Читать книгу Fantasio - Marion Stoll - Страница 17
So sieht man sich wieder
ОглавлениеDie braune Straßenbahn schaukelte und legte sich in die Kurven wie ein Rennauto auf dem Nürburgring. Carl musste aufpassen, nicht vom Sitz zu fliegen. Keine Zeit für Träumereien.
Es war immer noch hell, und es zeichnete sich einer von diesen glutroten Sonnenuntergängen ab. Urlaubserinnerungen wurden in ihm wach. Im letzten Jahr war er mit der Jugendfreizeit an den Plattensee gefahren. Ungarn hatte ihn fasziniert. Wie kontaktfreudig, locker und hilfsbereit die Menschen waren …
Das grelle Sonnenlicht knallte gnadenlos gegen die Fensterscheiben der Bahn. Stickig heiß wurde es während der Fahrt, und Carl war heilfroh, endlich aussteigen zu können. Die Hauptstraße war um diese Uhrzeit stark befahren, in einer nicht enden wollenden Kolonne hämmerten die Fahrzeuge über das alte Kopfsteinpflaster. Zwischen den fahrenden Autos hindurch konnte er junge Leute auf den Treppenstufen vor der Kirche sitzen sehen. Seine Leute. Bis auf Whisky waren sie alle da, auch Winni. Carl mochte den introvertierten und vier Jahre älteren Außenseiter nicht. Doch das sollte sich im Laufe der Zeit ändern.
Er erwischte eine Lücke und überquerte sportlich elegant die Straße. Zum Gruß zeigte er schwenkend den gespreizten Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand. „Peace, Brothers ...“, und hier brach Carl ab. Sah er eine Fata Morgana, oder was war da wie aus dem Nichts entstanden? Stockend vervollständigte er die Grußformel: „... and Sister.”
Und dann setzte irgendetwas in ihm aus. Natürlich hatte er sie sofort wiedererkannt. Er hörte nicht mehr, was um ihn herum geredet wurde. Gegen das Licht der untergehenden Abendsonne wirkte sie wie eine Traumgestalt, ein wahrhaft überirdisches Wesen. Der laue Abendwind spielte sanft mit ihrem langen blonden Haar, das durch einen Mittelscheitel geteilt, zu beiden Seiten schlangenlinienförmig auf ihre Schultern herabfiel, die Frisur einer Filmschauspielerin. Sie trug Wildlederboots mit Fransen, eine knallenge schwarze Lederhose und ein weit ausgeschnittenes grünes Batikhemd mit Glockenärmeln. Sie war gut ein halben Kopf kleiner als der Rest der Welt und beileibe keine Vision, eher die perfekte Inkarnation.
Er betrachtete ihre üppigen Rundungen um Hüften und Po. Nicht zu dick. Kein Speck. Einfach wohlgeformt. Sie entsprach voll und ganz seinem Idealbild von einer Frau. Oh, Supergirl, hey, hey.
In seinen Gehirnwindungen begann es zu arbeiten wie in einem Bienenstock. Buddy hatte sein Versprechen eingelöst. Dieser verdammte Angeber hatte sie tatsächlich mitgebracht. Jetzt, wo er sie fast vergessen hatte. Verdorri, konnte er jetzt endlich aufhören, innerlich zu fluchen? Das musste er sich dringend abgewöhnen.
„So sieht man sich wieder“, sagte das wundersame Wesen, und er stand wie angewurzelt, sein Sprachzentrum blockiert.
„Ist irgendetwas nicht in Ordnung mit dir?“, hörte er erneut ihre weiche Stimme und spürte den sanften Druck ihrer Hand auf seinem Oberarm. Mit angelegtem Kopf schaute sie ihn seitlich von unten an wie einen Komapatienten oder so.
Was für schöne Augen – grün wie Smaragde, und dennoch von einer solchen Klarheit, als könne er durch sie hindurch in einen Lichtjahre entfernten Kosmos gelangen. Er konnte seinen Blick nicht abwenden. Er hätte noch stundenlang in diese Augen schauen können, nur musste er etwas sagen, und am besten postwendend. Er spürte ihre hypnotische Kraft, die seine Blockade löste. „Nein, nein, alles okay mit mir“, sagte er. Mehr fiel ihm nicht ein.
Erst jetzt blickte er die Mannschaft an. „Alles geschmeidig? Steht irgendwas Besonderes an?“, fragte er in die Runde und wollte sich wieder Elfi widmen.
„Sag mal, lebst du jetzt hinterm Mond oder was? Wir gehen gleich alle zu Whisky, der hat doch heute Geburtstag“, klärte ihn Buddy auf. „Mensch, Mensch, Charly ... Auf gehts, Leute! Lass knacken!“
Buddy schüttelte mitleidig sein Haupt, wobei er seinen Blick in die untergehende Sonne richtete, die sich gerade mit einem reflektierenden Gelb-Orange-Ton von ihnen verabschieden wollte.
