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Herzbeben vor dem ersten Rendezvous
ОглавлениеNoch einen kleinen Spritzer Abenteuer und Freiheit aus der Pitralon-Flasche, und er war startklar, bereit für sein erstes Rendezvous. Er stieg in die Straßenbahn, fühlte sich gar nicht gut. Das Blut pulsierte unter seiner Schädeldecke, als wäre er innerlich am verkochen. Kein Deodorant der Welt hätte die wasserfallartigen Schweißausbrüche unter den Achseln aufhalten können. Doch das lag eher am Ephedrin, nicht an der brütenden Hitze, die dieser Sommer ihnen bescherte.
Sie war ihm schon lange aufgefallen, die eindeutig schönste Braut von der Schule. Nicht ein Wort hatte er mit Gaby geredet. Verstohlene Blicke hatten sie auf dem Pausenhof ausgetauscht, und das wars auch schon.
Mit zunehmender Länge seiner Haare war sein Selbstbewusstsein gestiegen. Er spielte gleich mehrere Begrüßungsvarianten durch. Für einen Kuss war es viel zu früh, den Hippiegruß hielt er für unpassend und Händeschütteln lächerlich. Ganz ruhig, Charly!
Um 15.00 Uhr, am Marktbrunnen, hatten sie ausgemacht. Carl sah auf die Kirchturmuhr. Es waren drei Minuten drüber. Ein paar Dutzend Jugendliche belagerten den Brunnen. Von Gaby fehlte jede Spur. Sie hatte sich vermutlich einen Spaß daraus gemacht. Mädchen machten so etwas manchmal, Jungen als Spielball benutzen.
Ihre Verabredung war einer Alkohollaune entsprungen. Eine viertel Stunde wollte er warten, länger nicht. Carl setzte sich an den Brunnenrand und ließ den Kirchturm nicht mehr aus den Augen, und es schien, als bewegten sich die Zeiger der Uhr nicht weiter. Er sah einem Gitarristen auf die Finger. Der spielte einen Dylan-Song: Blowing in the wind. Echt gut, der Junge, der konnte was. Und dann war sie da.
„Hallo, da bin ich“, sagte Gaby. „Wartest du schon lange?“
Carl erhob sich und wollte etwas antworten, doch jetzt, wo es darauf ankam, fielen ihm die Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, nicht mehr ein. Sie war bildhübsch, ungefähr so, wie man sich einen blonden Engel vorstellt, trug einen kurzen Sommerrock und braune absatzlose Wildlederstiefel, dazu eine Pepitabluse. Er stammelte irgendetwas Unverständliches, und er musste sich konzentrieren, um wenigstens einen klaren Satz zu sprechen. „Nein, ich bin erst seit fünf Minuten da“, log er. „Was wollen wir machen?“
Gaby zwirbelte einige Haarspitzen zwischen ihren Fingern, sah verlegen zur Seite. Dann verschränkte sie ihre Arme hinter dem Rücken und wiegte sanft mit den Hüften. Sie bekam einen Lachanfall. Carl lachte mit, aus reiner Sympathie.
„Oh, Mist“, sagte sie. „Ist das eine blöde Situation. Lass uns bitte normal reden. Tut mir leid, Charly, ich mache das hier zum ersten Mal.“
Es tat ihm gut, was sie da sagte.
„Da geht es mir ganz genauso wie dir, wollen wir was trinken gehen?“, schlug er vor, und langsam fing er Feuer.
Gaby nickte eifrig. „Gute Idee, und wohin?“
Birds Club, Oma Plüsch, Pille, Fantasio? Gaby kannte die Läden nicht, betrat Neuland. Er würde ihr zeigen, wo er sich gerne herumtrieb, nur behutsam aufbauen musste er es.
Tauben flogen auf, bereiteten den frisch Verliebten ein Spalier aus Flügelschlägen. Vor dem Schaufenster eines Bekleidungsgeschäftes verweilten sie. Carl zeichnete mit den Händen die Rundungen eines Frauenkörpers. Es war purer Übermut, den sie mit einem entrüsteten Klaps auf seinen Arm bestrafte. Sie lachten, wechselten auf die andere Straßenseite und warfen einem Straßenmusiker einen Groschen in den Hut. Dann enterten sie den Birds Club.
In einer abgelegenen Nische erspähten sie einen freien Tisch. Nachmittags war kaum was los. Das meiste spielte sich mittags nach Schulschluss oder abends ab. Carl bestellte für sich ein Bier und für Gaby eine Fanta.
Die Klänge von Jimi Hendrix‘ Third Stone from the Sun vermischten sich mit dem Gemurmel der Gäste. Das wechselnde Licht der Spots machte den dichten Tabakqualm und Millionen von Staubpartikeln sichtbar. Die langbeinige Bedienung im schwarzen Minirock stellte die Getränke auf den Tisch.
Gaby hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die neue Frisur stand ihr ausgesprochen gut. In der Schule trug sie ihr Haar offen, und Carl fragte sich, ob sie extra für ihn ihren Typ verändert hatte? Ihre enge Bluse war weit aufgeknöpft. Nur ganz schwer konnte er seinen Blick von den weißen festen Wölbungen ihres Busens abwenden.
„Kommst du öfters hierher“, fragte Gaby und nippte grinsend an ihrer Fanta.
Er fühlte sich ertappt. „Nein, nein, nicht oft, wir kommen gelegentlich nach der Schule hierher.“
Es war nichts anderes als ein erstes, vorsichtiges Abtasten, und es dauerte eine ganze Weile, bis ihre Gespräche an Fahrt gewannen. Gaby wirkte erfrischend natürlich, und Carls anfängliche Hemmungen lösten sich wie ein abspringender Bundknopf an einer viel zu engen Jeans.
