussetzungen: heruntergeregelte Notbeleuchtung wie in einem U-Boot auf Schleichfahrt und ein langsames Stück von den Walker Brothers.

Carl tanzte mit Karin den Klammerblues. Erst ein kleines Vorspiel, Knutschen mit Zungenschlag und so, und dann glaubte er, den passenden Moment erwischt zu haben. Mit seinen Händen tastete er genau die Teile ihres Körpers ab, die letztendlich den gravierenden Unterschied zwischen Männlein und Weiblein ausmachen. Die Sache lief irgendwie aus dem Ruder. Wie einen Killerhai hatte sie ihn angeglotzt, ihn lauthals aufgefordert, seine dreckigen Finger bei sich zu behalten. Ihre Brüllerei war bis in den letzten Winkel des Saales zu hören. Und als Kalle am Plattenteller die Scheinwerfer auf die beiden Tänzer gerichtet hatte, rannte sie heulend zu ihren Freundinnen.

Er hatte den Durchblick nicht behalten. Nur weil die Röcke der Mädchen von Tag zu Tag kürzer wurden, war das lange keine Aufforderung, sich von jedem dahergelaufenen Deppen befummeln zu lassen. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Sie quatschten bis in den Abend hinein. Irgendwann hatte der Regengott ein Einsehen und legte eine Pause ein. Carl nutzte die Gelegenheit und machte sich wieder auf den Heimweg.

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