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Mrs. Robinson lässt grüßen

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Jemand war schon vor ihm wach. Er kannte es nicht anders. Sein kleiner Kumpel begrüßte ihn mit einer amtlichen Morgenlatte, prall wie ein gefüllter Feuerwehrschlauch. Dabei hatte er noch nicht einmal einen feuchten Traum oder so. Er konnte es sich nicht erklären, schob es, wie immer, auf seine viel zu volle Blase.

Es war sein erster Ferientag. Trotzdem stand Carl an diesem Morgen ungewohnt früh auf. In der Wohnung war es still, seine Eltern bereits zur Arbeit gegangen. Da er seine Schallplatten bei Udo vergessen hatte, musste er auf Musik verzichten.

Neun Uhr. Er schaltete die Nachrichten im Küchenradio ein, hörte aber erst richtig hin, als der Nachrichtensprecher über diesen Sektenmord in Amerika berichtete. Für den brutalen Ritualmord an die Schauspielerin Sharon Tate sei der Sektenführer, ein gewisser Charles Manson, verantwortlich. Nach seiner Festnahme und der sich anschließenden Untersuchungshaft erwarte ihn die Todesstrafe. Na, wenigstens haben sie das Schwein erwischt, dachte Carl und schaltete das Radio wieder aus. Die Wetterprognosen interessierten ihn nicht die Bohne.

Er bestaunte prüfend seine Lieblingshose. Die Jeans zeigte zwischen den Beinen deutliche Verschleißerscheinungen und würde weitere Reparaturen nicht mehr überleben, einige Stellen bereits so dünn wie Nylons. Bald würde er die Hose eintauschen müssen, gegen eine fabrikneue. In einem Blau, so dunkel wie eine Marineuniform und steif wie ein Brett.

Er machte sich Frühstück, das aus einem Brot mit Rübenkraut und einem Becher Kaba bestand. Anschließend verspürte er den Drang, sich die Zähne zu putzen, weil diese süße Kombination einen ekeligen Geschmack in seinem Mund hinterlassen hatte und ihn der stechende Schmerz in den Backenzähnen an den längst überfälligen Zahnarztbesuch erinnerte.

Er ging ins Bad, schaute in den Spiegel und betrachtete den flaumigen Schatten auf seiner Oberlippe, der die zaghaften Konturen von einem ersten Schnurrbart bildete. Eine Rasur war noch nicht nötig.

Liebend gerne hätte er einen Joint geraucht, musste sich jedoch mit einer simplen Zigarette begnügen. Immer einen kleinen Vorrat Shit zur Hand haben. Nur ein halbes Gramm oder wenigstens ein paar Krümelchen für die Morgenzigarette würden bereits ausreichen.

Er marschierte stramm durch, brauchte trotzdem eine gute halbe Stunde, um sein Ziel zu erreichen.

Vor Udos Haustür wartete Carl eine kleine Ewigkeit. Niemand da?

Er hatte sich bereits zum Gehen abgewendet, da hörte er hinter sich das Geräusch eines Türschlosses. Er drehte sich um. Im Türrahmen lehnte Udos Mutter, zog lasziv an ihrer Zigarette. Sie trug einen von diesen modernen Hausanzügen aus Nickistoff, ganz in Rosa gehalten.

„Scharrlie, einen schönen guten Morgen. Willst du nicht reinkommen?“

„Ist Udo nicht da? Meine Platten ... ich meine … ich wollte ... ich möchte bloß meine Schallplatten abholen“, stammelte Carl und wunderte sich über seine Unsicherheit.

Frau Meyer verschränkte entrüstet die Arme vor der Brust. „Aber Scharrlie, was ist bloß los mit dir? Udo ist nicht da, hat mir nicht gesagt, wo er hingeht. Wollen wir in seinem Zimmer nachschauen, wo deine Schallplatten stehen könnten? Ach, bitte, komm doch herein!“

Carl folgte Frau Meyer in das Innere des Hauses. Sie führte ihn die Treppe hinauf in die obere Etage. Donnerwetter, alles vom Allerfeinsten und aufgeräumt wie in einer Puppenstube. Respektvoll betrat er die Treppenstufen aus weißem Marmor. Ein schmiedeeisernes Geländer mit allerlei Verzierungen grenzte die Treppe zur offenen Seite ab. Seine rechte Hand stützte er auf einem goldenen Handlauf.

