Читать книгу Fantasio - Marion Stoll - Страница 12
Sie waren nicht auf Woodstock
ОглавлениеCarl durchwühlte seine Parka-Taschen. Das Röhrchen mit den Aufputschpillen war an der Garderobe nicht gut aufgehoben. Er ließ es in die Gesäßtasche seiner Jeans verschwinden, reine Vorsichtsmaßnahme. Gaby ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, auch nicht als er in den Garderobenspiegel blickte und sich die Haarsträhnen mit Spucke hinter die Ohren klebte, um die tatsächliche Länge seiner Haare zu kaschieren.
„Bist du das, Carl?“, hörte er seine Mutter rufen.
Durch den Glasausschnitt der Wohnzimmertür flimmerte Licht, mal hell, mal dunkel. Carl drückte die Tür auf. Gespenstisch beleuchtete das Bild des Fernsehers die Gesichter seiner Eltern.
Er hörte die Stimme des Nachrichtensprechers.
„... läuft in Woodstock das größte Pop-Festival aller Zeiten. Drei Tage dauert das Konzert unter freiem Himmel.“
Carl war nicht politisch interessiert, stand mehr auf San Francisco und Flower-Power, deshalb sah er sich die Abendnachrichten nie an. Sein Mund stand offen wie ein aufgeklappter Reisekoffer, und in seinen strahlenden Augen spiegelten sich die Bilder aus dem Fernseher wie in einem Kaleidoskop des Wahnsinns.
„Bisher wurden insgesamt 500.000 Besucher gezählt. Höhepunkt ist der Auftritt von Jimi Hendrix am letzten Tag dieses denkwürdigen Spektakels.“
Carls Vater sah abwechselnd auf den Bildschirm und zu Carl.
„Wie oft hab ich dir gesagt, du sollst zum Friseur gehen?“
Gebannt starrte Carl auf den Fernsehapparat. Jetzt wurde ein Polizeioffizier interviewt. Da Englisch gesprochen wurde, wurden Untertitel in Deutsch eingeblendet.
Wort für Wort las er den Text und bewegte leise die Lippen. „Ich habe noch nie so viele Menschen gesehen, die sich auf so engem Raum so friedlich verhalten. Die Jugendlichen kampieren in Autos, Zelten und Schlafsäcken und rauchen so viel Marihuana, dass man schon vom Einatmen der Luft benebelt wird“, erklärte der Offizier.
Carl griente.
„Hast du gehört?“, sagte Carls Vater und hob seine Stimme.
„Ja, ja“, antwortete Carl, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
„Ja, ja, heißt: Leck mich am Arsch.“
Berauscht von den Bildern des Musik-Festivals, wendete sich Carl ab. Es folgten weltpolitische Themen.
„Ich hab dir einen Teller mit Broten gemacht, Carl“, sagte seine Mutter.
Carl drehte sich um, betrachtete nachdenklich den Gummibaum im Korridor. „Ja, Mama, danke“, antwortete er, holte den Brotteller aus der Küche und verzog sich auf sein Zimmer.
Er lag im Bett und starrte auf die Wellenlinien der Tapete, konnte nicht einschlafen, war viel zu aufgekratzt. Sie waren nicht auf Woodstock. Ein musikalisches Großereignis fand ohne ihre Beteiligung statt. Sie hatten es schlichtweg verpennt. Warum hatten die Verantwortlichen nicht wenigstens solange damit warten können, bis sie auf eigenen Füßen standen? Bis Amerika im Bereich des Möglichen für sie lag? Abgehakt. Nach vorne blicken.
Gaby wollte mit ihm gehen, natürlich wollte sie das, da war er sich sicher. Er war verknallt. Verknallt in eine Traumfrau, und allein diese Vorstellung ließ ihm einen eiskalten Schauer des Glücksgefühls den Rücken herunterlaufen.
Er wuchtete das Oberbett beiseite. Ihm wurde es zu warm, musste seine Gedanken neu sortieren, runterfahren. Zwischen ihnen hatte es mächtig gefunkt. Wie in einer Endlosschleife spulte sein Gedächtnis ein und dieselbe Sequenz ab. Immer wieder sah er Gabys sehnsüchtigen und traurigen Blick, als die Zeit des Abschieds gekommen war.
Er gähnte und deckte sich wieder zu, und irgendwann schlief er doch noch ein.