Die Dächer am Horizont schienen sich auflösen zu wollen und wurden für einen kurzen Moment in Blut getaucht. Das Licht veränderte sich unaufhaltsam; Häuser, Bäume und Straßen bekamen schärfere Konturen, nahmen eine kühle blaue Färbung an.
Carl hatte Whiskys Ehrentag tatsächlich vergessen. Nun denn.
„Kommst du auch mit“, fragte er Elfi.
„Soll ich?“, fragte sie.
„Klar, warum nicht? Würd mich echt darüber freuen“, sagte er. „Ich bin Carl.“
Die Party war trostlos. Whisky hatte einen Trip eingeworfen und verbrachte den Abend stoned im Sessel. Sein Kopf schwenkte hin und her wie das Pendel einer barocken Standuhr. Carl konnte das nicht mit ansehen und stabilisierte seinen Kopf mit Hilfe einiger Kissen und gutem Zureden. Hoffentlich wurde es für ihn kein Horrortrip. Auf jeden Fall konnten sie ihn für die nächsten acht bis zehn Stunden abschreiben.
„Happy Birthday, Whisky“, sagte Buddy, worauf Whisky mit einem leisen Grunzen antwortete.
„Nach Horrortrip sieht das echt nicht aus“, stellte Buddy fest, legte Whisky einen wärmenden Parka über und setzte ihm seine Baskenmütze auf den Kopf.
„Hier müsste mal nötig aufgeräumt werden“, beschwerte sich Gonzo und zog an zwei Fingern eine gebrauchte Unterhose aus der Couchritze, die er über seiner Schulter hinweg entsorgte.
Winni spielte mit seinem Revolver, zielte auf das Poster von Ché.
„Steck das verdammte Ding weg, Winni!“, raunte ihn Gonzo an.
Winni zeigte sich wenig beeindruckt, drückte den Abzug durch, und es machte Klick. „Nicht geladen“, stellte er nüchtern fest.
„Hast du nicht gehört, was Gonzo gesagt hat?“, sagte Buddy. „Ich meine, das ist hier nicht dein Wohnzimmer.“
Winni grinste, wie um die Schmähungen zu entschärfen. „Was ist mit euch los, ihr Weicheier? Man muss doch im Training bleiben“, verteidigte er sich und ließ die Waffe lässig unter der Jacke verschwinden.
Carl musste innerlich schmunzeln. Die Knarre stammte aus alten Wehrmachtsbeständen. Sein Opa hatte sie Winni vermacht, inclusive Munition. Carl war sich nicht sicher, ob die Patronen noch zu gebrauchen waren. Auf einen Test war er jedenfalls nicht neugierig.
Er nahm sich der überquellenden Aschenbecher und der leeren Bierflaschen an. Anschließend sortierte er an der Küchenzeile eingelegte Gurken. Auf den Weckgläsern klebten weiße Etiketten. Jemand hatte mit wackeliger Handschrift Abfülldaten darauf gekritzelt. Carl sortierte die jüngeren Gläser auf dem Regal nach hinten und postierte die Gläser älteren Abfülldatums ganz nach vorne. Wenn die Daten stimmten, existierten einige Gläser mindestens vier Jahre oder länger.
Elfi wusch Geschirr ab. Gleichzeitig versuchte sie, auf einem Zweiflammenkocher einen Jasmin Tee aufzubrühen.
„Ich habe dich vermisst“, fing Carl vorsichtig das Gespräch an. „Wo warst du?“
„Wo soll ich gewesen sein?“
„Ich hab dich überall gesucht. War jeden Abend im Fantasio.“
Elfi stellte den Wasserkessel auf den Herd zurück und drehte sich lächelnd um. „Ernsthaft?“
„Ernsthaft. Ich schwöre. Ohne Flachs. Ich find dich toll.“
Sie fühlte sich geschmeichelt. „Ich bin doch viel zu alt für dich?“, stellte sie fest.
„Na und. Und außerdem ... wer bestimmt so was?“, gab Carl zurück, und es klang wie eine Trotzreaktion.
Udo blätterte in der Schallplattensammlung. „Lauter fünfziger Jahre Sachen, du glaubst es nicht.“
„Such weiter, da ist auch was für uns bei!“, sagte Buddy wissend.
„Leg mal die Beach Boys auf“, rief Elfi, „das hebt die Stimmung und vielleicht auch was anderes.“ Dann hallte ihr glockenähnliches Lachen durch den Raum. Ihre gute Laune schien sich auf alle zu übertragen. Entweder lag es tatsächlich an der Musik oder Elfis bloße Anwesenheit hatte sie alle verzaubert.