„Geh schon mal in Udos Zimmer. Ich muss mich nur schnell umziehen, und dann werd ich uns einen Kaffee kochen.“ Frau Meyer zeigte dabei auf eine der unzähligen Zimmertüren.

Carl zog seinen Parka aus und setzte sich auf Udos Bett. Die lindgrüne Steppdecke etwas in Unordnung geraten, achtete er darauf, sie in einem möglichst glatten Zustand zu belassen. Dekorativ zur Schau gestellte Modellautos, ein Globus auf dem Bücherregal und ein aufgeräumter Schreibtisch. Alles picobello. An den Wänden Poster von Jimi Hendrix und dem obligatorischen kackenden Frank Zappa. Daneben ein gerahmtes Foto mit schwarzem Trauerflor, das Udos verstorbenen Vater zeigte. Die Schallplatten standen sorgfältig gestapelt an der Wand – abholbereit. Der gute Udo, so fürsorglich konnte der sein.

„So, da bin ich wieder, Kaffeewasser kocht.“

Carl blickte auf, konnte sein Erstaunen nur schwer unterdrücken. Ein enges orangefarbenes Sommerkleid hatte sie übergezogen, und barfuß war sie außerdem.

„Kannst du mir den Reisverschluss zu machen?“, fragte sie und drehte ihm den Rücken zu. Carl richtete sich auf, nahm den Reisverschluss in die Hand und zog daran. Er konnte ihn keinen Millimeter von der Stelle bewegen. Einen träumerischen Moment lang betrachtete er ihren braungebrannten Rücken. Unter ihrem Kleid trug sie einen weißen BH, sonst nichts. Die Träger erzeugten einen verführerischen Kontrast auf ihrer sonnengebräunten Haut und wirkten wie Radioaktivität auf ihn. Dieser Anblick trat eine Lawine der Gefühle in seinem tiefsten Innern los, und von einer Sekunde auf die andere wusste er was er wollte.

Im Haus war es mucksmäuschenstill. Das Rascheln des synthetischen Kleiderstoffes auf ihrer nackten Haut machte ihn schier verrückt. Er suchte nach einer Lösung, spielte tausend Möglichkeiten auf einmal durch, während die Finger seiner Hand ihre Wirbelsäule berührten, langsam daran entlang nach oben glitten und zwischen den Schulterblättern vom Verschluss ihres BHs aufgehalten wurden. Nein, befahl ihm eine innere Stimme, tue es nicht!

Das Telefon schrillte, von weit her, unten aus dem Flur und immer noch laut genug, dass Frau Meyer jetzt sagte: „Sekunde, Scharrlie, bin gleich wieder zurück, warte bitte hier!“

Carl unterdrückte mit Mühe einen Fluch. Er sah ihr hinterher, sah ihren wackelnden Po, ihre wiegenden Hüften, ihre enge Taille und ihren gestreckten Rücken unter dem bis auf die Hüften geöffneten Kleid. Seine Sicherungen waren vollständig überlastet, konnten der Versuchung nicht mehr standhalten, der Reihe nach knallten sie durch, eine nach der anderen. Er hatte nur einen einzigen Gedanken. Er hörte ihre Stimme. Er hörte wie sie sagte, „... hab gerade keine Zeit, ich bin in Eile. Ich rufe Sie wieder an. Auf Wiederhören.“

Sie kam die Treppe hochgelaufen. Ihre Fußsohlen erzeugten ein dumpfes Platschen auf dem blanken Marmor.

Sollte er es riskieren, ihr Kleid herunterziehen, ihren Rücken streicheln, von hinten umfassen, sie an sich ziehen, ihren Hals küssen? Sie ahnte vermutlich nicht, dass der Reisverschluss hakte. Zögern durfte er nicht, eine zweite Gelegenheit würde es nicht geben. Ein, zwei, vielleicht drei Sekunden Zeit für einen Versuch, mehr nicht.

Würde sie es dulden, geschehen lassen oder es gar selber wollen? Lief das Ganze hier nicht sowieso darauf hinaus? Und außerdem, was hatte er groß zu verlieren? Im ungünstigsten Falle setzte es eine Ohrfeige oder so. Na und?

„So, da bin ich wieder. Versuchen wir es noch mal“, sagte sie und drehte ihm abermals ihren Rücken zu.

