Читать книгу Fantasio - Marion Stoll - Страница 16
Unschuldig und verführerisch
ОглавлениеGaby hatte ihn vor dem Schulgelände abgefangen. Er hatte es insgeheim gehofft und jetzt, wo er sie endlich wieder sah, beschleunigte sein Puls, bebte sein Herz vor lauter Aufregung.
Gonzo entließ Carl mit einem Schulterklaps. „Na los, Charly! Hübsche Mädchen soll man nicht warten lassen, sonst sind sie weg.“
Schnurstracks steuerte Carl auf sie zu, und ehe er etwas sagen konnte, legte sie auch schon los.
„Guten Morgen, Charly. Sage bitte nichts. Ich weiß es ja selber. Echt doof gelaufen. Ich mochte es dir nicht mehr sagen. Gleich am nächsten Tag nach unserem Treffen bin ich mit meinen Eltern an die Ostsee gefahren. Es tut mir so leid. Bist du mir jetzt böse?“ Ihre Gesten wirkten flehend, das Augenspiel unwiderstehlich.
Und weil Carl so sprachlos da stand, gab sie ihm einen dicken Kuss auf die Lippen, was er sehr mutig fand, hier, so direkt vor der Penne und vor den Augen der ganzen Welt.
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“, fragte er, und wollte nicht vorwurfsvoll klingen. „Du hättest mir wenigstens schreiben können.“
„Wohin denn?“, fragte sie und ihr Blick nahm einen traurigen Ausdruck an, als sie versuchte, eine Erklärung zu finden.
Carl verfluchte sich. Er hatte sie verunsichert. „Ich hab dich vermisst“, sagte er rasch.
Oh!
Gaby geriet ins Stottern. „I… ich konnte doch nicht ahnen, dass es dir so ernst ist.“
Er wusste nicht wo er dran war und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Komm, lass uns reingehen, es ist schon spät!“
Sie sah unschuldig aus, aber auch verführerisch, in ihrem kurzen cognacfarbenen Wildlederrock. Sie trug wieder ihre dunkelbraunen absatzlosen Wildlederstiefel, die oberhalb ihrer Waden abschlossen. Ihre langen, offen getragenen hellblonden Haare fielen abgestuft wie eine Löwenmähne auf die Schultern. An so was dachte Carl, während sie ihre Schultaschen vom Boden aufnahmen und Hand in Hand zu ihren Klassenräumen bummelten. Dann wurden sie erneut getrennt.
In der großen Pause fragte sie ihn, ob er sie am Nachmittag zu Hause besuchen könne. Carl äußerte Bedenken, fand es viel zu früh. Sie kannten sich ja kaum. Und was ihre Eltern sagen würden? Sie meinte nur, die seien locker drauf, darum brauchte er sich keine Sorgen zu machen. Also sagte er, dann wäre ja alles geklärt und dass er so gegen 16.00 Uhr da sein werde.
An diesem Nachmittag war er ganz relaxt. Horst hatte ihm eine von seinen Beruhigungspillchen vermacht, die seine Mutter benutzte, und die sie im Badezimmerschrank herumliegen ließ und vermutlich niemals nachzählte. Die Neun hatte Verspätung. Zum Glück kam die Anschlussbahn, die ihn in den südlichen Vorort der Stadt brachte, direkt hinterher. Er fuhr mitten durch eine Neubausiedlung, die reinste Satellitenstadt, alles Hochhäuser im modernen Baustil. Vornehme Gegend. Die Häuser trugen pastellfarbene Fassadenanstriche, hier ein helles Gelb oder Blau und auf der gegenüberliegenden Seite ein zartes Rot. Alles wirkte im Vergleich zu den grauen Siedlungshäusern der Stahlarbeiter und Bergleute viel frischer, dennoch hätte er nicht tauschen wollen.
Gaby hatte ihm genau den Weg beschrieben. Hausnummer 77. Er sah die sechs Etagen hinauf und bekam weiche Knie, als wären sie aus Gummi oder so. Pausenlos machte er sich so verflucht viele Gedanken. Alles unter Kontrolle? Ja, alles lässig.
Gaby begrüßte ihn an der Wohnungstür mit einem flüchtigen Kuss. „Bitte folgen!“, sagte sie und winkte ihn geheimnisvoll herein.