„Bist du schon mal mit einem Mädchen gegangen?“, fragte sie ihn aus heiterem Himmel.
War er natürlich nicht, es sei denn, Händchenhalten zählte dazu. „Nein“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Du?“, fragte er zurück. „Ich meine jetzt, mit einem Jungen ...“
Gaby lächelte und schüttelte ihren Kopf. „Nein“, sagte sie und wechselte flink das Thema. „Hast schöne schwarze Haare, und deine Haut ist so schön braun“, stellte sie fest.
Carl sah auf seine Unterarme und zuckte mit den Schultern. „Meinst Du?“
Dann redeten sie über die Schule, über die Hitparade und über das Kinoprogramm, und zum Schluss verurteilten sie die Sinnlosigkeit des Vietnam-Krieges, und am Ende stellten sie eine Menge Gemeinsamkeiten fest. Ihre Interessen und Ansichten deckten sich in vielen Punkten. Sie sendeten auf einer Wellenlänge und strahlten sich an, wie es frisch verliebte Paare in einer Hollywoodschaukel tun. Und hier hatte er eine Gelegenheit verpasst. Anstatt ihre Hand zu ergreifen, die sie ausgestreckt auf den Tisch liegen hatte, steckte er sich lieber eine neue Zigarette an. Gaby rauchte nicht, hatte nichts dagegen, dass er es tat. Er fühlte sich pudelwohl in ihrer Gesellschaft, und als er ihr das sagte, wurde sie rot im Gesicht.
Sie hatten längst ausgetrunken, fanden kein Ende, redeten immer noch, als die Bedienung an den Tisch trat, weil sie kassieren wollte.
Ohne ein besonderes Ziel vor Augen bummelten sie durch die Einkaufszone ihrer Stadt. Zuerst über den Ostenhellweg zurück, vorbei an der Reinoldi-Kirche, über den Westenhellweg und wieder zurück zum Marktbrunnen.
Der würzig säuerliche Geruch, der beim Prozess des Bierbrauens entsteht, lag über den Dächern und zog bis in die entlegensten Winkel der Straßen. Man konnte sich ihm nicht entziehen und wurde auf Schritt und Tritt daran erinnert, dass man in der Hauptstadt des Bieres lebte. Die Brauer ließen die Maische ab, hieß es, was immer das bedeutete.
Zwei junge Menschen schritten friedlich nebeneinander her. Die Gerüche nahmen sie nicht wahr. Viel zu spannend war das, was gerade passierte und was noch vor ihnen lag. Und schließlich war der entscheidende Augenblick gekommen, das spürte Carl ganz deutlich. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen, tastete vorsichtig nach ihrer Hand, die sie nicht zurückzog. Dann umklammerte er ihr Handgelenk, wie einen Besitz, den er nicht mehr hergeben wollte.
„Das war ein schöner Nachmittag, Charly“, hörte er sie sagen.
„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte er flehend, und zum ersten Mal in seinem Leben spürte er diesen grausamen Trennungsschmerz in sich aufsteigen wie das Quecksilber in einem Fieberthermometer. Er war verliebt. Ganz eindeutig.
Sie blieben stehen. Carl beugte sich vor und suchte umständlich ihre Lippen. Er sah ihre geschlossenen Augen und küsste ihren roten Mund. Dann sah er nichts mehr. Gaby ließ es geschehen, und er wunderte sich, mit welcher Leichtigkeit sich sein Vorhaben umsetzen ließ. Einer seiner sehnlichsten Wünsche war endlich in Erfüllung gegangen. Zuerst küssten sie sich nur so, bis Gaby ihren Mund öffnete und ihre Zunge in seinen Mund schob. Welch eine herrlich lange Zunge. Sie saugten sich aneinander fest wie Blutegel. Es schmeckte nach Erdbeeren mit Vanillesoße, nach heißen Kirschen mit Schlagsahne, ach was, nach Mandelhaselnusstrüffel mit Schokoladenüberzug, kurz, es war der schönste Geschmack von der ganzen Welt.
Sie vergaßen alles um sich herum. Zählten nicht mehr die vielen Straßenbahnen, die anhielten und wieder weiter fuhren. Sie standen eng umschlungen an dieser Haltestelle, und irgendwann begrüßte sie der hereingebrochene Abend mit einer lauwarmen Brise. Das Haarband hatte Gaby längst entfernt, weil es überall zwicke und zwacke. Der Wind wehte eine Haarsträhne zwischen ihre Lippen, so als wollte er die Liebenden voneinander trennen.
Carl, irgendwie ganz weit weg, sah Gabys verklärten Blick.
„Oh verdammt, ich mag am liebsten gar nicht fahren, die nächste Bahn muss ich unbedingt nehmen, sonst gibts den größten Ärger zu Hause“, sagte sie.
Er entließ sie nicht ohne einen Abschiedskuss. Sie löste sich aus seiner Umklammerung und lief der Straßenbahn entgegen. Während sie einstieg, drehte sie sich um und winkte.
„Wann sehen wir uns wieder?“, rief er noch, denn am nächsten Tag fingen die Sommerferien an. Sie zuckte mit den Schultern, wusste es nicht. Bis bald, mein süßes Mädchen, dachte er und hoffte, dass es nur für Stunden war.
Die Bahn längst abgefahren, doch das Bild von Gaby wollte sich nicht auflösen, hatte sich in seinem Gedächtnis verankert, fest und nicht verrückbar. Der Rempler eines Passanten holte ihn in die Wirklichkeit zurück.
„Tschuldigung, Junge, hab dich nicht gesehen.“
„Schon gut“, gab Carl geistesabwesend zurück und träumte weiter.