Er traute sich nicht, seine Hände gelähmt. „Der klemmt irgendwie.“ Seine Stimme versagte beinahe.

„Ach ja, hatte ich ganz vergessen, der ist kaputt.“ Während sie dies sagte, streifte sie das Kleid über ihre Schultern und ließ es auf den Boden fallen. Sie drehte sich zu Carl, blinzelte ihn vertraulich an und fasste seine Hände, um sie auf ihre prallen Brüste zu legen.

Carl erstarrte zur Salzsäule.

„Na, mein Kleiner, gefallen sie dir?“

Oh, ja, und wie. Keine Frage. Klar gefielen sie ihm, Titten so groß wie Fesselballons, und seine Finger klebten wie Magnete daran fest, bebten auf dem glatten Gewebe der BH-Körbchen.

Sie wartete auf keine Antwort. Inzwischen nestelte sie mit ihren Händen hektisch den Reisverschluss seiner Hose auf und kniete sich vor ihm nieder.

Sie hatte es die ganze Zeit geplant, sich bis ins kleinste Detail ausgedacht, wie sie es am besten anstellen könnte, der Trick mit dem kaputten Reisverschluss ihres Sommerkleides, mit ihrer verführerischen Unterwäsche, dem betörenden Parfum und ihrer hochgesteckten Frisur, die sie irgendwie mädchenhaft wirken ließ. Welcher Mann hätte ihr widerstehen können? Sie musste es von Anfang an gewusst haben, war sich im Klaren, dass auch er diese Möglichkeit in Erwägung gezogen hatte, und dass er sie ebenfalls begehrte.

Doch ging das nicht alles ein klein wenig zu weit? Für Carls Geschmack vielleicht eine Prise zu viel Verführung, ansonsten gut gewürzt. Und erst das Alter dieser Frau, sie hätte glatt seine Mutter sein können. Zu spät. Das hätte er sich vorher überlegen müssen. Genau das hier wollte er. Oft genug hatte er sich diese und ähnliche Situation in seinen dreckigen Phantasien ausgemalt. Er ließ es geschehen, ohne eine Spur von Gegenwehr. Seine Hose rutschte in die Kniekehlen. Er sah zu ihr hinunter, bewunderte ihre Frisur, die ihn erneut an Brigitte Bardot erinnerte, und von da an verdrängte er den letzten Anflug von Vernunft aus seinem Hirn.

Er hörte ihre Stimme. Waren es Anweisungen? Sie zog sich ganz aus, kniete sich auf die lindgrüne Bettdecke. Herrje, die schöne Decke.

Von der Wand grinste ihn Jimi Hendrix an, sagte: „Hey, Alter, schöne Beute, mach es genauso wie ich, nimm was du kriegen kannst.“

In seinen Adern schwangen die Anfangstakte von Purple Haze. Wie im Traum vernahm er weitere Instruktionen. Er hätte alles getan, was sie von ihm verlangte, es passierte rein mechanisch.

Sie kam hoch, drückte ihn aufs Bett, setzte sie sich auf ihn, reckte wild ihren Kopf. Sie bog ihren Rücken durch, kreiste mit den Hüften, und begleitet von stöhnenden Lauten, begann sie ihn zu reiten. Er legte seine Hände um die niedlichen Polster ihrer Hüften, zog sie fester zu sich heran, wollte sie vollständig spüren, und dabei verlor er jegliches Gefühl für Zeit und Raum.

Wie lange es gedauert hatte, das wusste er nicht mehr. Vielleicht fünf Minuten, eine viertel Stunde oder etwa eine halbe Stunde? Sein Mund ausgedörrt wie ein vertrockneter Tümpel in der Sahara, und in seinem Kopf spulte das Band auf Anfang, durfte er alles noch einmal erleben, in sämtlichen Einzelheiten. Was hatte diese Frau mit ihm gemacht? Sie verstand es meisterhaft, rechtzeitig das Tempo herauszunehmen oder wieder zu verschärfen, wenn ihr wisst, wovon gesprochen wird.

Am Ende lag er ausgepumpt auf dem viel zu kleinen Bett, hechelnd wie ein junger Welpe. In seinem Brustraum verspürte er eine seltsame Enge, wie eingeschnürt. Er setzte sich auf und suchte auf dem Fußboden seine Kleidungsstücke zusammen.

