Читать книгу Fantasio - Marion Stoll - Страница 15

Die letzten unbeschwerten Tage

Оглавление

Gaby hatte er seit der ersten Verabredung nicht wieder gesehen. Er wusste nicht wo sie wohnte, hatte keine Telefonnummer. Das zerfledderte Buch in der Telefonzelle half nicht weiter, den Namen Richter gab es ungefähr hundertmal darin. Er würde sie frühestens in der Schule wiedersehen, damit hatte er sich abgefunden.

Er hatte ein tolles Mädchen kennengelernt. Sie hatte ihm den Kopf verdreht, kein Tag, an dem er nicht an sie dachte. Nach den Ferien würde er wissen, wie es mit Gaby weiterging. Er wollte mit ihr gehen, zählte sehnsüchtig die Tage bis zum Unterrichtsbeginn und hoffte, dass sie nicht Nein sagen würde.

Die Sommerferien verbrachte Carl von morgens bis abends mit seinen Freunden. An Tagen, an denen seine Eltern in aller Frühe die Wohnung verließen, um ihrer Beschäftigung nachzugehen, sein alter Herr am Stahlkocher und seine Mutter in der Bäckerei, in der sie vormittags Brötchen und Kuchen verkaufte, organisierte er manchmal ein gemeinsames Frühstück für seine Kumpel. Oder sie fuhren mit dem Rad zum Freibad in den Hoesch-Park, aalten sich in der Sonne, setzten ihre verspiegelten Sonnenbrillen auf und ergötzten sich an Bikinischönheiten, während Gonzos Kofferradio um klaren Empfang mit Radio Luxemburg kämpfte. Whisky konnte gar nicht genug Sonne abkriegen, hörte nicht auf ihren Rat und verzichtete auf Nivea, und nach zwei Tagen sah sein Gesicht aus wie die Schale einer verkochten Pellkartoffel.

Abends erholten sie sich von den Strapazen des Tages, steuerten die üblichen Punkte an: das Fantasio, den Birds Club oder das Sacre Coeur, wo sie den besten Jasmin-Tee weit und breit machten.

Ihr letztes Ziel an diesem Tag: das Jugendheim. Es gab kostenlose Livemusik. Die Band Epitaph war zum Publikumsmagneten geworden. Im proppenvollen Saal hatten sich die Musiker bereits warmgespielt. Und das hörte sich nach richtig guter Mucke an.

Carl war durstig, hatte seit Stunden keinen Tropfen Flüssigkeit zu sich genommen, und vor allem wollte er ungestört nachdenken. Der Getränkeautomat stand im Vorraum auf dem Weg zu den Toiletten. Große Auswahlmöglichkeiten hatte er nicht – Bluna oder Afri-Cola. Bier – Fehlanzeige, alkoholische Getränke waren nicht erlaubt. Er steckte ein Fünfzigpfennigstück in den Schlitz, öffnete das Fach, und nahm eine Afri-Cola heraus. Bluna – nur im Notfall. Eine eiskalte Afri-Cola zusammen mit einer Zigarette genossen, ähnelte der Wirkung eines sparsam gefertigten Joints. Und es musste ausnahmslos Afri-Cola sein, mit Coca Cola funktionierte das Ganze nicht, was vermutlich am geringeren Koffeingehalt lag.

Er lehnte sich an die Wand und trank. Ein Bein angewinkelt, den Fuß abgestützt, sah die Bilder aus der Werbung: Nonnen, Mannequins und Hippiemädchen hinter einem Fenster aus dahinschmelzenden Eisblumen, das erfrischende Getränk allgegenwärtig. Sexy-mini-super-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola.

Carl genoss diesen Augenblick ganz für sich allein. Von der braunen Flüssigkeit, die er gierig in sich hineinstürzte, schien nur Luft in seinem Bauch anzukommen, sein Leib spannte sich wie ein aufgeblähtes Segel.

Die Musik aus dem Saal war auch hier deutlich genug zu hören. Bei jedem Öffnen der Tür wurde es für Sekunden ohrenbetäubend laut, um anschließend wieder in Normallautstärke überzugehen. Er hatte die Band oft spielen sehen, sie probten im Keller des Fantasio. Der Lead-Gitarrist, den Carl wegen seiner langen Matte bewunderte, legte sich mächtig ins Zeug. Vor allem die Mädchen himmelten diesen Jungen schmachtend an.

Ohne Zweifel hatten Gitarristen mit Abstand die größten Chancen bei den weiblichen Anhängern, gefolgt von den Sängern. Er musste schmunzeln und schüttelte seinen Kopf, hatte er sich doch tatsächlich wieder beim Luftgitarre spielen erwischt.

Heute war ihm nicht nach Hasch, lauter Musik und abrocken. Gonzo lief ihm auf dem Flur über den Weg.

„Hör mal, Alter, ich mach ’nen Abflug, wir sehen uns morgen früh in der Schule“, informierte Carl seinen Freund.

„Alles klar, Alter, und wichs nicht so viel“, sagte Gonzo und verschwand in Richtung Klo.

Die Band spielte gerade Junior‘s Wailing von Steamhammer. Sie spielten das Stück gut, verdammt gut, so gut, dass Carl ins Wanken geriet, seinen Entschluss zum Aufbruch kurz überdachte, dann jedoch zielstrebig durch die Tür des Jugendheimes schritt und erleichtert die kühle Abendluft einsog. Auf dem Heimweg dachte er an Gaby – und auch an Elfi, die ihm immer noch im Kopf herumspukte.

Fantasio

Подняться наверх