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Lunetta atmete tief ein und aus, so wie der Greis es ihr beigebracht hatte. Atme ruhig und gleichmäßig, dann tanze auf das Seil, setze die Füße kreuzweise. Deine ersten Schritte müssen flink sein. Nur Mut.

Das Mädchen schloss die Augen, der Lärm unter ihr versank. Lunetta beschwor das Bild einer Brücke. Nichts war schwer daran, eine Brücke zu überqueren. Sie riss die Augen auf und setzte den linken Fuß auf das vibrierende Seil, lief los. Das Seil schwang sanft nach beiden Seiten, mit einem Sprung rettete sie sich auf den gegenüberliegenden Balken. Seufzer und leiser Beifall waren ihr Lohn. Wollte sie allerdings mehr als ein paar Kupfermünzen einstreichen, musste sie nun einen Drehsprung oder Salto wagen. Lunetta holte wieder Luft.

Der Seiltanz war ihre einzige mögliche Verdienstquelle, denn selbst für das Recht zu betteln verlangte man in Köln Geld. Sie brauchte viel Geld, um Kleider zu erwerben, die anständig genug waren, um sich im Haus van Berck und bei Doña Rosalia vorzustellen. Einem zerlumpten Gauklerkind würde man dort gewiss die Tür weisen. Heiratsurkunde hin oder her. Kleider machen Leute, hatte ihre Mutter sie gelehrt, und das Leben der Mutter war der Beweis dafür gewesen, auch wenn die vornehmsten Kleider ihr am Ende nichts genutzt hatten. Nicht einmal ihr Brautkleid aus seidenem Bombasin. Es hatte lichterloh gebrannt wie eine Fackel. Heller Schmerz loderte in Lunetta auf, heiß wie eine Flamme. Nur nicht daran denken. Nie daran denken. Selbst der Traum von Flammen bedeutete Tod. Lunetta beschwor erneut das Bild einer Brücke, breitete die Arme aus, setzte den Fuß vor, verharrte wie schwebend für einen Moment über dem Seil.

»Ich muss sie herunterholen«, zischte im Publikum der Mann mit der Laute und wollte sich an Sidonia und den Schaulustigen vorbei zum Eingang der Schenke drängen.

Sidonia schüttelte den Kopf. »Die Kleine ist Seiltänzerin. Sie beherrscht noch ganz andere Kunststücke, ich sah gestern ...«

»Sie ist keine Seiltänzerin«, erwiderte der Fremde und schob Sidonia beiseite.

»Schaut nur, schaut«, schrie ein Gaffer. Sidonia und der Lautenspieler rissen die Köpfe hoch. Sidonia tat einen Schrei. Ein brennender Pfeil sauste auf das Kind zu. Lunetta wandte schlafwandlerisch den Kopf. Sie erstarrte. Darum also hatte sie eben an Flammen denken müssen. Ihre Ahnungen trogen nie. Lunetta hob abwehrend die Arme, krümmte sich und schwankte.

»Halt dich fest«, schrie Sidonia, während sie sich an der Seite des Lautenspielers durch die Menge kämpfte, um unter das Seil zu gelangen. »Verdammt, halt dich irgendwo fest!«

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