Читать книгу Ein Herz und keine Seele - Mark Billingham - Страница 12
NEUN
ОглавлениеThorne und Hendricks traten aus dem Bengal Lancer und gingen die Kentish Town Road entlang Richtung Süden. Es war kalt, zum Glück aber trocken. Thorne summte eine Melodie, die ihm schon den ganzen Tag durch den Kopf ging. Vorsichtig trug er die braune Papiertüte mit den Resten des Lammgerichts, das er nicht ganz geschafft hatte.
»Gott, hab ich den Laden vermisst.«
Hendricks rülpste und setzte ein Grinsen auf. »So weit muss es ja jetzt nicht mehr kommen, Kumpel.« Er klopfte Thorne auf die Schulter. »Jetzt, wo du wieder hier wohnst.«
»Vorübergehend.«
»Wirklich?« Hendricks’ schleppender Manchester-Akzent zog das Wort in die Länge, was seinen Sarkasmus noch offensichtlicher machte.
»Ich hab doch gesagt, es ist nur auf Probe.«
»Natürlich.«
»Wir sehen mal, wie es läuft.«
»Klar. Und wie läuft es? Wie lange ist es jetzt her … sechs Wochen?«
Thorne blieb stumm.
In Wirklichkeit waren es fast zwei Monate, seit Helen die Bombe zum Platzen gebracht und ihm verkündet hatte, sie brauche ein wenig Raum für sich. Dass es ihnen vielleicht helfen würde, wenn jeder eine Weile allein wohnen würde. Denn es sei schwierig, nicht wahr, zwei Bullen unter einem Dach? Schwieriger als bei anderen. Es gebe zusätzliche … Stressfaktoren.
Eine räumliche Trennung könnte uns beiden guttun, und ich hab das Gefühl, ich brauche ein bisschen Zeit allein mit Alfie …
Thorne hatte gar nicht erst versucht zu diskutieren, denn er kannte Helen und begriff sofort, dass es wenig Sinn haben würde. Hendricks war der Erste gewesen, dem er es erzählt hatte, und da er auch ihn gut kannte, hatte er mit etwas so Alltäglichem wie Mitgefühl erst gar nicht gerechnet.
Zum Glück.
»Na ja, ich kann nicht behaupten, dass es mich überrascht«, hatte Hendricks stattdessen gesagt. »Ich meine, versteh mich nicht falsch, ich hab mich immer gefragt, wie lange sie es mit dir aushält.«
»Toll, danke, Phil! Wie war denn dein Job bei der Telefonseelsorge so?«
»Du hast mich gefragt. Und im Innersten wusstest du genau, was kommt.«
»Dann red weiter.«
»Weil du dich an deine alte Wohnung geklammert hast, nur für alle Fälle. Als eine Art Rettungsring oder so was.«
»Das ist doch Schwachsinn. Die Miete konnten wir verdammt gut gebrauchen. Abgesehen davon war es übrigens Helens Idee, nicht meine.«
»Hat sie dich abserviert?«
»Nein. Ich sag doch –«
»Was ist denn eigentlich passiert?«
In Wahrheit wusste auch Thorne es nicht genau. Er selbst war einigermaßen glücklich gewesen und hatte geglaubt, das gelte auch für Helen. In den Monaten vor der Trennung hatte eine gewisse Spannung geherrscht, aber sicher nichts, was Thorne als irreparabel betrachtet hätte. Und es war in keiner Weise mit dem zu vergleichen, was Helens jüngere Schwester Jenny sich geleistet hatte. Rückblickend betrachtet war es Ironie pur, aber Helens Bedürfnis nach »ein wenig Raum« hatte sich nicht allzu lange nach dem klärenden Gespräch zwischen ihm und Jenny entwickelt, als sie ihm gestanden hatte, dass sie diejenige war, die sich in einer miesen Beziehung gefangen fühlte und in Wirklichkeit eifersüchtig auf Helen und ihn war.
Hatte sie gelogen?