„Siehst du, Carl, es gibt für jede Lebenslage den passenden Soundtrack. Du kannst zum Beispiel die Wirkung eines Joints mit bestimmten Klangerlebnissen nachhaltig steigern. Iron Butterflys In-A-Gadda-Da-Vida lässt stets die richtigen Saiten in deinem Empfinden anklingen. Die sphärischen Klangkollagen eines Pink-Floyd-Stückes sind für Kiffer die ideale Begleitmusik, können aber einen LSD-Jünger leicht auf den Horrortrip schicken, vor allem, wenn dieser keine große Erfahrung im Umgang mit Trips besitzt.“
„Stimmt“, wunderte sich Carl. „Aus dieser Perspektive hab ich das bisher nicht gesehen. Das ist total einleuchtend. Echt. Mein persönlicher Favorit ist Albatross von Fleetwood Mac.“
Elfi goss den Tee durch ein Sieb in ein anderes Gefäß. „Gefühlvoll, fast kitschig, eine Dosis Südsee, das lässt jeden Kiffer schweben“, pflichtete sie Carl bei.
„Und sonst? Hast du so eine Art Allround-Tipp?“, wollte er wissen.
„Mit der Musik von den Doors oder den Grateful Death liegst du immer goldrichtig. Die Musiker experimentierten selber ausgiebig mit halluzinogenen Drogen und setzten das in ihren Soundcollagen entsprechend um.“
Carl war schwer beeindruckt, sah Elfi bewundernd an. Sie hatte genau den richtigen Schalter umgelegt, einen Automatismus in ihm ausgelöst, den er nicht mehr kontrollieren konnte.
„Wow, das gibts doch nicht, woher hat Whisky die Iron Butterfly“, rief Udo und hielt das Platten-Cover hoch, als seien es die in Stein gemeißelten Zehn Gebote Gottes vom Berge Sinai.
„Die gehört Wolle“, sagte Buddy, während er das Dope für den Geburtstagsjoint an einem brennenden Streichholz vorwärmte.
Das war auch so eine Sache, einer aus ihren Reihen hockte im Bau. Über die Umstände seiner Festnahme kursierten viele Gerüchte. Die glaubhafteste Version: Wolfgang brauchte dringend Bares, hatte einen Typen angequatscht, es ging um zwei mickerige Grämmchen Shit, nichts Außergewöhnliches, nur hatte das ausgereicht, und an Stelle der ersehnten Kohle klickten Handschellen. Er war auf einen Polypen in Zivil hereingefallen. Aber es kann auch anders gewesen sein.
Der Stoff, den Whisky für den Joint spendiert hatte, törnte nicht. Da nutzte die beste Musik nichts. Doch im Endeffekt war das zweitrangig, wichtiger das Ritual, die Atmosphäre und das Wir-Gefühl, das ihnen das gemeinsame Raucherlebnis vermittelte. So oder ähnlich mussten sich vermutlich die Indianer beim Rauchen einer Friedenspfeife gefühlt haben.
„Wir sollten mal nach Paris fahren“, sagte Udo wie aus heiterem Himmel und vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. „Paris ...“, sagte er erneut und lehnte sich genießerisch zurück.
„Wie? Jetzt? Einfach so? Oder wie oder was?“, fragte Gonzo verwirrt.
„Nun guck nicht so wie ’n Auto, Gonzo, war doch nur ’n Joke“, sagte Udo und fuchtelte mit der Hand in der Luft, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben.
Horst schien Gefallen an dieser Idee gefunden zu haben und mischte sich nun ebenfalls in die Diskussion ein. „Nein, nein, das wär doch ’ne irre Sache ... zum Frühstück nach Paris, einfach nur so.“
„Da gibts sicher jede Menge Pariser“, bemerkte Buddy und kicherte in sich hinein.
„Ich lach mir gleich ’n Ast“, gab Gonzo zurück und fügte noch hinzu, „Paris ... ihr spinnt doch komplett jetzt oder? Ach was, ihr seid alle stoned. Schiebt mir lieber mal den Tabak rüber, Leute!“
Er wusste nicht, ob es ein harmloser Spaß oder bitterer Ernst war, und im Prinzip wussten sie das ja selbst nicht so genau.
„Mist, ich kann nicht mit“, fiel Buddy ein. „Muss morgen früh Zeitungen austragen.“
„Ohne unseren Fahrer hat das heute sowieso keinen Zweck“, holte Carl seine Gefährten auf den Boden der Tatsachen zurück und deutete mit einer Kopfbewegung auf Whisky, der inzwischen laut schnarchte. „Sollten wir absolutely für später im Auge behalten, zum Frühstück nach Paris, einfach so, mitten in der Nacht, und wenn wir auf der Stelle losdüsen würden, kämen wir sogar noch pünktlich an. Ist doch irre oder?“
Und letztendlich waren alle dafür, sie mussten für ihren nächtlichen Trip nur einen günstigeren Zeitpunkt erwischen.
Sie gingen spät auseinander. Buddy versprach beim Abschied, während der Nacht auf Whisky aufzupassen. Sein Trip war noch lange nicht beendet, und vielleicht schlenderte er ja gerade auf seinen Säbelbeinen durch die engen Gassen des Montmartre oder so, wer weiß das so genau.