„Willst du uns deinen Besuch nicht vorstellen?“ Die Stimme kam aus dem Wohnzimmer, Gabys Mutter.
„Ach, Mama, wenns unbedingt sein muss.“
Gaby schob ihren Besuch durch die Wohnzimmertür und Carl hob zum Gruß seine rechte Hand, reiner Reflex, kein Peace-Zeichen, einfach nur so. „Hallo, ich bin Charly, Gaby und ich gehen auf dieselbe Schule.“ Er sagte das wie auswendig gelernt.
Frau Richter, eine adrette Frau Ende Dreißig, ließ Futter in ein Aquarium rieseln. Sie setzte das strahlendste Lächeln auf, das Carl jemals gesehen hatte, und Papa Richter, er war gut und gerne Mitte Vierzig, sagte nur: „Aha.“ Dann taxierte er den Jungen über seine Lesebrille hinweg mit einem Blick, als ginge es um die Begutachtung eines neuen Deckhengstes für sein Renngestüt. Seine Pupillen wanderten auf und ab, als wäre er dem Wahnsinn nahe. Für eine kleine Ewigkeit herrschte eine beängstigende Stille.
„Hallo, Charly. Wollt ihr zusammen lernen?“, fragte Frau Richter.
Carl, dankbar für die Vorlage, nickte. „Ja, wollen wir.“
„Charly will später Musik studieren“, warf Gaby ein.
Die Richters sahen sich vielsagend an. Im Aquarium stiegen Luftblasen sprudelnd an die Oberfläche, und auf Carls Stirn bildeten sich Schweißperlen. Davon hatte er noch gar nichts gewusst.
„So, nun komm schon endlich, Charly.“ Gaby war sichtlich ungehalten. Während sie an seinem Arm zog, wendete sie sich ihren Eltern zu. „Seid ihr nun endlich beruhigt?“
„Ja, also ... dann ...“, sagte Carl und hob zum Gruß nochmals kurz die Hand.
Vor Gabys Zimmertür verharrten sie, weil sie Stimmen aus dem Wohnzimmer hörten.
„... schleppt die uns einen von diesen Gammlern an. Der kommt mir nicht mehr ins Haus, damit wir uns klar verstehen.“
„Aber Eberhard, das ist doch ein netter Junge.“
Sein Tonfall hatte cholerische Anklänge und von Lockerheit war bei dem Kerl keine Spur vorhanden, fand Carl. Gaby schüttelte verständnislos den Kopf.
Aus dem Türspalt des Nebenzimmers lugte das Gesicht eines Mädchens hervor. Sie sah aus wie eine perfekte Dublette von Gaby, war allerdings einen halben Kopf kleiner. „Oh, dein Freund?“, stellte Gabys Schwester fest und lächelte Carl an.
„Verzieh dich, Melanie!“, erwiderte Gaby und verdrehte die Augen.
Melanie streckte Gaby die Zunge raus und ließ beleidigt ihre Tür ins Schloss fallen.
Gaby schloss von innen lautlos ab und lehnte sich mit dem Rücken an das Türblatt. Mit aufgeblähten Backen stieß sie die angestaute Luft heraus wie aus einem undichten Luftballon.
Carl fühlte sich nicht wohl, spielte mit dem Gedanken, die Kurve zu kratzen.
„Der meint das nicht so“, sagte sie und wirkte nicht überzeugt. Sie öffnete den Deckel ihres Plattenspielers und setzte den Tonarm auf die rotierende Donovan-Platte. Sanft in den Hüften wiegend, bewegte sie sich auf Carl zu, fasste seine Hände und sah ihn verschmitzt an. Dann zog sie ihn auf das zu einer Couch umgebaute Jugendbett herunter. „Komm, setz dich hin!“
Carl war beeindruckt. Gabys Zimmer war modern eingerichtet, ohne Zweifel. Die psychedelisch hypnotisierenden Tapeten waren der allerneuste Schrei. Überdimensionale konzentrische Kreise in den Farben Gelb, Grün und den verschiedensten Brauntönen dominierten. Die weiß lackierten Möbel wurden förmlich in das Muster hineingezogen. Seine Blicke verfingen sich unweigerlich in der Zimmerlampe, die von der Decke baumelte wie ein kleines Kunstwerk, das aus unzähligen bunten Muschelscheiben bestand, die in symmetrischen Formationen an Fäden herabhingen und im Licht der Glühbirne transparent leuchteten. Auf der Zimmertür klebte ein Bravo-Starschnitt – Winnetou in Lebensgröße. Gaby sah seinen amüsierten Gesichtsausdruck und winkte sofort ab. „Eine meiner Jugendsünden, da stand ich mal voll drauf.“
„Wollten wir nicht zusammen lernen?“, fragte Carl.
