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Eine Stadt im Ruhrgebiet

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„Die Proletarier aller Länder werden sich zum Klassenkampf vereinigen. Die Arbeiterklasse wird die Diktatur des Kapitals durch eine Diktatur des Proletariats ersetzen, das Kapital stürzen und eine klassenlose Gesellschaft einführen. Nieder mit der Bourgeoisie. Es lebe die Revolution, es lebe die Arbeit – auf dass die Sonne ohne Unterlass scheine ...“

„Das reicht, Gonzo.“ Udo hatte genug gehört, probierte einen strengen Gesichtsausdruck. Seine 17 Jahre kaufte ihm trotzdem keiner ab, war körperlich irgendwo zwischen 11 und 13 stehen geblieben. Urplötzlich verbogen sich seine mädchenhaften Gesichtszüge zu einem schelmischen Grinsen. „So ein Quatsch. Du willst die eine Diktatur aufheben, nur um sie gegen eine andere Form der Alleinherrschaft zu tauschen? Und an diesen Blödsinn glaubst du? Wie soll das funktionieren?“

Gonzo zuckte mit den Achseln, ließ die Mundwinkel nach unten fallen. Er war gerade 17 geworden, hatte bereits eine klare Vorstellung von der eigenen Zukunft. Der kantige Gonzo. Er hieß Uwe Gonszcorek. Zu kompliziert, meinte sein Pauker, hatte ihn kurzerhand Gonzo genannt. Dabei blieb es. Ein unaussprechlicher Name, reduziert auf fünf Buchstaben. Konnte es etwas Perfekteres geben? Gonzo träumte von einer kommunistischen Staatsform, ließ keine Gelegenheit aus, seine Mitmenschen von seiner Gesinnung zu überzeugen.

Udo war noch längst nicht fertig. „Nee, mein Lieber, da ist der nächste und der übernächste Klassenkampf praktisch vorprogrammiert. Und das steht alles in diesen Büchern?“

„Logo. Marx, Engels, Trotzki, Mao Tse-tung, alles Experten auf diesem Gebiet“, gab Gonzo eifrig zurück.

„Und Rudi Dutschke“, ergänzte Carl lethargisch. Carl war ein typisches Kind des Kohlenpotts. Aufgewachsen im Zentrum der Arbeit, unter Stahlkochern und Bergleuten, befürwortete er ebenfalls einen Machtwechsel, allerdings eher einen sozialdemokratischen.

Bevor sie den Burgwall überquerten, stärkten sie sich an einem belebten Imbisswagen am Ende der Brückstraße mit Pommes Rot-Weiß.

Udo legte seine Pommesschale auf dem Stehtisch ab und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger und angewinkeltem Daumen eine Schusswaffe an. „Dutschke war für unsere verlogene und korrumpierbare Gesellschaft zu unbequem und musste schnellstens von der Bildfläche verschwinden, wenn ich mich nicht irre. Bumm! Problem gelöst. So und nicht anders werden die Dinge in unserem System geregelt.“

„Der lebt doch noch, soviel ich weiß“, meinte Carl.

„Der kommt nicht mehr zurück“, sagte Udo. „ Achte drauf!“

Gonzo schüttelte verächtlich den Kopf, hob verständnisringend die Hände in die Luft, und dann brach es aus ihm heraus: „Mein Gott, müssen denn immer nur die Guten dran glauben? John F. Kennedy, Che Guevara, Martin Luther King ...“

Die Lichtspielhäuser spuckten ihre Besucher aus, und für kurze Zeit herrschte Hochbetrieb, als wäre Sommerschlussverkauf. Das Publikum entschwand in alle Winde, und plötzlich war es wieder still. Wortlos hatten sie ihre Portionen aufgegessen. Die Zigarette danach rauchten sie unterwegs.

Es gibt immer ein erstes Mal: der erste Kuss, der erste Sex, die erste Zigarette oder der erste Kontakt mit Drogen. Und um Letzteres drehte sich ihre heutige Mission. Sie waren mit Buddy im Fantasio verabredet. Wie oft hatte ihnen der Angeber von seinen Verbindungen zur Unterwelt erzählt und wie leicht es sei, an vernünftiges Haschisch zu kommen.

Bald tauchten sie in den berüchtigten Bereich der Nordstadt ein. Ganz in der Nähe, nur ein paar Häuserecken weiter, befand sich das Rotlichtviertel. Nüchtern, funktionell und unaufgeregt.

Bunter und viel lauter hatte Carl sich die Gegend vorgestellt. Mit Scharen von vergnügungssüchtigen Menschen, wie auf einem Jahrmarkt. Wenn er hierher kam, war er stets enttäuscht. Wenigstens ein paar grelle Leuchtreklamen hätten sie hie und da anbringen können. Er hatte mal wieder das Gefühl, sie bewegten sich in der verbotenen Zone eines Militärsperrbezirkes. Alkoholisierte Gestalten kreuzten ihren Weg. Strichmädchen in kurzen schwarzen Lederröckchen mit roten oder gelben Lackstiefeln, Bettler, die sie nach ’ner Mark anhauten, Drogendealer, die ihnen ihren Stoff anboten. Und Freier, die eine Hauswand anpissten. Wo sie hinsahen, Sumpf, nichts als Sumpf. Sie waren zu dritt und fühlten sich einigermaßen sicher in ihrer Haut.

„Da vorn ist es“, sagte Gonzo endlich und zeigte grinsend seine freiliegenden Zahnreihen.

Gott, dieser jämmerliche Anblick. Gonzos Schneidezähne, zu dünnen Stiften abgeschliffen, ragten wie Stalaktiten aus seinem Oberkiefer. Bei einem Sturz mit seiner NSU-Quickly war er über den Lenker gegangen, hatte sich beim Aufprall auf dem Asphalt die Zähne abgeschlagen, praktisch halbiert. Überall erzählte Gonzo die Version von einer wüsten Kirmesschlägerei mit den Stollenpark-Boys. „Guckt euch das an, Leute! Genau hier“, machte den Dracula, „genau hier haben mich die feigen Schweine mit der Fahrradkette erwischt.“

Gonzo genoss die Bewunderung, die er jedes Mal nach seinem schauspielerischen Vortrag erntete. Noch. Bald würden zwei nagelneue Jacketkronen die Verunstaltung kaschieren.

Gonzo stoppte abrupt ab, zerrte an der Klinke einer verrosteten Stahltür. Der Eingang zur Diskothek – FANTASIO.

Fantasio

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