Hatte sie in Wirklichkeit nie aufgehört, seine Stellung zu untergraben, hatte sie einfach weitergemacht, weil sie glaubte, er würde sie nicht mehr verdächtigen?
Oder kannte sie ihre Schwester einfach nicht so gut, wie sie glaubte?
Letztlich war die Frage theoretischer Natur, denn Helen hatte ihre Entscheidung getroffen und ließ sich nicht mehr davon abbringen. Er hoffte, früher oder später ihre Gründe zu begreifen, und trotz der zynischen Kommentare seines besten Freundes wollte er immer noch an die Chance glauben, dass sie sich zu einem zweiten Versuch entschließen würde. Er liebte Helen und war einigermaßen zuversichtlich, dass auch sie ihn noch liebte, zusammen hatten sie so vieles durchgestanden.
Und doch …
Er wusste, dass ein gehöriger Teil des Schmerzes, den er empfunden hatte und immer noch empfand, bloß auf das Konto seines verletzten Egos ging. Dieses Gefühl kannte er, seit seine erste Freundin ihn wegen eines Arschlochs aus dem Rugbyteam verlassen hatte. Er wusste, dass der Schmerz nicht ewig anhielt. Tatsache war, dass er sich trotz allen Kummers, den seine – im Augenblick noch theoretische – Rückkehr in ein Leben als Single bedeutete, langsam an den Gedanken gewöhnte.
Er fing sogar an, es ein wenig zu genießen.
Seine Wohnung, sein Lieblingsrestaurant, sein Pub um die Ecke. Außerdem war es schön, wieder in Hendricks’ Nähe zu wohnen. Thorne hatte sich nie ganz damit abgefunden, mit Helen in Tulse Hill zu leben. Und das nicht nur, weil er morgens länger zur Arbeit brauchte.
Auf dieser Seite des Flusses hatte er sich schon immer wohler gefühlt.
Sie verlangsamten ihre Schritte und blieben an der Ecke zur Prince of Wales Road stehen. Thorne würde rechts abbiegen und in fünf Minuten seine Wohnung erreicht haben, Hendricks geradeaus zu seiner Wohnung in Camden weitergehen.
»Alfie vermisse ich wirklich«, sagte Thorne. Helens Fünfjährigen. Thorne hatte seine Sachen gepackt und die Wohnung verlassen, als der Junge in der Vorschule war. Seitdem waren sie sich nur ein paarmal begegnet.
»Soll das heißen, dass du Helen nicht vermisst?«
»Nein, du Idiot. Natürlich tue ich das.«
»Helen hat doch nichts dagegen, dass du dich mit dem Jungen triffst, oder?«
Thorne zuckte die Achseln. »Für sie ist es in Ordnung. Letzte Woche war ich sogar zum Abendessen da.«
»Und …?«
»Und … nichts. Ich meine bloß.«
Hendricks wollte etwas erwidern, als ein Mann, der aus der entgegengesetzten Richtung auf sie zukam, ihm einen langen, durchdringenden Blick zuwarf. Hendricks starrte zurück. Sobald der Mann an ihnen vorbei war, drehte er sich um und schaute ihm nach. »Der fand mich geil.«
»Und was würde Liam dazu sagen?«
»Liam weiß genau, wie unwiderstehlich ich bin. Er weiß, dass die Typen mir Blicke zuwerfen.«
Thorne deutete auf den Mann, der gerade aus ihrem Blickfeld verschwand. »Das da, Kumpel, war große Verwunderung, mehr nicht.«
»Allerdings.«
»Aber nicht so, wie du glaubst. Nicht jeder ist daran gewöhnt, Leuten über den Weg zu laufen, die so viel Metall im Gesicht mit sich rumtragen. Nicht mal hier in der Gegend. Du solltest endlich aufhören zu glauben, dass dieser panische Ausdruck des Schreckens …« – Thorne riss Augen und Mund auf, um zu demonstrieren, was er meinte – »… bedeutet, dass jemand dich toll findet.«
Hendricks lachte und rülpste erneut. »Was du da gerade über Alfie gesagt hast …«