„Was denn?“, sagte sie und grinste schelmisch.
Sie zogen ihre Schuhe aus und legten sich nebeneinander auf das Bett. Es war viel zu warm. Die Sonne schickte ihre Strahlen mit der Kraft eines voll aufgedrehten Heizradiators durch das Fenster. Carl zog seinen schwarzen Rollkragenpullover aus. Es dauerte nicht lange und sie fielen übereinander her. Sie küssten sich, als wären sie ausgehungert, und Gaby ließ seinen Händen freien Lauf, als sie unter ihrem Pullover verschwanden und zaghaft mit ihren festen Brüsten spielten.
Die Musik dagegen spielte längst nicht mehr. Der Tonarm des Plattenspielers lief in der Auslaufrille der Schallplatte, als sie seinen Ständer entdeckte. „Du, Charly, ich kann das nicht. Ich bin noch nicht soweit. Gib mir ein bisschen Zeit, ja?“
„Klaro, für mich ist das okay“, meinte er. „Du musst jetzt nicht denken, ich bin nur deswegen hier“, hob er hervor und zeigt auf seinen ausgebeulten Hosenschritt.
Sie schmunzelte. „Hast du schon mit einem Mädchen geschlafen?“
So auf die Schnelle wusste er nicht, was er antworten sollte, wollte keinen schlechten Eindruck machen, aber auch nicht lügen. „Nein“, sagte er, und er hatte das Gefühl, er hätte sie betrogen. Doch bei großzügiger Auslegung hatte seine Entjungferung durch Frau Meyer vor ihrer Zeit stattgefunden, und das zählte nicht.
„Nimmst du die Pille?“, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf, fing an zu lachen und schlug sich die Hände vor das Gesicht. „Nein. Ja. Also … Warum willst du dass überhaupt wissen?“
Die Pille ermöglichte es erst, dass Jugendliche ihre Hippie-träume von der freien Liebe zwanglos ausleben konnten. Für alle Jungs die praktischste Art von Verhütung und die Frage, ob ein Mädchen die Pille nahm, von zentraler Bedeutung.
„Nur so“, antwortete er
„Ja, ich nehme sie. Meine Mutter will es.“
Carls Gesicht bekam schlagartig eine andere Farbe.
„Habt ihr fleißig geübt?“, erkundigte sich Frau Richter beim Abschied, und Carls Gesicht verfärbte sich erneut. Schlechtes Gewissen? Er hatte doch gar nichts gemacht. Bis jetzt jedenfalls.
Gaby begleitete ihn bis zur Straßenbahnhaltestelle.
„Denkt deine Mutter jetzt, wir hätten es getan?“, erkundigte sich Carl unsicher.
„Was?“, fragte sie.
„Das weißt du genau?“
„Ach so, das meinst du“, sagte sie. „Und wenn?“
„Da entsteht schnell ein falscher Eindruck“, stellte Carl besorgt fest.
„Du hast vielleicht Sorgen, Charly.“ Dann fiel ihr etwas ein. „Ich kann dich ja auch mal besuchen.“
Carl hatte das Gefühl, seine Speiseröhre wurde von einem hartgekochten Hühnerei blockiert. Er schluckte wie ein Fischreiher und krächzte: „Ja, ja, gute Idee.“
Carl stieg in den letzten Waggon, stellte sich ans Fenster und konnte Gaby eine ganze Weile beobachten. Er sah sie die Straße überqueren, sah, wie sie vor dem Schaufenster eines Fahrradgeschäftes verweilte. Ruckartig setzte sich die Bahn in Bewegung. Gaby wurde immer undeutlicher und winziger, bis er sie um die nächste Häuserecke entschwinden sah. Erst jetzt suchte er sich einen ruhigen Sitzplatz zum Träumen.