Читать книгу Die Tarotspielerin/Das Geheimnis der Tarotspielerin/Das Tarot der Engel - Drei Romane in einem Band - Marisa Brand - Страница 20

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»Öffne deinen Mund, Kind.« Sanft umfasste der Arzt, den man an seinem gelben Hut als Juden erkennen konnte, das Kinn Lunettas.

»Nun mach schon«, sagte Sidonia, »du kannst Meister Siebenschön vertrauen. Er ist der Leibarzt meiner künftigen Schwiegermutter und wird niemandem verraten, dass du bei mir bist.«

Sie saß auf einer Fensterbank ihres Schlafgemachs und mischte ein Kartenspiel. Im Hintergrund füllte eine Magd einen Zuber mit heißem Wasser. Auf einem Hocker lag ein seidenes Narrenkostüm in Kindergröße. Aufmunternd nickte Sidonia Lunetta zu. Das Mädchen öffnete den Mund.

»Hm«, sagte der Arzt. »Die Zunge hat man ihr nicht herausgerissen.« Er nahm einen Hornspatel und drückte sie herab. »Auch Kehle und Stimmbänder sind unversehrt.« Er streichelte dem Kind über das Haar und drehte sich zu Sidonia um. »Ich entdecke nichts, was ihr Stummsein erklären könnte. Allerdings gibt es Verletzungen der Seele ... Nun, wer weiß, was dieses Kind erlebt hat. Die Welt ist für Bettlerwaisen ein grausamer Ort. Ihr gesunder Wuchs zeigt mir allerdings, dass sie nicht immer auf der Straße gelebt hat und gute Nahrung gewohnt war.«

Lunettas Miene verschloss sich. Hilfe suchend schaute sie Sidonia an, zu der sie seit ihrer ersten Begegnung im Hafen Vertrauen gefasst hatte. Ihre gestrige Rettung vor dem Dominikaner und dem Bärenführer schienen ihre freundschaftlichen Gefühle für die junge Frau mit dem munteren Gesicht zu rechtfertigen. »Vertraue deinem Schicksal«, hatte Padre Fadrique stets gesagt, »nur wer nichts und niemandem mehr vertrauen will, ist verloren.« Vertrauen erforderte Mut. Lunetta war kein furchtsames Kind.

Sidonia klopfte auf das Polster der Fensterbank, das Mädchen schlüpfte neben sie. Der Arzt packte seine Lupen und Hornspatel zusammen und wollte sich verabschieden.

»Auf ein Wort noch, Meister Siebenschön«, hielt Sidonia ihn zurück. Sie fächerte den Kartenstapel vor sich auf der Bank aus. Lunetta zog ihre Knie vor die Brust.

»Dieses Spiel hier trug das Mädchen bei sich. Habt Ihr eine Ahnung, wozu es dient?«

Der Arzt warf einen Blick auf die Bilder. Leise zuckte er zusammen. »Ich glaube, es heißt Tarock oder Tarot. Was dort vor Euch liegt, sind die 22 trionfi oder Trumpfkarten. Seht Ihr, die Karten haben Namen und sind von 0 bis 21 nummeriert. Man nennt die Bilder auch die großen Geheimnisse.«

»Und wie spielt man das Spiel?«

Der Arzt schaute sich nach der Magd um, doch die klapperte auf ihren Holzschuhen mit einer Wasserkanne zwischen dem Kamin und dem Zuber hin und her. Der Arzt senkte die Stimme: »Wenn ich Euch einen Rat geben darf, so versteckt die Karten oder verbrennt sie.«

»Sind sie jüdisch?«

»Nein, wiewohl sie Symbole unserer Lehren nutzen, und manch einer behauptet, dass das Wort Tarot aus dem Namen unseres heiligen Buches, der Tora, abgeleitet sei. Eine von vielen Spekulationen, denn ebenso weidet Ihr in den Bildern Kelche finden, die an das Abendmahl Eures Jesus Christus erinnern, daneben arabische Schriftzeichen und heidnische Elemente aus aller Welt, sogar aus Indien. Diese Karten vermischen alle Götter und Religionen, so als ergäbe alles zusammen den rechten Glauben.«

Religion! Sidonia schaute enttäuscht auf die Karten hinab. »Ach, es ist ein Spiel für Priester.«

Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, es ist kein Spiel, und schon gar nicht für Eure Priester. Vor etwa siebzig Jahren brachten reiche Italiener diese Karten in Mode, sie lieben alles Antike und scheuen keine heidnischen Bezüge. Manche Gelehrte halten dieses Tarot sogar für eine Wissenschaft ähnlich der Astrologie, andere sagen, es sei nur für Menschen mit dem zweiten Gesicht zu verstehen. Eure Theologen halten die Bilder für Teufelswerk, weil viele damit das Schicksal deuten. Ein Orakel.«

Sidonias Augen leuchteten auf. »Das klingt spannend! Und was bedeutet dann diese Karte? Sie fiel mir beim Mischen in den Schoß. Sie nennt sich La torre

Sie hielt das Bild eines brennenden Turmes vor schwarzem Hintergrund hoch. Donner und Blitze umzuckten ihn und zersprengten seine Dachkrone. Menschen sprangen aus den Fenstern in ihren Tod. Lunetta wollte nach der Karte schnappen.

»Sag es mir«, bat Sidonia, »du weißt es.«

Der Arzt wiegte den Kopf.

»Man sagt, jede Karte zeige eine notwendige Station auf dem Lebensweg eines Menschen, der nach Einsicht in seine göttliche Bestimmung und sein Schicksal strebt. Wer den Rat oder die Warnungen der Karten anzunehmen weiß, wird seinen Platz in der Welt und Erleuchtung finden, heißt es. Ein brennender Turm ...«

»Sieht nach furchtbarem Unheil aus«, sagte Sidonia mit ärgerlich gerunzelter Stirn und schob die Karten zusammen.

»Auch Schicksalsschläge können heilsam sein«, bemerkte der Arzt vorsichtig. »Die Zahl 16 auf der Karte steht in der Kabbala für maßlose Gewinnsucht und Hochmut, die Gott so erzürnen wie einst der Turmbau zu Babel.«

Sidonia ließ die Karte fallen und schluckte. Gewinnsucht ... Nein! Mit blitzenden Augen betrachtete sie den Arzt. »Unheil steht mir heute gewiss nicht bevor, ich feiere Verlobung.«

Der Arzt äußerte seine Glückwünsche und verabschiedete sich. Sidonia lief zum Zuber und tauchte die Hand in ihr Badewasser. »Danke Tringin, so ist es angenehm. Komm, Lunetta, wir nutzen das Wasser gemeinsam.«

Sie wechselte ihren Morgenmantel gegen ein Badehemd aus Batist und half Lunetta aus ihrem Leinenrock. Lachend spritzte sie das Mädchen mit Wasser nass.

»Nun komm, wir wollen einen hübschen Pagen aus dir machen. Du wirst die Überraschung des Abends werden, neben meinem Verlobten, versteht sich. Ich muss dir von ihm erzählen.«

Die beiden waren eben in das Wasser gestiegen, als von unten das Geschrei des Vaters ertönte. »Lambert! Lambert!«

Wenig später rüttelte es an der Tür von Sidonias Schlafgemach.

»Sidonia, mach auf. Ich muss rein.«

Lunetta tauchte entsetzt unter.

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