»Nichts.« Thorne schniefte und nahm die so kostbare braune Tüte in die andere Hand. »Bloß …«
»Komm mal her.« Hendricks trat einen Schritt auf ihn zu und zog Thorne in eine feste, nur teilweise der Trunkenheit geschuldete Umarmung. Thorne wehrte sich nicht. »Ich kenne dich besser als jeder andere, stimmt’s? Du musst mir nicht beweisen, dass du so weich wie Scheiße bist.«
Als sie sich voneinander gelöst hatten, strich Hendricks seine Lederjacke glatt und fuhr sich über den rasierten Schädel. »Und davon abgesehen solltest du möglichst schnell diese Hochstapler-Geschichte zu Ende bringen und wieder anfangen, Mörder einzubuchten. Es ist ja nicht so, als würden die alle Urlaub machen, was? Auf meinem Seziertisch herrscht jedenfalls kein Mangel an Leichen.«
»Er ist ein Mörder«, sagte Thorne. »Jedenfalls so gut wie.«
»Komm schon, irgendwie glaub ich nicht, dass du das wirklich denkst.«
»Auf die eine oder andere Art.«
Thorne hatte Hendricks während des Essens von dem Fall erzählt. Von dem Selbstmord, von dem Mann, der das Leben einer unschuldigen Frau zerstört hatte, von der unverhofften Chance, die Brigstocke ihnen gegeben hatte. Von der möglichen Ermittlung, die davon abhing, dass die forensische Untersuchung von Philippa Goodwins Wohnung ihnen aussagekräftige Resultate lieferte.
»Auf ihrem Handy war rein gar nichts«, sagte Thorne.
»Das hast du schon gesagt.«
»Dieser Typ hat es geschafft, jedes einzelne Foto und jede einzelne Textnachricht zu löschen, ehe er sich aus dem Staub gemacht hat.«
»Ja.«
»Er hat alle Spuren gründlich beseitigt, und ich wette, das hat er schon häufiger getan. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die DNA zu hoffen.«
Hendricks hatte sich bereits auf den Weg gemacht. Kopfschüttelnd wiederholte er: »Das hast du schon gesagt.« Ohne sich umzudrehen, rief er: »Jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst, Kumpel. Und immer schön fröhlich bleiben. Soll ja gar nicht so übel sein, in ein tränennasses Kissen zu wichsen …«
Als Thorne seine Wohnung erreichte, legte er das übrig gebliebene Essen in den Kühlschrank, stellte den Wasserkocher an und ging unruhig auf und ab. Er schaltete den Fernseher ein und zappte zehn Minuten hin und her. Dann döste er ein, wachte aber bald mit Nackenschmerzen wieder auf.
Schließlich rief er Helen an.
»Ich bin’s«, sagte er, bis ihm klar wurde, dass er mit ihrer Mailbox sprach. Er fluchte leise und sagte. »Tut mir leid, ich schätze, du bist im Bett. Natürlich bist du das … Ich rufe eigentlich nur an, um zu hören, wie es dir geht. Gut hoffentlich. Drück den Jungen für mich. Das war’s …«
Schon beim Auflegen bereute er seinen Anruf. Er war in weinerlicher Stimmung, das war alles, und die beiden Pints im Lancer hatten es nicht besser gemacht. Geschweige denn die beiden im Grafton Arms davor. Eine verquaste spätabendliche Nachricht würde Helen sicher nicht umstimmen. Und er konnte noch nicht einmal beschwören, dass er sie wirklich umstimmen wollte.
Er stand auf und ging ins Schlafzimmer.
Es gab nicht viel, dessen er sich wirklich sicher war.
Ein Curry schmeckte am zweiten Tag grundsätzlich besser.
George Jones hatte eine bessere Stimme als Frank Sinatra.
Und manipulative, soziopathische Arschlöcher waren noch lange keine Mörder, bloß weil es ihm in den Kram passte.