Sie wälzte sich auf den Rücken, bat ihn um eine Zigarette. Zwischen ihren aufgestellten Beinen hindurch blickte ihn ihr feucht glänzendes Bärenauge an. Carl setzte sich an Udos Schreibtisch und mit zitternden Fingern drehte er etwas, dass zumindest die Ähnlichkeit mit etwas Rauchbarem hatte. Er steckte die zwei Glimmstängel an und reichte eine Zigarette zu ihr rüber. Sie zog genüsslich daran und sah ihn gelangweilt an.

Carl blieb eine Weile sitzen und betrachtete diese reife Frau. Ein Teil seiner Körperflüssigkeit befand sich jetzt in ihr. Wurde sie von ihrem Körper absorbiert oder würde sie, sobald sie sich aufrichtete, ihren Leib auf natürlichem Wege wieder verlassen?

Vorbei. Verdammt, es war vorbei. Seine Gefühle wirbelten durcheinander: Erleichterung, Schuld, Freude, Verärgerung, Unzufriedenheit oder am Ende Befriedigung? Sie hatten ihren Spaß gehabt. Das ging in Ordnung. Und es sollte bei diesem einen Mal bleiben. „Ich muss jetzt gehen“, sagte er und zog seine Jeans an.

„Was ist mit dir?“, wollte sie wissen.

Carl überhörte die Frage und lutschte, während er wie abwesend das Zappa-Poster betrachtete, von innen an seinen Wangen.

„Ist doch immer dasselbe mit euch Frischlingen“, stellte sie fest und nahm einen kräftigen Lungenzug. „Erst kann es euch nicht schnell genug gehen. Ist der Druck erst mal weg, kommt das schlechte Gewissen.“

Carl verzog den Mund zu einem Strich, sah sie mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Mitleid an.

„Ich bin immer für dich da, Scharrlie. Ich meine, wir brauchen nicht unbedingt ... Du weißt schon. Wir können auch nur reden, wenn du das willst?“

„Ja, danke.“ Carl nickte beflissentlich, kleidete sich weiter an.

„Ganz meinerseits.“

„Dann tschüss“, sagte er und schenkte ihr ein Lächeln. Er schnappte sich seine Schallplatten und ging.

Regentropfen sprangen auf dem roten Lack des Alfa Giulietta. Es goss in Strömen, doch es störte ihn nicht. Er schob die Schallplatten schützend unter seinen Parka und ließ sich nass regnen, bis das überschüssige Wasser aus den Haaren an seinem Gesicht heruntertropfte. Seine Schritte beschleunigte er nicht, ganz im Gegenteil. Carl hatte nicht das geringste Bedürfnis, sich vor dem kühlen Nass zu schützen.

Er legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund, und fing den Regen auf – eine willkommene Erfrischung. Er sog die feuchte Luft in seine Lungen, als hätte er Jahrzehnte in einem Verlies verbracht und gerade das Tageslicht erblickt.

Während er durch Pfützen die Straße hinunterwatete, zog er Parallelen zu Dustin Hoffmanns Verhältnis mit Mrs. Robinson in dem Film Die Reifeprüfung. Der hatte es zunächst genossen, mit einer älteren Frau zu schlafen. Oder täuschte er sich da? Zur Hölle, das war nur ein Film. Dies hier die harte Realität, seine eigene Reifeprüfung.

Er fühlte sich nicht großartig, aber auch nicht schlecht. Sex hatte bislang immer etwas Magisches für ihn. Innerhalb weniger Minuten hatten sich die geheimnisvollen Anziehungskräfte der körperlichen Liebe relativiert und die Verlockung war nicht mehr so groß wie zuvor. Es war nicht mehr rückgängig zu machen. Dafür konnte er endlich mitreden, würde wissen, was gemeint ist. Hätte er erneut die Wahl, so würde er alles wieder genauso machen.

Vermutlich gehörte das gerade Erlebte zum Erwachsenwerden dazu. Trotzdem. Allen Frau Meyers und Mrs. Robinsons würde er in Zukunft besser aus dem Weg gehen. Udo war verdammt noch mal ein guter Kumpel. Sie gingen zusammen zur Schule, in dieselbe Klasse. Hoffentlich würde er je wieder geradeaus in seine Augen gucken können.

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